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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, schwierige Rechtslage, Kindesentziehung, Dolmetscher

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Hamburg, Beschl. v. 07.09.2022 - 606 Qs 25/22

Eigener Leitsatz: Zur (verneinten) Bestellung eines Pflichtverteidigers für ein ukrainische Beschuldigte, der ein Vergehen gem. § 235 StGB vorgeworfen wird, deren Sprachdefizite durch die Zuziehung eines Dolmetschers ausgeglichen werden können.


Landgericht Hamburg
606 Qs 25/22

Beschluss

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.

Verteidiger:

wegen Entziehung Minderjähriger

beschließt das Landgericht Hamburg - Große Strafkammer 6 - durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, die Richterin und den Richter am Landgericht am 07.09.2022:

1. Die sofortige Beschwerde der Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 03.08.2022, mit dem ihr Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als notwendiger Verteidiger abgelehnt worden ist, wird als unbegründet zurückgewiesen.
2. Die Beschuldigte hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

I.

Die Staatsanwaltschaft Hamburg führt gegen die Beschuldigte ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger. Ihr Wahlverteidiger, Rechtsanwalt pp., hat unter dem 17. April 2022 namens der Beschuldigten seine Beiordnung als notwendiger Verteidiger beantragt (BI. 112 d.A.). Mit Beschluss vom 3. August 2022 (Az.: 165 Gs 1387/22, BI. 133 d.A.) - der Verteidigung am 8. August 2022 zugestellt - hat das Amtsgericht Hamburg den (ohne weitere Begründung gestellten) Antrag abgelehnt, da kein Fall der notwendigen Verteidigung vorliege; insbesondere sei auch mit Blick auf die fehlenden Sprachkenntnisse der Beschuldigten kein Fall der Unfähigkeit der Selbstverteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO gegeben.

Hiergegen wendet sich die Beschuldigte mit der vorliegenden, am 15. August 2022 eingelegten sofortigen Beschwerde (BI. 140ff. d.A.). Sie macht insbesondere geltend, als ukrainische Staatsbürgerin und Kriegsflüchtling beherrsche sie die deutsche Sprache nur unzureichend, und selbst die Hinzuziehung eines Dolmetschers würde es ihr nicht ermöglichen, sich selbst zu verteidigen. Insbesondere die bisherige Arbeit der Ermittlungsbehörden sei vielfach fehlerhaft erfolgt, sodass es einer Beiordnung bedürfe, um die verfahrensrechtliche „Waffengleichheit" zu wahren. Die rechtliche Bewertung der Sorgeberechtigung nach deutschem und ukrainischem Recht, ihr Verlöbnis mit dem Kindsvater, ein möglicherweise vorliegender Verbotsirrtum beziehungsweise die Frage nach dessen Vermeidbarkeit sowie die Tatsache, dass sie, die Beschuldigte, inzwischen wieder in die Ukraine ausgereist sei, würden eine Beiordnung erfordern.

Die Staatsanwaltschaft hatte Gelegenheit zur Stellungnahme und beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen (BI. 144 d.A.).

II.

Die gem. § 142 Abs. 7 S. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige - insbesondere innerhalb der Frist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegte - sofortige Beschwerde der Beschuldigten hat in der Sache keinen Erfolg. Zu Recht hat das Amtsgericht die Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als notwendigen Verteidiger abgelehnt, da ein Grund für die Beiordnung nicht gegeben ist.

1. Ein Fall der notwendigen Verteidigung gern. § 140 Abs. 1 Nrn. 1-11 StPO ist augenscheinlich
nicht einschlägig.

2. Auch nach § 140 Abs. 2 StPO war die Beiordnung eines notwendigen Verteidigers nicht veranlasst. Hiernach liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung auch vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Dies ist vorliegend jeweils nicht der Fall.

Bei dem der Beschuldigten vorgeworfenen Vergehen gern. § 235 StGB handelt es sich im Tatsächlichen um einen einfach gelagerten Sachverhalt, der auch rechtlich weder materiell noch formell besondere Probleme aufweist. Eine schwierige Rechtslage kann zwar unter anderem dann gegeben sein, wenn die Subsumtion unter die anzuwendende Vorschrift des materiellen Rechts Schwierigkeiten bereiten wird (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage, § 140, Rn. 28). Namentlich die hier relevante familienrechtliche Frage des Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrechts für den siebenjährigen M , dessen Entziehung die Beschuldigte verdächtig ist, vermag jedoch für sich genommen - sei es nach deutschem oder ukrainischem Recht - keine schwere Rechtsfrage zu begründen. Gleiches gilt für die im Rahmen der Beschwerdebegründung aufgeworfene Frage eines (unvermeidbaren) Verbotsirrtums der Beschuldigten, sofern ein solcher überhaupt in tatsächlicher Hinsicht vorgelegen haben sollte. Soweit geltend gemacht wird, dass die Beschuldigte der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, werden ihre Rechte mithin durch die Vorschrift des § 187 GVG und die darin vorgesehenen Übersetzungen sowie die Hinzuziehung eines Dolmetschers hinreichend gewahrt, da der Fall - nach derzeitiger Würdigung - in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten von Gewicht aufweist, die unter Heranziehung eines Dolmetschers nicht ohne Weiteres ausräumbar erscheinen (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., Rn. 30b, m.w.N.). Soweit die Vorschrift des § 187 GVG - nach Auffassung der Verteidigung - seitens der Strafverfolgungsbehörden mitunter unzureichende Beachtung gefunden habe, indem die Beschuldigte etwa im Rahmen ihrer polizeilichen Ladung nicht in ihrer Muttersprache auf die Möglichkeit der Hinzuziehung eines Dolmetschers hingewiesen worden sei, vermag dies nicht die Annahme zu begründen, dass die Vorschrift im weiteren Verfahren keine ordnungsgemäße Anwendung finden wird. Des Weiteren führt auch der Umstand, dass sich die Beschuldigte inzwischen - aus eigenem Antrieb - wieder in die Ukraine begeben hat, nicht zu einer anderen Beurteilung der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO.


Einsender: RA T. Hein, Bad Vilbel

Anmerkung:


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