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Entscheidungen

StGB/Nebengebiete

Fortdauer, Unterbringung, Begründung, Fortdauerbeschluss

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.07.2022 - 4 Ws 247/22

Eigener Leitsatz: Kommt die Vollzugseinrichtung zu dem Ergebnis, dass die Legalprognose für eine Strafaussetzung negativ ist, muss ihre Stellungnahme Ausführungen dazu enthalten, welcher Art die rechtswidrigen Taten sind, die von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit und Rückfallfrequenz), wie hoch die Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist und inwieweit im Falle einer Aussetzung der Maßregel zur Bewährung im Rahmen der Führungsaufsicht Anordnungen nach § 68a, § 68b StGB als weniger belastende Maßnahmen ausreichen können, um den Zweck der Maßregel zu erreichen.


4 Ws 247/22

Oberlandesgericht Stuttgart

4. Strafsenat

Beschluss

In dem Strafvollstreckungsverfahren
gegen pp.

hat das Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Strafsenat - am 25. Juli 2022 beschlossen:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts — 14. Strafvollstreckungskammer — Tübingen vom 18. Mai 2022
aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht Tübingen zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht Stuttgart verurteilte den Beschwerdeführer am 10. Oktober 2018 wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren. Zugleich ordnete das Landgericht nach einem Vorwegvollzug von zwei Jahren die Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Entziehungsanstalt an.

Am 10. Dezember 2019 wurde der Beschwerdeführer, der sich zuvor seit dem 6. September 2017 zunächst in Untersuchungshaft und anschließend in Strafhaft befunden hatte, zur Maßregelvollstreckung in das Zentrum für Psychiatrie Calw verlegt. Seither ordnete die Strafvollstreckungskammer mit Beschlüssen vom 10. Juni 2020, 15. Dezember 2020, 2. Juni 2021 sowie vom 24. November 2021 jeweils die Fortdauer der Unterbringung an.

Am 28. Dezember 2021 wurde der Beschwerdeführer in eine Adaptionseinrichtung in F4r verlegt. Seit dem 1. Mai 2022 lebt er in einer eigenen Wohnung in Stuttgart. Zuvor nahm er am 29. April 2022 eine Erwerbstätigkeit bei einer Zeitarbeitsfirma auf. Diese setzt ihn derzeit bei M. ein.

Nach vorangegangener mündlicher Anhörung des Beschwerdeführers am 18. Mai 2022 hat die Strafvollstreckungskammer am selben Tag die Fortdauer der Unterbringung beschlossen. Der Verurteilte zeige einen guten Verlauf, müsse sich aber in den sich gerade realisierenden Umbrüchen mit Arbeitsantritt, selbstständigem Wohnen und eigenverantwortlicher Aufnahme von Hilfsangeboten des Suchthilfesystems noch stabilisieren und bewähren.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Beschwerdeführer, der eine Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung anstrebt, mit seinem Rechtsmittel. Er rügt insbesondere, dass aus der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer nicht hervorgehe, wie lange die Maßregel noch andauern solle. Es seien keine Tatsachen und Erwägungen dargelegt, die den Rückschluss zuließen, dass sich der Verurteilte nicht bereits ausreichend stabilisiert und bewährt habe.


II.

Die zulässige sofortige Beschwerde hat (zumindest vorläufig) auch in der Sache Erfolg. Denn die Strafvollstreckungskammer hat ihre Entscheidung auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage getroffen.

1. Entscheidungen, die den Entzug oder die Einschränkung der persönlichen Freiheit betreffen, müssen auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verfassungsrechtlich verankerten Freiheitsgarantie entspricht. Dabei ist immer eine für den Einzelfall hinreichende Gründlichkeit bei der Entscheidungsfindung zu gewährleisten (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 5. Juni 2019 — 2 BvR 382/17, juris Rn. 26 mwN). Dieses Gebot bestmöglicher Sachaufklärung gilt auch für den Straf- und Maßregel-vollzug.

