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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit, Unverzüglichkeit, Absehen von der Bestellung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Flensburg, Beschl. v. 05.10.2021 - II Qs 45/21

Eigener Leitsatz: 1. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist vorzunehmen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
2. Unverzüglich im Sinne des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bedeutet, dass über den Beiordnungsantrag in der Regel innerhalb von zwei Wochen zu entscheiden ist.
3. Die Möglichkeit, nach § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO.


II Qs 45/21

Landgericht Flensburg

Beschluss

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.

Verteidiger:
wegen Sachbeschädigung

hat das Landgericht Flensburg - II. Große Strafkammer - durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht, die Richterin und den Richter am Landgericht am 5. Oktober 2021 beschlossen:

1. Auf die sofortige Beschwerde des ehemals Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Flensburg vom 29.07.2021 wird dieser wie folgt abgeändert:
Dem ehemals Beschuldigten wird Rechtsanwalt pp.
als notwendiger Verteidiger rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung beigeordnet.
2. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die notwendigen Auslagen des ehemals Beschuldigten zu tragen.
Gründe

Die zulässige Beschwerde des ehemals Beschuldigten hat Erfolg. Dem Beschuldigten war sein Verteidiger als Pflichtverteidiger nach seinem Antrag vom 07.05.2021 nachträglich - das heißt auch wenn das Verfahren zwischenzeitlich nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde - beizuordnen.

1. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung war hier vorzunehmen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde (vgl. OLG Bamberg vom 29.04.2021, Az.: 1 Ws 260/21; LG Bochum, Beschluss vom 18. September 2020 — 11-10 Qs-36 Js 596/19-6/20 —, Rn. 24, juris; LG Bremen StraFo 2020, 454 mit Verweis auf LG Frankenthal, Beschl. v. 16.6.2020 — 7 Qs 114/20, BeckRS 2020, 14117; LG Mannheim, Beschl. v. 26.3.2020 — 7 Qs 11/20, BeckRS 2020, 4792). Dabei ist zu berücksichtigen, dass schon nach alter Rechtslage die Ansicht vertreten wurde, dass im Falle einer rechtzeitigen Antragstellung bei gegebenen Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung eine rückwirkende Bestellung vorzunehmen sei. Jedenfalls nach der Gesetzesänderung dürfte sich die gegenteilige Ansicht zur alten Gesetzeslage, eine Pflichtverteidigerbestellung diene einzig der Verfahrenssicherung, obsolet geworden sein (vgl. Mey-er-Goßner/Schmitt StPO, 63. Aufl., § 142 Rn. 20; LG Koblenz Beschl. v. 21.8.2020 — 14 Qs 54/20, BeckRS 2020, 25130 Rn. 3, beck-online; ausführlich LG Bochum, Beschluss vom 18. September 2020 — 11-10 Qs-36 Js 596/19-6/20 —, Rn. 35-46, juris). Denn die Neuregelung der §§ 140 ff. StPO (mit Inkrafttreten am 10.12.2019) wurde notwendig, um Art. 4 der PKH-Richtlinie um-zusetzen, der von den Mitgliedstaaten verlangt, beschuldigten Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistandes verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist (vgl. Bundestagsdrucksache 19/13829, S.29). Die Intention des Gesetzgebers und der PKH-Richtlinie ist es also nicht nur, eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten, sondern auch mittellose Beschuldigte von den Kosten ihrer Verteidigung freizustellen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 142 Rn. 20). Es entspricht daher auch dem Sinn und Zweck der (inzwischen neu gefassten) §§ 140 ff. StPO entsprechend der Rechtsprechung zur Gewährung von Prozesskostenhilfe in zivilrechtlichen Streitigkeiten zumindest dann eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung zuzulassen, wenn die Voraussetzungen für eine Beiordnung schon zu dem früheren Zeitpunkt vorlagen, eine entsprechende Beiordnung beantragt worden war und aus von dem Antragsteller nicht zu vertretenden Umständen über sein Begehren nicht entschieden worden ist (vgl. LG Hannover Beschl. v. 6.7.2020 — 30 Qs 31/20, BeckRS 2020, 30765 Rn. 17-20, beck-online; im Ergebnis auch LG Mannheim Beschl. v. 26.3.2020 — 7 Qs 11/20, BeckRS 2020, 4792 Rn. 4, beck-online). Darüber hinaus kann auch nach einer Einstellung der Zweck der Bestellung (sinnvolle Wahrnehmung der Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren) grundsätzlich noch erreicht werden (vgl. Entscheidungen nach dem StrEG; Klärung von Kostenfragen §§ 467, 469 StPO; vgl. dazu LG Passau Beschl. v. 15.4.2020 — 1 Qs 38/20, BeckRS 2020, 7551 Rn. 27, beck-online).

