Gericht / Entscheidungsdatum: LG Hamburg, Beschl. v. 11.03.2022 - 613 Qs 7/22
Eigener Leitsatz: Für den Begriff der Eröffnung des Tatvorwurfs genügt es, dass der Beschuldigte durch amtliche Mitteilung oder auf andere Weise als durch amtliche Mitteilung von dem Tatvorwurf gegen ihn in Kenntnis gesetzt worden ist.
Landgericht Hamburg
613 Qs 7/22
Beschluss
In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
Rechtsanwalt Thomas Penneke, Kröpeliner Straße 37, 18055 Rostock, Gz.: TP 4/22
wegen Verdachts der Nötigung
beschließt das Landgericht Hamburg - Große Strafkammer 13 - durch den Richter am Land-gericht, die Richterin und die Vorsitzende Richterin am 11.03.2022:
1. Auf die sofortige Beschwerde des Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 22.02.2022 (Az.: 163 Gs 259/22) abgeändert und dem Beschuldigten Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Beschuldigten trägt die Staatskasse.
Gründe:
I.
1. Die sofortige Beschwerde des Beschuldigten ist gemäß §§ 142 Abs. 7 Satz 1, 311 StPO zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und nicht nach § 142 Abs. 7 Satz 2 StPO ausgeschlossen.
2. Sie hat auch in der Sache Erfolg, da sich der Beschuldigte aufgrund einer richterlichen Anordnung in einer Haftanstalt befindet, § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO (a.) und ihm der Tatvorwurf im Sinne des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO eröffnet worden ist (b.).
Gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist, und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies ausdrücklich beantragt.
Diese Voraussetzungen sind gegeben.
a) Es liegt gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, da sich der in dieser Sache noch unverteidigte Beschuldigte im. Zeitpunkt der Antragstellung am 10.01.2022 aufgrund des Haftbefehls des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 22.09.2021 seit dem 27.09.2021 in anderer Sache in Untersuchungshaft in der Untersuchungshaftanstalt Hamburg befand und auch heute noch befindet.
b) Dem Beschuldigten war zu, diesem Zeitpunkt der Tatvorwurf auch bereits im Sinne des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO eröffnet.
Der Begriff der Eröffnung des Tatvorwurfs ist nicht so eng auszulegen, dass nur förmliche Mitteilungen über die Bekanntgabe eines Ermittlungsverfahrens im Sinne von §§ 136, 163a StPO hinreichend sind (so aber Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage 2021, § 141 Rn. 3, nach dem unter der Eröffnung des Tatvorwurfs die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens zu verstehen ist). Vielmehr genügt es für die Eröffnung des Tatvorwurfs, dass der Beschuldigte durch amtliche Mitteilung oder auf andere Weise als durch amtliche Mitteilung von dem Tatvorwurf gegen ihn in Kenntnis gesetzt worden ist (BeckOK StPO/Krawczyk, 42. Edition Stand 01.01.2022, § 141 Rn. 4).
Der Terminus Eröffnung des Tatvorwurfs" in § 141 StPO lässt eine solche Auslegung zu. Auf einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers kann geschlossen werden, da in den Gesetzgebungsmaterialien (BT-Drucks. 19/13829, Seite 36) ausdrücklich auf die Richtlinie 2013/48/EU vom 22.10.2013 (Richtlinie über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls Bezug genommen wird. Nach Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie ist ihr Anwendungsbereich. erst ab demjenigen Zeitpunkt eröffnet, zu dem Verdächtige oder beschuldigte Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedsstaates durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden". Ausreichend ist daher, dass der Beschuldigte in irgendeiner Form von amtlicher Seite mit dem Tatvorwurf konfrontiert worden ist (vgl. Landgericht Neubrandenburg, Beschluss vom 30.07.2021, BeckRS 2021, 28689; noch weitergehend auf die bloße tatsächliche Kenntnis des Beschuldigten abstellend: Landgericht Magdeburg, Beschluss vom 24.07.2020, BeckRS 2020, 21147).
Dies war hier der Fall. Unabhängig vom konkreten Wortlaut der Äußerungen des Sitzungsvertreters der Generalstaatsanwaltschaft stand in der Hauptverhandlung vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg der hiesige Tatvorwurf jedenfalls im Raum. Nachdem die Vorsitzende im Rahmen dieser Hauptverhandlung mitgeteilt hatte, dass der dortige Zeuge pp. - gegen den sich die hiesige Straftat richten soll - nicht erscheinen wolle und auch den Inhalt seiner Angaben bei der Polizei mitgeteilt hatte, erkundigte sich der Sitzungsvertreter ausweislich seines Vermerks vom 07.03.2022 im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung, ob sich der Beschuldigte auch in dieser Sache von Rechtsanwalt pp. vertreten lassen werde. Dies ist bereits als hinreichende Konfrontation mit dem etwaigen Tatvorwurf anzusehen, sodass dahinstehen kann, ob die weitergehende Äußerung des Sitzungsvertreters, dass ein Verfahren gegen den Beschuldigten in richtiger Weise" eingeleitet worden sei, tatsächlich gefallen ist oder nicht.
II.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO analog.
Einsender: RA T. Penneke, Rostock
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