Gericht / Entscheidungsdatum: LG Hamburg, Beschl. v. 06.04.2022 628 Qs 19/21
Leitsatz des Gerichts: 1. Der Rechtsanwalt darf nicht ohne Abwägung der Bemessungskriterien stets die Mittelgebühr abrechnen. Die Mittelgebühr ist lediglich Ausgangspunkt der Ermessensausübung des Rechtsanwalts. Soweit eines der Kriterien des § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG von dem Durchschnitt abweicht, ist dies Anlass für den Rechtsanwalt, von der Mittelgebühr nach oben oder nach unten abzuweichen. In diesem Sinne ist ein Verfahren, welches bis zur Hauptverhandlung einen Aktenumfang von 62 Blatt aufweist und in dem sich das Beweisprogramm im Wesentlichen in zwei Zeugen erschöpft als unterdurchschnittlich zu bewerten; jedenfalls soweit kein anderes Bemessungskriterium nach oben hin von der Norm abweicht. Dies gilt auch dann, wenn es im Rahmen des gleichen Lebenssachverhalts eine Gegenanzeige des mutmaßlich Geschädigten - und damit ein gegenläufiges Ermittlungsverfahren - gibt.
2. 2. Die Beauftragung eines auswärtigen Verteidigers ist nur beim Vorliegen besonderer Umstände notwendig. Fehlt es daran, kann der auswärtige Verteidiger nur Fahrtkosten abrechnen, soweit diese auf den Teil der Wegstrecke innerhalt des Gerichtsbezirks entfallen.
In pp.
1. Auf die sofortige Beschwerde des Freigesprochenen wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des Amtsgerichts Hamburg-Harburg vom 22.04.2021 (Az.: 626 Ds 130/19) wie folgt abgeändert:
Die dem früheren Angeklagten zu erstattende notwendigen Auslagen werden auf EUR 913,90 zzgl. 19% Umsatzsteuer = EUR 173,64 (Endsumme: EUR 1.087,54) festgesetzt.
2. Die weitergehende sofortige Beschwerde wird zurückgewiesen.
3. Der Freigesprochene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe:
I.
Durch rechtskräftiges Urteil vom 30. Juni 2020 hat das Amtsgericht Hamburg-Harburg den früheren Angeklagten vom Vorwurf der falschen Verdächtigung freigesprochen und seine notwendigen Auslagen der Staatskasse auferlegt. Mit Kostenberechnung vom 02.07.2020 wurde beantragt, Auslagen in Höhe von EUR 1.461,90 zzgl. 19% Umsatzsteuer in Höhe von EUR 277,76 - mithin einen Gesamtbetrag von EUR 1.739,66 - gegen die Staatskasse festzusetzen.
Das Amtsgericht Hamburg-Harburg hat mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 22.04.2021 lediglich einen Erstattungsbetrag von insgesamt EUR 1.057,55 festgesetzt.
Im Wesentlichen blieben die Einzelposten der Kostenrechnung unbeanstandet. In Streit sind lediglich die folgenden Abrechnungsposten:
(1) Statt einer Grundgebühr von EUR 200,- hat die Rechtspflegerin lediglich EUR 130,- festgesetzt.
(2) Die beantragten Fahrtkosten von 2 x EUR 171,60 für jeweils 572 km Anreise mit dem eigenen PKW sind abgelehnt worden.
(3) Die beantragten Abwesenheitsgelder bei einer Geschäftsreise in Höhe von 2 x EUR 70,- sind abgelehnt worden.
Gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss, welcher dem Verteidiger des Freigesprochenen am 4. Mai 2021 zugestellt wurde, hat der Freigesprochene am 18. Mai 2021 sofortige Beschwerde eingelegt.
Mit Beschluss vom 20. Mai 2021 hat das Amtsgericht Hamburg-Harburg den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 22. April 2021 dahingehend berichtigt, dass die Grundgebühr in Höhe von EUR 110,- (statt zuvor EUR 130,-) festgesetzt worden war.
II.
Die sofortige Beschwerde des Beschuldigten ist zulässig hat in der Sache jedoch nur zu einem geringen Teil Erfolg.
1. Die sofortige Beschwerde ist gem. § 464 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die zweiwöchige Frist gem. § 464b Satz 4 StPO gewahrt.
