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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Kiel, Beschl. v. 22.07.2022 – 5 Qs 7/22

Eigener Leitsatz: Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht in Betracht kommt, ist für den Fall anzunehmen, dass der Antrag auf Beiordnung bereits rechtzeitig vor Verfahrensabschluss gestellt wurde, die Voraussetzungen für die Bestellung eines Verteidigers gemäß § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte bzw. die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat.


5 Qs 67/22

Landgericht Kiel

Beschluss
In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.

Verteidiger;
wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung

hat das Landgericht Kiel - 5. große Strafkammer (zugleich Schwurgericht III) und Kammer für Bußgeldsachen - durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, den Richter am Landgericht und den Richter am Landgericht am 27. Juli 2022 beschlossen:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Kiel vom 27.04.2022 wird der Beschluss aufgehoben.
2. Dem Beschuldigten wird Rechtsanwalt pp. rückwirkend als Pflichtverteidiger beigeordnet.
3. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

Die Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft und auch sonst zulässig, § 306 Abs. 1 StPO.

Sie ist auch begründet.

Eine rückwirkende Verteidigerbeiordnung ist auch nach Verfahrensbeendigung unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich möglich (dazu Ziffer 1.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor (dazu Ziffer 2.).

1. Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers hat auch noch nach Beendigung des Verfahrens zu erfolgen, wenn (1) der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung ge-stellt worden ist, (2) die Voraussetzungen für eine Beiordnung zum damaligen Zeitpunkt vorlagen und (3) eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor Verfahrensbeendigung unterblieben ist, weil die Beschlussfassung auf Grund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert wurde (LG Kiel, Beschluss v. 30.08.2021 - 1 Qs 30/21; ebenso: OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 — 1 Ws 260/21 —, Rn. 14 ff., juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 06. November 2020 — Ws 962/20 —, Rn. 25 ff., juris).

Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO in der seit dem 13.12.2019 geltende Fassung wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Be-schuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Dieses Antragsrecht dient der Umsetzung der Vorgaben der PKH-Richtlinie (RL [EU] 2016/1919), die — ausgehend von einem System der Prozesskostenhilfe — voraussetzt, dass der Beschuldigte — auch zur effektiven Ausübung seines Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand — das Recht haben muss, die Beiordnung eines Verteidigers durch einen eigenen Antrag herbeizuführen (BT-Dr. 19/13829, S. 36). Die Intention dieses Gesetzes ist es, einem Beschuldigten im Fall der notwendigen Verteidigung einen frühzeitigeren Zugang zu einem (Pflicht-)Verteidiger zu ermöglichen als dies bis zur Gesetzesänderung der Fall war (vgl. BT-Dr. 19/13829, S. 36). Insbesondere monetäre Gründe sollen den Beschuldigten nicht davon abhalten, auch schon in einem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens von dem Recht auf Hinzuziehung eines Pflichtverteidigers Gebrauch zu machen.

Diesem Zweck stünde eine Gesetzesauslegung entgegen, nach der ein Beschuldigter, der sich auf sein Recht auf Pflichtverteidigerbestellung beruft und einen Verteidiger konsultiert, damit rechnen müsste, mit den Kosten seines Rechtsbeistandes deswegen belastet zu werden, weil —jeweils entgegen § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO — die Staatsanwaltschaft den Antrag nicht unverzüglich dem Gericht vorlegt oder aber das Gericht über einen solchen ihm vorliegenden Antrag nicht unverzüglich entscheidet (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 — 1 Ws 260/21; OLG Nürnberg, Beschluss vom 06. November 2020 — Ws 962/20; LG Kiel, Beschluss vom 09.08.2021 - 1 Qs 34/21, 08.06.2021 - 1 Qs 14/21, 16.09.2021 - 1 Qs 72/21 sowie der Kammer vom 16.03.2021 - 5 Qs 74/20 und vom 23.12.2021 - 5 Qs 96/21 ; LG Bochum, NStZ-RR 2020, 352, 353f; jedenfalls auch i. Erg. ebenso inzwischen wohl mehrheitlich weitere Landgerichte: LG Aurich, Beschluss vom 05.05.2020 — 12 Qs 78/20; LG Hechingen, Beschluss vom 20.05.2020 — 3 Qs 35/20; LG Flensburg, Beschluss vom 09.12.2020 — II Qs 43/20; LG Regensburg, Beschluss vom 30.12.2020 — 5 Qs 188/20; LG Berlin, Beschluss vom 08.01.2021 — 512 Qs 62/20; LG Frankenthal, Beschluss vom 02.02.2021 — 1 Qs 16/21; LG Magdeburg, Beschluss vom 10.03.2021 —25 Qs 740 Js 42240/19 (2/21); LG Leipzig, Beschluss vom 25.03.2021 — 8 Qs 26/21; LG Gera, Beschluss vom 31.03.2021 — 11 Qs 96/21, 11 Qs 97/21; LG Köln, Beschluss vom 06.04.2021 —323 Qs 19/21; LG Hamburg, Beschluss vom 15.07.2021 - 622 Qs 22/21; offen lassend: OLG Bremen, NStZ 2021, 253; aA auch nach Änderung des Pflichtverteidigungsbeiordnungsrechts etwa: OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021 - 1 Ws 12/21; OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 - 2 Ws 112/20; LG Osnabrück, Beschluss vom 16.11.2020 — 1 Qs 47/2; LG Bielefeld, Beschluss vom 16.04.2021 — 02 Qs 138/21; LG Düsseldorf, Beschluss vom 21.04.2021 —12 Qs 9/21; LG Bonn, Beschluss vom 19.07.2021 - 63 Qs 51/21; LG Kiel, Beschluss vom 03.08.2021 - 10 Qs 52/21, wobei in dem von der 10. großen Strafkammer des LG Kiel entschiedenen Fall die Voraussetzungen einer rückwirkenden Beiordnung ohnehin nicht vorlagen, weil der Beiordnungsantrag eine Woche vor Verfahrenseinstellung erfolgte, sodass auch bei unverzüglicher Bescheidung des Antrags - binnen weniger Wochen - keine Bescheidung vor Verfahrensende hätte erfolgen können).

Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht auch die höchstrichterliche Rechtsprechung hin-sichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Danach kommt eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Abschluss des Verfahrens für den Fall in Betracht, dass vor dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens ein Bewilligungsantrag mit den erforderlichen Unterlagen gestellt, aber nicht bzw. nicht vorab beschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe erforderliche getan hat (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 2021 — 5 StR 222/20 —, Rn. 4, juris). Es ist nicht ersichtlich, warum für die rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe andere Voraussetzungen gelten sollten als für die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers (so zutreffend: OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 — 1 Ws 260/21 —, Rn. 17 ff., juris), vgl. LG Kiel, Beschluss vom 16.09.2021 - 1 Qs 72/21).

2. Hier lagen die oben genannten Voraussetzungen für eine rückwirkende Beiordnung nach Verfahrensbeendigung vor. Der Beiordnungsantrag war bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden, die Voraussetzungen für eine Beiordnung lagen zum damaligen Zeitpunkt vor und eine Entscheidung über die Beiordnung ist auf Grund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert und nur deshalb erst nach Verfahrensbeendigung erfolgt.

Die Beiordnungsvoraussetzungen lagen zum Zeitpunkt des Eingangs des Beiordnungsantrags vor, weil gegen den damaligen Beschuldigten wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) ermittelt wurde und ihm der Tatvorwurf auch eröffnet worden war (§ 141 Abs. 1 StPO). Gegen den Beschuldigten lag zudem in dem Verfahren 42 Ds 589 Js 47176/19 eine weitere Anklage vor, mit der ihm eine am 16.08.2019 begangene gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB sowie tateinheitlich ein Diebstahl mit Waffen gemäß § 244 Abs. 1 Nr. 1 a StGB vorgeworfen wurde. Die beiden Taten waren gesamtstrafenfähig. Angesichts der jeweiligen Mindeststrafe war von 6 Monaten war deshalb von einer (Gesamt-)Straferwartung von über einem Jahr auszugehen. Die Grenze für die Straferwartung von 1 Jahr, ab der gemäß § 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, gilt auch, wenn sie nur wegen einer erforderlichen Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

Letztlich ist eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor Verfahrensbeendigung unterblieben, weil die Beschlussfassung auf Grund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert wurde. § 141 StPO verlangt bei Vorliegen der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung die unverzügliche Bestellung eines Pflichtverteidigers. Eine unverzügliche Bestellung i. S. d. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO heißt nicht, dass diese sofort, aber jedenfalls so rechtzeitig zu erfolgen hat, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 37). Dies ist vorliegend nicht erfolgt. Nach dem Beiordnungsantrag vom 19.08.2021 erfolgte eine Weiterleitung des Antrags an das Amtsgericht nach Einstellung durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 170 Abs. 2 StPO am 24.02.2022 erst am 14.04.2022, mithin über 8 Monate nach Antragstellung. Gründe für die verzögerte Weiterleitung der Akte sind nicht ersichtlich. Insoweit ist es auch unerheblich, ob das Verfahren zum Zeitpunkt der Antragstellung mangels hinreichenden Tatverdachts schon einstellungsreif war. Eine Einstellung ist tatsächlich nicht erfolgt. Vielmehr erfolgte die Einstellung des Verfahrens erst Monate nach dem Beiordnungsantrag. Nach dessen Eingang hätte dieser zeitnah an das für die Bescheidung zuständige Amtsgericht zum Zwecke der Bescheidung jenes Antrags weiter geleitet werden können. Auch lag zu diesem Zeitpunkt bereits das Protokoll über die Vernehmung des Zeugen pp. vor, nach der Hinweise ausweislich des Vermerks vom 24.02.2022 eine zweifelsfreie Aufklärung des Sachverhalts nicht möglich sei. Eine Einstellung hätte damit bereits bei Eingang des Beiordnungsantrags erfolgen können, jedenfalls aber mit der Weiterleitung des Antrags an das Gericht.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 465 StPO analog.


Einsender: RA A.A. Aykac, Kiel

Anmerkung:


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