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Entscheidungen

StPO

Besorgnis der Befangenheit, Vorbefassung, abgetrenntes Verfahren

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.06.2022 – 1 Ws 203/22, 1 Ws 204/22

Leitsatz des Gerichts: Die Vorbefassung des erkennenden Richters mit einem einen anderen Tatbeteiligten betreffenden Strafverfahren vermag auch im Lichte der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 16. Februar 2021 (1128/17 – Meng/Deutschland) grundsätzlich nur dann die Besorgnis der Befangenheit zu begründen, wenn im Ursprungsverfahren hinsichtlich des nunmehr beschuldigten Tatbeteiligten über das für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch Erforderliche hinausgehende Feststellungen getroffen oder hierfür entbehrliche rechtliche Bewertungen vorgenommen worden sind.


In pp.

Die sofortigen Beschwerden der Angeschuldigten AA und BB gegen den Beschluss der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Oldenburg vom 23. Mai 2022, durch den die Befangenheitsanträge der Angeschuldigten gegen den Vorsitzenden Richter am Landgericht CC, den Vorsitzenden Richter am Landgericht DD und den Richter am Landgericht EE als unbegründet zurückgewiesen worden sind, werden auf ihre Kosten als unbegründet verworfen.

Gründe

Die Staatsanwaltschaft Oldenburg hat unter dem 29. März 2022 gegen die Beschwerdeführer und vier weitere Angeschuldigte Anklage vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Oldenburg wegen Beihilfe zu einem am TT. MM 2021 in Ort1 von dem gesondert verfolgten FF begangen Mord an GG erhoben. FF selbst ist in dem gegen ihn gesondert geführten Verfahren 5 Ks 1204 Js 72704/21 (1/22) wegen dieser Tat sowie wegen Mordes an HH, mit der er nach jesidischem Recht verheiratet war, am 13. Mai 2022 zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden.

In dem Verfahren gegen FF hatte die Schwurgerichtskammer unter dem 26. April 2022 eine vorläufige Einschätzung der auf der Basis der bisherigen Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse abgegeben und dabei unter anderem ausgeführt, dass der Angeklagte, der fälschlicherweise von einer sexuellen Beziehung zwischen den später Getöteten ausgegangen sei, zur Tatzeit an einem lang anhaltenden Eifersuchtswahn (ICD-10: F22.0) gelitten habe. Sollte der Angeklagte die Taten auf Grund eines spontanen Tatentschlusses begangen haben, sei von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit auszugehen. Möglicherweise habe er dann auch nicht aus niedrigen Beweggründen gehandelt, so dass die beiden vorgeworfenen Taten als Totschlag zu werten seien. Wenn allerdings festgestellt würde, dass der Angeklagte spätestens während eines Treffens mit den Angeschuldigten im vorliegenden Verfahren vor Begehung der Taten diesen von einer sexuellen Beziehung zwischen den späteren Tatopfern erzählt, diese ihm geglaubt und - getragen von tradierten jesidischen Überzeugungen hinsichtlich der Ehre der Familie - zusammen mit ihm einen Plan zur Tötung beider Personen entwickelt oder ihn zumindest in einem solchen Plan bestärkt bzw. unterstützt hätten und der Angeklagte sodann im Zusammenwirken mit diesen Personen und nicht etwa autonom auf Grund eines spontanen Entschlusses die Taten begangen hätte, sei von einer voll erhalten Schuldfähigkeit auszugehen. Im Rahmen der mündlichen Urteilsbegründung am 13. Mai 2022 führte der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer unter Darlegung der Telekommunikation zwischen FF und den Angeschuldigten und Darstellung deren Beteiligung an der Tötung des GG unter anderem aus, diese hätten - getragen von tradierten jesidischen Überzeugungen hinsichtlich der Ehre der Familie – dessen Tötung entweder mit ihm zusammen geplant oder ihn in einem solchen Plan bestärkt bzw. unterstützt.

Der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer und die beisitzenden Richter, die auch im vorliegenden Verfahren nach der Geschäftsverteilung zuständig wären, haben unter Verweis auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 16. Februar 2021 (1128/17 – Meng/Deutschland) unter dem 13. bzw. 16. Mai 2022 – der Vorsitzende unter Darstellung des Hinweisbeschlusses vom 26. April 2022 sowie des Inhalts der mündlichen Urteilsbegründung - Selbstanzeigen gemäß § 30 StPO abgegeben. Unter Bezugnahme auf diese Selbstanzeigen haben die Angeschuldigten AA und BB den Vorsitzenden Richter des Schwurgerichts und die Beisitzer wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.