2. Die Kammer versteht die sofortige Beschwerde dahingehend, dass diese sich auch gegen den Berichtigungsbeschluss vom 20. Mai 2021 richtet. Dies ist auch sachgerecht. Zwar ist der Berichtigungsbeschluss erst nach Einlegung der sofortigen Beschwerde ergangen, jedoch hat dieser lediglich einen offensichtlichen Schreibfehler berichtigt (vgl. § 319 ZPO). Dies wird insbesondere durch die Bezugnahme auf die Stellungnahme der Bezirksrevisorin deutlich sowie aus dem Umstand, dass die Summe der festgesetzten Kosten sich rechnerisch nur unter Ansetzung einer Grundgebühr in Höhe von EUR 110,- ergibt. An der Beschwer, gegen die sich die sofortige Beschwerde richtet (d.h. die Differenz zwischen beantragten und festgesetzten Kosten), hat der Berichtigungsbeschluss indes nichts geändert (sondern diese allenfalls noch um EUR 20,- erhöht). Zudem richtet sich die sofortige Beschwerde der Sache nach nicht gegen die Berichtigung als solcher, sondern gegen die Höhe der - bereits ursprünglich auf lediglich EUR 110,- festgesetzten - Grundgebühr.
Ohne dass es im Ergebnis darauf ankommt ist der Berichtigungsbeschluss auch ohne Rechtsmittelbelehrung(vgl. § 319 Abs. 3 Alt. 2 ZPO) ergangen - § 319 ZPO enthält insoweit einen allgemeinen Rechtsgedanken; der auch in anderen Verfahrensordnungen und auch auf Kostenfestsetzungsbeschlüsse anwendbar ist (Musielak, in MüKo-ZPO, 6. Aufl. 2020, § 319 Rn. 2, 3) -, weshalb die Versäumung der Beschwerdefrist gem. §§ 44 Satz 2, 35a Satz 1 StPO auch als unverschuldet anzusehen sein könnte. Wiedereinsetzung hätte vorliegend auch ohne entsprechenden Antrag gewährt werden können (§ 45 Abs. 2 Satz 3 StPO).
3. Die Beschwerde hat in der Sache nur zu einem kleinen Teil Erfolg.
a) Grundgebühr
Die beantragte Grundgebühr (Ziff. 4100 Anlage 1 zum RVG) in Höhe von EUR 200,- ist nur in Höhe von EUR 110,- festzusetzen.
Bei Rahmengebühren bestimmt gem. § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG der Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers. Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist (§ 14 Abs. 1 Satz 4 RVG). So liegt der Fall hier.
Dritter in diesem Sinne ist insbesondere auch die Staatskasse, die nach § 467 Abs. 1 StPO dem freigesprochenen Angeklagten die Verteidigerkosten erstatten muss (vgl. v. Seltmann, BeckOK-RVG, 55. Edition, Stand: 01.09.2021, § 14 Rn. 51). Dabei verkennt die Kammer nicht, dass das grundsätzliche Gebührenbestimmungsrecht eines Anwalts nicht dadurch ausgehöhlt werden darf, dass eine Gebührenbemessung schon dann als unbillig korrigiert wird, wenn sie lediglich gut bemessen ist (LG Zweibrücken, Beschluss vom 12.02.2008 - Qs 68/07 = BeckRS 2008, 16655; Mayer, in Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl. 2021, § 14 Rn. 5) . Denn jede Ermessenausübung bewegt sich innerhalb eines durch die Umstände bestimmten Rahmens, und eine Ermessensausübung ist auch dann noch billig, wenn sie an den oberen Rand des durch die Umstände bestimmten Rahmens geht (Mayer, in Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl. 2021, § 14 Rn. 12). Erst, wenn sie diesen oberen Rand überschreitet, ist sie unbillig, und damit der Weg für das Gericht frei, das anwaltliche Ermessen durch eigenes Ermessen zu ersetzen (Mayer, a.a.O.; vgl. zum insoweit eingeschränkten Prüfungsmaßstab des Gerichts auch: v. Seltmann, BeckOK-RVG, 55. Edition, Stand: 01.09.2021, § 14 Rn. 7). Diese engen Voraussetzungen liegen indes vor. Der Verteidiger des Freigesprochenen hat hier die sog. Mittelgebühr angesetzt. In Normalfällen (d.h. wenn sämtliche in § 14 Abs. 1 Satz 1 StPO ausdrücklich genannten Umstände von durchschnittlicher Art sind) entspricht die Bestimmung der Mittelgebühr billigem Ermessen (v. Seltmann, BeckOK-RVG, 55. Edition, Stand: 01.09.2021, § 14 Rn. 21). Das darf aber nicht dazu führen, dass der Rechtsanwalt ohne Abwägung der einzelnen Bemessungskriterien generell die Mittelgebühr abrechnet (v. Seltmann, a.a.O.). Vielmehr ist die Mittelgebühr lediglich Ausgangspunkt der Ermessensausübung. Soweit eines der Kriterien des § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG von dem Durchschnitt abweicht, ist dies Anlass für den Rechtsanwalt, von der Mittelgebühr nach oben oder nach unten abzuweichen (v. Seltmann, a.a.O.). So liegt es hier.