2. Zwar ergibt sich hieraus nicht, dass bei Entscheidungen über die Fortdauer einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB oder über deren Erledigung zwingend ein externer Sachverständiger hinzuzuziehen wäre. Vielmehr kann eine gutachterliche Stellungnahme der behandelnden Klinik, ggf. in Verbindung mit dem Protokoll der richterlichen Anhörung des Verurteilten, eine zuverlässige und zureichende Entscheidungsgrundlage bieten (vgl. Senat, Beschluss vom 29. Juni 2020 — 4 Ws 127/20, juris Rn. 22). Dies gilt jedoch nur dann, wenn die gutachterliche Stellungnahme die maßgebenden Tatsachen vollständig mitteilt. Daran fehlt es hier.

a) Die vom Beschwerdeführer angestrebte Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung kommt in Betracht, wenn zu erwarten ist, dass er außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen wird (§ 67 Abs. 2 Satz 1 StGB).

Kommt die Vollzugseinrichtung, wie vorliegend, zu dem Ergebnis, dass die Legalprognose negativ ist, muss ihre Stellungnahme Ausführungen dazu enthalten, welcher Art die rechtswidrigen Taten sind, die von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit und Rückfallfrequenz), wie hoch die Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist und inwieweit im Falle einer Aussetzung der Maßregel zur Bewährung im Rahmen der Führungsaufsicht Anordnungen nach § 68a, § 68b StGB als weniger belastende Maßnahmen ausreichen können, um den Zweck der Maßregel zu erreichen (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 19. Oktober 2020 — 2 Ws 131/20, juris Rn. 17 für eine gutachterliche Stellungnahme nach § 463 Abs. 4 Satz 1 StPO).

Werden diese Anforderungen nicht erfüllt und stützt das Gericht seine die Bewährungsaussetzung ablehnende Entscheidung dennoch auf die gutachterliche Stellungnahme, verstößt es gegen seine Verpflichtung, die Annahme, dass von dem Beschwerdeführer weiterhin eine Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten ausgehe, hinreichend zu konkretisieren (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17. Februar 2014 — 2 BvR 1795/12, juris Rn. 40).

b) So liegt der Fall hier. Die Strafvollstreckungskammer hat in dem angefochtenen Be-schluss lediglich ausgeführt, dass sich der Verurteilte noch stabilisieren und bewähren müsse und im Übrigen auf die Stellungnahme des Zentrums für Psychiatrie verwiesen. Die dortigen Ausführungen sind jedoch unzureichend und rechtfertigen die für den Beschwerdeführer nachteilige Entscheidung nicht.

aa) Das Ergebnis der Stellungnahme der Klinik, wonach die Legalprognose des Beschwerdeführers negativ sei, hätte schon deshalb ausführlich erörtert werden müssen, weil ihm zunächst - über mehrere Seiten hinweg - eine positive Entwicklung seit Beginn der Therapie bescheinigt wird. Auch der aktuelle Behandlungsverlauf könne positiv gewertet werden. Er habe an allen therapeutischen Einheiten teilgenommen und sich in stetigem Austausch mit seinen Behandlern befunden. Nach seiner Verlegung in die Adaptionseinrichtung habe sich der Beschwerdeführer rasch einleben können und am Therapieprogramm teilgenommen. Mit den dortigen Mitarbeitern habe er guten Kontakt, und in den Absprachen sei er zuverlässig. Ferner habe er inzwischen Arbeit gefunden.

Zu seiner geschiedenen Ehefrau und den drei gemeinsamen Kindern habe der Beschwerdeführer regelmäßig Kontakt, wobei ihn die Einrichtung als sehr reflektiert erlebt habe. Er bemühe sich, jedem Kind gerecht zu werden. Zudem sei er mit seiner neuen Partnerin weiterhin zusammen und unterhalte die übrigen familiären und freundschaftlichen Beziehungen ohne Szenekontakt. Sämtliche Drogenscreenings und Alkoholkontrollen seien negativ gewesen und es sei auch kein Rückfall in kriminelle Verhaltensweisen bekannt. Ein Leben in der Legalität sei für den Beschwerdeführer durchaus möglich. Er sei durch seinen beruflichen Werdegang und seine familiäre Struktur durchaus fähig, sich in ein soziales Netz der Legalität zu begeben.

bb) Trotz dieses positiven Therapieverlaufs, den auch die Strafvollstreckungskammer gesehen hat, kommt die Klinik abschließend zu dem Ergebnis, dass die Legalprognose des Beschwerdeführers als negativ einzuschätzen sei. Der Hang zur kriminellen Handlung sei durchaus vorhanden.