Mit Beschluss vom 23. Mai 2022, auf den wegen der Einzelheiten ebenso Bezug genommen wird wie auf die übrigen bezeichneten Schriftstücke, hat die wegen der Ablehnung sämtlicher Mitglieder der Schwurgerichtskammer zuständige 4. große Strafkammer unter gleichzeitiger Feststellung, dass eine Befangenheit nicht zu besorgen ist, die Befangenheitsanträge der Angeschuldigten gegen den Vorsitzenden Richter am Landgericht CC, den Vorsitzenden Richter am Landgericht DD und den Richter am Landgericht EE als unbegründet zurückgewiesen.

Gegen diese, ihren Verteidigern am 23. Mai 2022 zugestellten Entscheidung, wenden sich die Angeschuldigten mit ihren durch ihre Verteidiger am 30. Mai 2022 angebrachten und zugleich begründeten sofortigen Beschwerden.

Die zulässigen Rechtsmittel bleiben ohne Erfolg.

Eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vortätigkeit eines erkennenden Richters ist, soweit sie nicht den Tatbestand eines Ausschlussgrundes gemäß § 23 StPO erfüllt, nach ständiger Rechtsprechung regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit des Richters im Sinne von § 24 Abs. 2 StPO zu begründen, wenn nicht besondere Umstände hinzukommen, die diese Besorgnis rechtfertigen. Das betrifft nicht nur die Vorbefassung mit Zwischenentscheidungen im selben Verfahren, insbesondere etwa die Mitwirkung am Eröffnungsbeschluss oder an Haftentscheidungen, sondern auch die Mitwirkung eines erkennenden Richters in Verfahren gegen andere Beteiligte derselben Tat.

Dies gilt auch dann, wenn Verfahren gegen einzelne Angeklagte zur Verfahrensbeschleunigung abgetrennt werden und in dem abgetrennten Verfahren ein Schuldspruch wegen einer Tat ergeht, zu der sich das Gericht im Ursprungsverfahren gegen den oder die früheren Angeklagten später ebenfalls noch eine Überzeugung zu bilden hat. Da eine solche Beteiligung an Vorentscheidungen im nämlichen oder in einem anderen damit zusammenhängenden Verfahren von Strafprozessordnung und Gerichtsverfassungsgesetz ausdrücklich vorgesehen und vorausgesetzt wird, kann die Vorbefassung als solche - abgesehen von den in § 22 Nr. 4 und 5, § 23 und § 148a Abs. 2 Satz 1 StPO genannten Ausschließungstatbeständen - die Besorgnis der Befangenheit aus normativen Erwägungen im Allgemeinen nicht begründen. Anders verhält es sich lediglich beim Hinzutreten besonderer Umstände, die über die Tatsache bloßer Vorbefassung als solcher und die damit notwendig verbundenen inhaltlichen Äußerungen hinausgehen. Dies wird etwa angenommen, wenn Äußerungen in früheren Urteilen unnötige und sachlich unbegründete Werturteile über einen der jetzigen Angeklagten enthalten oder wenn ein Richter sich bei seiner Vorentscheidung in sonst unsachlicher Weise zum Nachteil des Angeklagten geäußert hat (vgl. BGH, Beschluss v. 10.01.2012, 3 StR 400/11, juris Rz. 19 ff. m.w.N.).

Hiervon ausgehend lässt sich vorliegend, auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 16. Februar 2021 (1128/17 – Meng/Deutschland), die Besorgnis der Befangenheit der abgelehnten Mitglieder der Schwurgerichtskammer weder aus dem Hinweisbeschluss vom 26. April 2022 noch aus der in der Selbstanzeige des Vorsitzenden vom 13. Mai 2022 wiedergegebenen mündlichen Urteilsbegründung vom selben Tage in dem Verfahren gegen FF ableiten.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in dieser Entscheidung ausgeführt, es werde die Frage der Unparteilichkeit aufgeworfen, wenn das frühere Urteil bereits eine detaillierte Bewertung der Rolle der später wegen einer von mehreren Personen begangenen Tat angeklagten Person enthalte, insbesondere wenn aus dem früheren Urteil eine bestimmte Einordnung der Beteiligung des Beschwerdeführers vorgenommen werde, oder wenn das Urteil so zu verstehen sei, dass es hinsichtlich der später angeklagten Person alle für die Erfüllung eines Straftatbestands erforderlichen Kriterien erfüllt sehe. Unter den Umständen des konkreten Falls könnten solche Elemente als Vorverurteilung der später angeklagten Person angesehen werden und daher zu objektiv gerechtfertigten Zweifeln dahingehend führen, dass das innerstaatliche Gericht bereits zu Beginn des gegen die später angeklagte Person geführten Verfahrens eine vorgefasste Meinung habe, was die Würdigung ihres Falls angehe. Objektiv gerechtfertigte Zweifel ergäben sich insbesondere dann, wenn die innerstaatlichen Gerichte über die Beschreibung der Tatsachen, die die später angeklagte Person beträfen, hinaus auch eine rechtliche Bewertung des Verhaltens dieser Person vornähmen (a.a.O. Rz. 58).