Namentlich Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weichen hier maßgeblich nach unten vom Durchschnitt ab (vgl. zu diesen Kriterien im Einzelnen: v. Seltmann, BeckOK-RVG, 55. Edition, Stand: 01.09.2021, § 14 Rn. 28 ff., 34 ff.). Der Aktenumfang betrug bis zum Hauptverhandlungsprotokoll 62 Blatt (sowie 43 Blatt im Zeitpunkt erstmaliger Akteneinsicht). Ausgangspunkt des Verfahrens war ein Vorfall in einem Kiosk. Neben der Einlassung des (ehemaligen) Beschuldigten erschöpfte sich das Beweisprogramm im Wesentlichen in zwei Zeugen. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Umstand, dass der Geschädigte zum Beschuldigten wurde und es zwei sich diametral gegenüberstehende Ermittlungsverfahren gab. Denn sowohl in dem hiesigen Verfahren als auch in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen 2004 Js 499/19 (der hiesigen Beiakte) ging es im Kern um den gleichen Lebenssachverhalt; zumal der Umfang der Beiakte - den insoweit geltend gemachten Kopierkosten nach zu urteilen - sogar noch geringer war, als derjenige der hiesigen Akte. Auf der anderen Seite wich kein anderes relevantes Bemessungskriterium nach oben hin von der Norm ab, sodass auch insoweit keine Kompensation erfolgen konnte, die eine Festsetzung der Mittelgebühr noch hätte rechtfertigen können (zu dieser Möglichkeit: Mayer, in Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl. 2021, § 14 Rn. 11; m.w.N.).
Dabei hat die Kammer auch bedacht, dass es nicht angängig ist, von den Kostenrechnungen eines Verteidigers kleinteilige Abzüge vorzunehmen und sich vor diesem Hintergrund gewisse Toleranzgrenzen herausgebildet haben. So werden etwa Abweichungen von bis zu 20% regelmäßig noch als verbindlich angesehen (Mayer, in Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl. 2021, § 14 Rn. 12; v. Seltmann, BeckOK-RVG, 55. Edition, Stand: 01.09.2021, § 14 Rn. 51; m.w.N.). Vorliegend sind diese Grenzen jedoch ersichtlich überschritten.
b) Fahrtkosten
Die geltend gemachten Fahrtkosten (Ziff. 7003 Anlage 1 zum RGV) waren nur in einer Höhe von EUR 25,20 festzusetzen.
Gem. § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO gehören zu den notwendigen Auslagen eines Beteiligten auch die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts, soweit sie nach § 91 Abs. 2 der Zivilprozessordnung zu erstatten sind. Nach § 91 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO sind Reisekosten eines Rechtsanwalts, der nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen ist und am Ort des Prozessgerichts auch nicht wohnt nur insoweit zu erstatten, als die Zuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig war. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
Sachgerecht ist die Beauftragung eines ortsansässigen Prozessbevollmächtigten. Wer darauf verzichtet und auswärtigen Beistand in Anspruch nimmt, kann den Mehraufwand grundsätzlich nicht erstattet verlangen (Schulz, in MüKo-ZPO, 6. Aufl. 2020, § 91 Rn. 71; Hüßstege, in Thomas/Putzo, ZPO, § 91 Rn. 42a; vgl. Herget, in Zöller, ZPO, § 91 Rn. 13, unter dem Stichwort: Reisekosten b) des Anwalts). Denn im Grundsatz wird der Partei zugemutet, einen an ihrem Gerichtsstandort zugelassenen Rechtsanwalt zu beauftragen (Jaspersen, in BeckOK ZPO, 43 Edition, Stand: 01.12.2021, § 91 Rn. 169). Es gilt das Kostenschonungsgebot (Schulz, a.a.O.). Nur beim Vorliegen besonderer Umstände können diese Kosten notwendig sein (Gierl, in Saenger, ZPO, 9. Aufl. 2021, § 91 Rn. 52; m.w.N.).