Auf welche konkreten Erkenntnisse diese Annahme gestützt wird, bleibt indes offen und es wird auch nicht dargetan, weshalb eine solche Gefahr trotz des positiven Therapieverlaufs noch nicht in dem für eine Bewährungsaussetzung erforderlichen Maße reduziert werden konnte. Zudem wird nicht erläutert, welche konkreten therapeutischen Maßnahmen im weiteren Verlauf der Unterbringung noch ergriffen werden sollen, um die angenommene Rückfall-gefahr zu beseitigen oder zumindest zu verringern.

Darüber hinaus verhalten sich weder die gutachterliche Stellungnahme noch der angefochtene Beschluss dazu, welche Art von Straftaten durch den Beschwerdeführer drohen und welches Ausmaß diese habe könnten. Das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts hat jedoch maßgeblichen Einfluss auf die Prognoseentscheidung (KG, Beschluss vom 13. November 2020 - 5 Ws 162/20, juris Rn. 9).

Eine aussagekräftige Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers ist dem Senat auf dieser unzureichenden Grundlage nicht möglich, zumal der anerkannt positive Verlauf der bisherigen Therapie eher gegen eine Rückfallgefahr spricht. Der Verurteilte hat seine Lebensverhältnisse, soweit dies im Rahmen des Maßregelvollzugs möglich ist, erfolgreich geordnet und stabilisiert. Soll dennoch von einer ungünstigen Prognose ausgegangen werden bedarf dies, auch vor dem Hintergrund der bereits erheblichen Therapiedauer, einer umfassenden Begründung.

Eine solche Begründung hat die Klinik in ihrer gutachterlichen Stellungnahme nicht abgegeben und auch nicht im Rahmen der mündlichen Anhörung vor der Strafvollstreckungskammer nachgereicht. Die dort anwesende Vertreterin hat vielmehr erklärt, sie sei über das Ansinnen des Beschwerdeführers überrascht, da eine Entlassung noch nicht vorgesehen sei.

Für eine gesunde Entlasssituation solle üblicherweise sechs Monate in einer eigenen Wohnung gewohnt werden. Eine Auseinandersetzung mit dem positiven Therapieverlauf erfolgte auch hier nicht.

c) Darüber hinaus hat die Strafvollstreckungskammer auch nicht erkennbar geprüft, ob nicht mildere Maßnahmen als die weitere Vollstreckung der Unterbringung ausreichen, um neuerliche rechtswidrige Taten des Beschwerdeführers zu verhindern, obwohl beispielsweise die im Hinblick auf die Suchtgeschichte des Beschwerdeführers gebotene Abstinenzkontrolle auch durch entsprechende Weisungen nach § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB im Rahmen der Führungsaufsicht gewährleistet werden könnte. Etwa erforderliche Unterstützung bei der allgemeinen Lebensführung erscheint auch durch die Bewährungshilfe möglich. Überdies lässt sich weder dem angefochtenen Beschluss noch der gutachterlichen Stellungnahme des Zentrums zur Psychiatrie entnehmen, weshalb etwa regelmäßige Vorstellungen in einer forensischen Ambulanz unzureichend sind, um Rückfalltaten zu vermeiden.

3. Erfüllt die gutachterliche Stellungnahme der Maßregelvollzugseinrichtung die vorgenannten Mindestanforderungen nicht, hat der Verurteilte im Rahmen seiner Anhörung keine Möglichkeit, sich zu den einer günstigen Prognose entgegenstehenden Umständen zu äußern und diese gegebenenfalls zu entkräften. Auch ist eine sachgerechte Vorbereitung der Verteidigung im Anhörungstermin nicht möglich. Dies wird seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht gerecht.

Hiervon ausgehend liegt der auf Fortdauer der Unterbringung lautenden Entscheidung der Strafvollstreckungskammer bei einer unzureichenden Stellungnahme jedenfalls dann, wenn sich die einer Bewährungsaussetzung entgegenstehenden Umstände auch nicht anderweitig ergeben, ein schwerwiegender Verfahrensfehler zugrunde, der zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache führt (vgl. OLG Hamburg aa0). Diesem Verfahrensfehler kommt ein derartiges prozessuales Gewicht zu, dass entgegen dem Grundsatz des § 309 Abs. 2 StPO eine eigene Sachentscheidung des Senats als Beschwerdegericht ausscheidet.


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