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Entscheidungen

Corona

Impfunfähigkeitsbescheinigung, unrichtiges Gesundheitszeugnis,

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 28.07.2022 – 12 Qs 34/22

Leitsatz des Gerichts: 1. Eine ärztlich ausgestellte Impfunfähigkeitsbescheinigung ist ein Gesundheitszeugnis i.S.d. § 278 StGB.
2. Ein Gesundheitszeugnis ist in der Regel schon dann unrichtig, wenn ihm keine ordnungsgemäße Untersuchung durch den ausstellenden Arzt zugrunde liegt.


In pp.

1. Die Beschwerde der Beschuldigten wird als unbegründet verworfen.
2. Die Beschuldigte trägt die Kosten der Beschwerde und ihre notwendigen Auslagen.

Gründe

I.

Die Beschuldigte wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen einen Durchsuchungsbeschluss. Dem liegt zugrunde:

Die Staatsanwaltschaft H. führt ein Ermittlungsverfahren gegen den Kinderarzt Dr. S. Sie wirft ihm vor, in großem Umfang Impfunfähigkeitsbescheinigungen für Kinder aus dem ganzen Bundesgebiet zur Vorlage bei Behörden ausgestellt zu haben, ohne dass dem jeweils eine Untersuchung der Kinder oder eine Überprüfung der Angaben der Kindseltern vorausgegangen wäre. Bei einer Durchsuchung seiner Praxisräume fand die Polizei über tausend schriftliche Elternanfragen, in denen Impfunfähigkeitsbescheinigungen bei ihm angefordert wurden, darunter auch eine der Beschuldigten, mit der sie um solche Bescheinigungen für ihre vier Kinder bat. Die weiteren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft H. erbrachten, dass in mindestens 20 bis dahin nachgewiesenen Einzelfällen Dr. S. formularmäßige Impfunfähigkeitsbescheinigungen für Kinder tatsächlich ausgestellt und an deren Eltern übersandt hatte.

Die Staatsanwaltschaft H. leitete daher ein Ermittlungsverfahren gegen die Beschuldigte wegen des Verdachts der Anstiftung zum Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse ein und gab es sodann an die für ihren Wohnsitz zuständige Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth ab. Letztere erwirkte einen Durchsuchungsbeschluss gem. § 102 StPO für die Wohnung der Beschuldigten beim Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Nürnberg. Gesucht werden sollte nach den mutmaßlich von Dr. S. ausgestellten Impfunfähigkeitsbescheinigungen.

Die Durchsuchung wurde am 9. Juni 2022 vollzogen. Mit Schreiben vom 23. Juni 2022 legte die Verteidigerin der Beschuldigten Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss ein, die sie nach Akteneinsicht mit weiterem Schreiben vom 25. Juli 2022 begründete. Sie beantragte, den Durchsuchungsbeschluss aufzuheben. Es habe von vornherein an einem Anfangsverdacht gefehlt. Die Beschuldigte hätte in ihrer Anfrage Dr. S. die Krankheitsgeschichte der Kinder ausführlich geschildert. Diese Schilderung habe der Arzt fachlich prüfen können.

Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

1. Die Durchsuchungsanordnung ist zwischenzeitlich vollzogen und damit erledigt. Das Rechtsschutzbegehren der Beschwerde ist daher im gegebenen Fall der Durchsuchung einer Privatwohnung dahin auszulegen, dass es auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Durchsuchung gerichtet ist. Mit diesem Rechtsschutzziel kann die Beschwerde zulässig geführt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. März 1998 - 1 BvR 1935/96, juris Rn. 18 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., vor § 296, Rn. 18a m.w.N.).

2. Die Durchsuchung war allerdings rechtmäßig, weil ein sie rechtfertigender, hinreichend gewichtiger Anfangsverdacht bei Beschlusserlass vorlag. Dieser setzt voraus, dass konkrete Tatsachen vorliegen, die es als möglich erscheinen lassen, dass eine verfolgbare Straftat begangen worden ist (BGH, Beschluss vom 13. Oktober 1999 - StB 7/99, juris Rn. 6).

a) Eine ärztlich ausgestellte Impfunfähigkeitsbescheinigung ist ein Gesundheitszeugnis i.S.d. § 278 StGB (so auch Ruppert, medstra 2022, 153, 154; Hoffmann, öAT 2022, 51, 54), weil sie als Urkunde die medizinische Beurteilung eines Untersuchungsbefundes enthält und den gegenwärtigen Gesundheitszustand des Patienten aber auch in Form einer sachverständigen Prognose mögliche künftige Auswirkungen einer Impfung bei ihm bewertet (allg. zum Gesundheitszeugnis Wittig in SSW-StGB, 5. Aufl., § 277 Rn. 2; Schuhr in Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl., § 278 StGB Rn. 5).