Unter Bezugnahme auf diese Entscheidung machen die Beschwerdeführer geltend, die Besorgnis der Befangenheit sei vorliegend begründet, weil die Strafkammer in dem Verfahren gegen FF Tatsachen mit entsprechender rechtlicher Einordnung festgestellt und nicht nur als reine Vermutung geäußert habe.

Diese Auffassung, die auf den Ausführungen in der Kommentierung von Schmitt (in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 24 Rz. 13c) beruhen dürfte, vermag der Senat nicht zu teilen. Zwar ist die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 16. Februar 2021 zunächst als Ausweitung der die Besorgnis der Befangenheit begründenden Umstände gedeutet worden. Anhaltspunkte für das Fehlen einer Unvoreingenommenheit des Richters im Folgeverfahren könnten nunmehr bereits die Relevanz der Rolle der nunmehr angeklagten Personen oder die Beweislage im vorherigen Verfahren sein (so Rzwadkowski, NJW 2021, 2951).

Indessen hat bereits Cirener (in: BeckOK, StPO, 43. Ed. (01.04.2022) § 24 Rz. 15b) darauf hingewiesen, dass es denkbar sei, dass diese Entscheidung von den Besonderheiten dieses Falls - wertende Äußerungen, die als sichere Überzeugung ausgegeben worden waren - geprägt gewesen sei und der Europäische Gerichtshof in einem Fall, in dem die Feststellungen im Rahmen der Vorbefassung weniger wertend oder als vorläufige Bewertung gehalten und für die frühere rechtliche Bewertung der Tat absolut unabdingbar seien, zu einem anderen Abwägungsergebnis gelangt wäre.

Diese Mutmaßung wird durch die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in einer Folgeentscheidung vom 25. November 2021 (63703/19 – Mucha/Slowakei) bestätigt. Darin betont der Gerichtshof, es sei anerkannt, dass in komplexen Strafverfahren, die mehrere Personen beträfen, gegen die nicht gemeinsam verhandelt werden könne, Verweise des erkennenden Gerichts auf die Beteiligung Dritter, gegen die möglicherweise später separat verhandelt werde, unumgänglich sein könnten für die Feststellung der Schuld der vor Gericht Stehenden, und dass Strafgerichte verpflichtet seien, die Tatsachen des Falles, die für die Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Angeklagten von Bedeutung seien, so sorgfältig und genau wie möglich nachzuweisen, und dass es ihnen verwehrt sei, festgestellte Tatsachen als reine Beschuldigungen oder Verdächtigungen darzustellen. Dies gelte auch für Tatsachen, die die Beteiligung Dritter beträfen, allerdings solle das Gericht, wenn solche Tatsachen aufgeführt werden müssten, es vermeiden, mehr Informationen zu geben als für die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortung der vor ihm angeklagten Personen erforderlich sei (a.a.O. Rz. 58; im Original in englischer Sprache).

Auch auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist die Besorgnis der Befangenheit deshalb nur dann begründet, wenn die Würdigung der Handlungen der nunmehr Angeklagten in den früheren Entscheidungen über das hinausgegangen ist, was zur Einstufung der Tat des damals Angeklagten erforderlich war (vgl. Cirener, a.a.O. Rz. 15a). Damit verhält es sich aber nicht anders als schon bislang nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, wonach die Besorgnis der Befangenheit dann begründet ist, wenn zu der Vorbefassung besondere Umstände hinzutreten, die über die Tatsache bloßer Vorbefassung als solcher und die damit notwendig verbundenen inhaltlichen Äußerungen hinausgehen (vgl. auch Boe, HRRS 2022, 156 unter Hinweis auf BGH, Beschluss v. 19.08.2014, 3 StR 283/14, bei juris Rz. 7). Derartige Erwägungen enthalten die zum Anlass der Ablehnungsgesuche genommenen Äußerungen, wie in der angefochtenen Entscheidung (dort S. 13 f.) zutreffend ausgeführt ist, jedoch nicht. Vielmehr hat die Strafkammer in dem Beschluss vom 26. April 2022 dargelegt, weshalb es der Feststellung bedurfte, ob die im vorliegenden Verfahren Angeschuldigten an der Tat des FF beteiligt waren, und in der der Selbstanzeige des Vorsitzenden vom 13. Mai 2022 wiedergegebenen mündlichen Urteilsbegründung die diesbezüglich getroffenen Feststellungen nebst der dazu führenden Beweiswürdigung dargestellt, wobei es die rechtliche Würdigung der Beteiligung - weil im Verfahren gegen FF bedeutungslos - sogar ausdrücklich offengelassen hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.


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