Namentlich muss das schützenswerte Interesse der Partei an einem auswärtigen Anwalt so großes Gewicht haben, dass das Gebot der Kostenschonung dahinter zurücktritt (Jaspersen, a.a.O.). Dies kann etwa der Fall sein, wenn ein entlegenes oder besonders schwieriges Rechtsgebiet die Fachkunde eines Spezialisten erfordert und ein geeigneter Anwalt vor Ort nicht verfügbar ist (Schulz, a.a.O.); wobei die Anforderungen hier im Allgemeinen hoch anzusetzen sind (Flockenhaus, in Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl. 2022, § 91 Rn. 18).
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Besondere Spezialkenntnisse waren weder erforderlich noch sind diese dargetan. Zwar mag es aufgrund des damaligen Verfahrensstands und dem bis dato erfolgten Verfahrensgang aus Sicht des Freigesprochenen nachvollziehbar gewesen sein, das vorherige Mandatsverhältnis mit dem hamburgischen Strafverteidiger zu beenden. Gleichwohl sind keine Gründe dafür ersichtlich, dass die Beauftragung eines anderen Verteidigers aus Hamburg nicht möglich gewesen sein soll. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem - in Strafsachen ganz besonders erheblichen - Grundsatzes des besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandant (vgl. zum persönlichen Vertrauen etwa: Schulz, in MüKo-ZPO, 6. Aufl. 2020, § 91 Rn. 63). Vorliegend hat der Verteidiger des Freigesprochenen zwar in der Vergangenheit bereits Familienangehörige des Freigesprochenen vertreten, war für diesen selbst jedoch noch nicht tätig. Hieran vermag auch die langjährige Freundschaft zwischen dem Freigesprochenen und seinem Verteidiger nichts zu ändern.
Gleichwohl bedeutet die fehlende Notwendigkeit der Beauftragung eines auswärtigen Verteidigers nicht, dass für diesen überhaupt keine Fahrtkosten angesetzt werden können. Vielmehr sind tatsächlich angefallene Reisekosten des auswärtigen Rechtsanwalts insoweit erstattungsfähig, als sie auch dann entstanden wären, wenn die obsiegende Partei einen Rechtsanwalt mit Niederlassung am weitest entfernt gelegenen Ort innerhalb des Gerichtsbezirks beauftragt hätte (BGH, Beschluss vom 09.05.2018 - I ZB 62/17 = BeckRS 2018, 14136; dort unter Rn. 8 ff. mit umfangreichen Nachweisen zum Meinungsstand; vgl. Jaspersen, in BeckOK ZPO, 43 Edition, Stand: 01.12.2021, § 91 Rn. 169).
Ersatzfähig ist daher derjenige Anteil der Fahrtkosten, welcher auf die Wegstrecke innerhalb des hiesigen Gerichtsbezirks entfällt. Von der kürzesten Route vom Amtsgericht HamburgHarburg bis zum Kanzleisitz des Verteidigers des Freigesprochenen (J. , S.) liegen 21 Kilometer innerhalb der Landesgrenzen Hamburgs. Der Verteidiger ist diese Wegstrecke viermal gefahren. Ersatzfähig sind daher EUR 25,20 (= 4 x 21 x EUR 0,30).
c) Abwesenheitsgelder
Aus den o.g. Gründen konnten auch die Abwesenheitsgelder (Ziff. 7005 Anlage 1 zum RGV) nicht festgesetzt werden. Auf die Ausführungen unter Buchstabe b) wird insoweit vollumfänglich Bezug genommen.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO. Aufgrund des geringen (Teil-)Erfolgs des Rechtsmittels war für die Anwendung des § 473 Abs. 4 StPO kein Raum.
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