a) Zum Zeitpunkt des Antrags lag der Fall einer notwendigen Verteidigung iSv. § 140 Abs. 2 StPO aufgrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen vor. Dabei ist die Erwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe die Grenze, ab der ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist (BeckOK - StPO, Graf, § 141 Rn. 24). Diese Schwelle gilt auch wenn die Gesamtstrafe aus der verfahrensgegenständlichen Verurteilung und künftigen Verurteilungen aus noch nicht abgeschlossenen Verfahren gebildet werden wird (BeckOK - StPO a. a. 0.). Eine notwendige Verteidigung ergab sich auch in diesem Verfahren unter Berücksichtigung der strafprozessualen Gesamtsituation, in welcher sich der ehemals Beschuldigte befand. Gegen ihn waren zum Zeitpunkt der Antragstellung im hiesigen Verfahren 3 weitere Verfahren vor dem Landgericht Flensburg - II. Große Strafkammer - anhängig. Bei Eröffnung und anklagegemäßer Verurteilung im landgerichtlichen Verfahren ist eine Freiheitsstrafe von über einem Jahr zu erwarten. Hinzu kommt, dass ge-gen den ehemals Beschuldigten laut Vorladung vom 23.04.2021 (BI. 8 d. A.) insgesamt 4 Ermittlungsverfahren liefen. Dortige - im Falle der Anklageerhebung, Eröffnung und anklagemäßer Verurteilung - verhängte Strafen wären allesamt mit den ggf. zu verhängenden Strafen im Verfahren vor dem Landgericht Flensburg gesamtstrafenfähig gewesen. Aufgrund der Vielzahl der Ermittlungsverfahren ist zudem zu erwarten gewesen, dass diese keinen unerheblichen Anteil bei der Gesamtstrafenbildung ausmachen würden. Es lässt sich somit nicht auf die Geringfügigkeit des einzelnen Vorwurfes abstellen.

b) Auch ist dem ehemals Beschuldigten durch Übersendung des unter dem 23.04.2021 versandten Vorladung der Tatvorwurf eröffnet worden (vgl. BI. 8 d. A.).

c) Des Weiteren hat der ehemals Beschuldigte über seinen Verteidiger mit Schreiben vom 07.05.2021 einen Beiordnungsantrag vor Einstellung des Verfahrens gestellt (BI. 9f. d. A.).

d) Über den Beiordnungsantrag ist nicht unverzüglich iSv. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO entschieden worden. Unverzüglich bedeutet in diesem Zusammenhang allerdings nicht, dass die Pflichtverteidigerbestellung sofort zu erfolgen hat. (vgl. BT-Dr. 19/13829, S. 37). Unverzüglich bedeutet, ähnlich wie nach der zivilrechtlichen Definition, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber doch so rechtzeitig zu erfolgen hat, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (BT-Dr. 19/13829, S. 37). Zu § 141 Abs. 4 S. 4 StPO a. F. war dabei anerkannt, dass das Unverzüglichkeitskriterium i. S. einer Prüfungs- und Überlegungsfrist von in der Regel ein bis zwei Wochen zu verstehen ist (vgl. LG Bochum, NStZ-RR 2020, 352, beck-online; vgl. auch Schmitt in Meyer-Goß-ner, StPO-Kommentar, 63. Aufl., 2020, § 141, Rn. 7). Des Weiteren muss die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben sein, auf die der Angeklagte keinen Einfluss hatte (vgl. LG Hechingen, Beschluss vom 20. Mai 2020 — 3 Qs 35/20 —, Rn. 13, juris m. w. N.). Dem ist hier nicht Genüge getan worden. Der Beiordnungsantrag ist am 07.05.2021 bei der BKI Flensburg eingegangen. Eine Beiordnung hätte daher - bei Zugrundelegung einer Frist von zwei Wochen - bis zum 21.05.2021 erfolgen müssen, erfolgte aber erst am 29.07.2021. Etwaige vom ehemals Beschuldigten zu vertretene Hinderungsgründe sind nicht ersichtlich. Auch das Vorliegen besonderer Umstände, nach denen die Anforderung an die Unverzüglichkeit ggf. herabzusenken wären, sind nicht erkennbar.

Dabei mag grundsätzlich erwogen werden, ob eine Ablehnung der Beiordnung in Betracht gekommen wäre, wenn das Verfahren unverzüglich - mithin innerhalb derselben Frist - eingestellt worden wäre (so LG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 04. November 2020 — 16 Qs 62/20 —, juris). Allerdings kann dies hier dahinstehen, da auch eine Einstellung nicht innerhalb der o. g. Frist erfolgt ist. Diese ist erst einen Monat und eine Woche nach dem Beiordnungsantrag erfolgt.

2. Auch § 141 Abs. 2 S. 3 StPO n. F. steht im vorliegenden Fall der Beiordnung nicht entgegen. Die Möglichkeit, von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO, demzufolge einem Beschuldigten unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, wenn er dies ausdrücklich beantragt. Die Ausnahmeregelung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO greift nicht, da ein zulässiger Antrag nach § 141 Abs. 1 StPO vorlag und die Ausnahmeregelung in § 141 Abs. 2 S. 3 StPO nur für die in § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 StPO genannten Fälle greift (BeckOK-Graf, StPO, § 141 Rn 22; LG Mannheim, Beschluss vom 26. März 2020 — 7 Qs 11/20 —, Rn. 3, juris). Auf § 141 Abs. 1 StPO, der die Pflichtverteidigerbestellung auf einen Antrag des Beschuldigten hin regelt, ist die Ausnahmevorschrift daher nicht anwendbar (so auch LG Frankenthal Beschluss vom 16.6.2020 - 7 Qs 114/20, BeckRS 2020, 14117; LG Aurich Beschluss vom 5.5.2020 - 12 Qs 78/20, BeckRS 2020, 10940; LG Nürnberg-Fürth Beschluss vom 4.5.2020 - JKII Qs 15/20 jug, BeckRS 2020, 10878; LG Freiburg Beschl. v. 26.8.2020 — 16 Qs 40/20, BeckRS 2020, 21745 Rn. 11, 12, beck-online).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 467 I StPO.


Einsender: RA A.A. Aykac, Kiel

Anmerkung:


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