b) Nach Aktenlage bot Dr. S. in seinem damaligen Internetauftritt an, Impfunfähigkeitsbescheinigungen für Kinder auszustellen und per Post zu versenden, wenn die Eltern ihm etwaige gesundheitliche Probleme ihres Kindes schriftlich mitteilen und ihrer Anfrage einen frankierten Rückumschlag und zehn Euro in bar als Vergütung beilegen. Eine persönliche Untersuchung des Kindes durch den Arzt war dabei nicht vorgesehen. Bei der Durchsuchung der Praxis des Dr. S. wurden u.a. eine E-Mail und ein Schreiben der Beschuldigten je vom 11. Dezember 2019 aufgefunden, in denen sie recht ausführlich die Krankengeschichte der vier Kinder beschreibt. Daher lag es nach kriminalistischer Erfahrung nahe, dass sie nach dem vorstehend geschilderten Modell Impfunfähigkeitsbescheinigungen bei Dr. S. beauftragt und diese auch von ihm erhalten hat, ohne dass die Kinder in der – knapp 200 km vom Wohnort der Beschuldigten entfernten – Arztpraxis vorgestellt worden wären.

c) Damit ist zwar nicht gesagt, dass die mutmaßlich ausgestellten Impfunfähigkeitsbescheinigungen sachlich falsch sein müssen; vielleicht treffen sie nach den dem Arzt schriftlich geschilderten Krankengeschichten sogar zu. Ein unrichtiges Gesundheitszeugnis liegt aber auch dann vor, wenn der Arzt den Patienten – wie hier der Verdacht besteht – zuvor nicht ordnungsgemäß untersucht hat.

aa) Das hat der historische Gesetzgeber allerdings wohl noch anders gesehen. § 278 StGB geht auf § 257 des preußischen StGB von 1851 zurück. Dessen Gesetzgeber hat die Frage, ob die formell falsche Ausstellung eines Gesundheitszeugnisses tatbestandsmäßig ist, wenn die dort mitgeteilten Tatsachen wahr sind, in Übereinstimmung mit der seinerzeitigen Doktrin verneint (vgl. Goltdammer, Die Materialien zum Straf-Gesetzbuche für die preußischen Staaten, Teil II, 1852, S. 594 f.). Demgemäß ging auch die Literatur nach Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs davon aus, dass § 278 StGB ein materiell unrichtiges Gesundheitszeugnis voraussetzt (etwa Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 4. Aufl., 1892, § 278 Anm. 1; Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 5. Aufl., 1908, § 278 Anm. I).

bb) Im Hinblick auf seinen Schutzzweck hat allerdings die Rechtsprechung schon vor über 80 Jahren den Anwendungsbereich des § 278 StGB ausgeweitet. Die Strafnorm solle nämlich die Beweiskraft ärztlicher Zeugnisse für Behörden sichern. Ein Zeugnis, das ein Arzt ohne Untersuchung ausstelle, sei aber ebenso wertlos, wie dasjenige, das nach erfolgter Untersuchung den hierbei festgestellten Gesundheitszustand unrichtig darstelle (RG, Urteil vom 25. Juni 1940 – 1 D 762/39, RGSt 74, 229, 231). Die damals begründete Rechtsprechung wurde in der Folgezeit bestätigt und fortgeführt (BGH, Urteil vom 23. April 1954 - 2 StR 120/53, juris Rn. 13; Urteil vom 29. Januar 1957 - 1 StR 333/56, juris Rn. 9; OLG München, Urteil vom 15. Juni 1950 - 2 Ss 37/50, NJW 1950, 796; OLG Frankfurt, Urteil vom 4. Mai 1977 - 2 Ss 146/77, juris Rn. 15 ff.). Sie entspricht auch der derzeit maßgeblichen Auffassung in der Judikatur (BGH, Urteil vom 8. November 2006 - 2 StR 384/06, juris Rn. 4 f.; OLG Frankfurt, Beschluss vom 11. Januar 2006 - 1 Ss 24/05, juris Rn. 22, 24; dazu auch Wolfslast in FS Roxin, 2011, 1121, 1122 f. Zieschang, medstra 2020, 202, 203). Die Kammer folgt ihr aus den genannten Schutzzweckerwägungen. Diese Auslegung ist auch vom Wortlaut der Strafnorm gedeckt.

cc) Ausnahmsweise mag eine körperliche Untersuchung oder persönliche Befragung in Einzelfällen gleichwohl entbehrlich sein, wenn sich der Arzt auf andere Weise zuverlässig über den Zustand des Patienten unterrichtet hat (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 11. Januar 2006 - 1 Ss 24/05, juris Rn. 24; einschränkend Wolfslast, aaO, S. 1124). Nach der aus der Akte ersichtlichen Art der massenhaften und formularmäßigen Abwicklung der Elternanfragen durch Dr. S. kann dessen zuverlässige Unterrichtung über die Grundlagen einer etwaigen Impfunverträglichkeit des einzelnen Kindes aber nicht ernsthaft angenommen werden. Rückfragen sah sein im Internet beworbenes Geschäftsmodell erkennbar nicht vor. Damit bildeten einzig die von den Eltern als relevant assoziierten und ausreichend vermuteten schriftlichen Mitteilungen an Dr. S. die Grundlage für die Ausstellung der Bescheinigungen durch ihn, wenn man zu seinen Gunsten unterstellt – was nach der Art des Geschäftsmodells nicht auf der Hand liegt –, dass sie ihn inhaltlich überhaupt interessierten. Das reicht nicht.

d) Indem die Beschuldigte Dr. S. aufforderte, Impfunfähigkeitsbescheinigungen im geschilderten Rahmen auszustellen, stiftete sie ihn mutmaßlich zu Straftaten nach § 278 StGB an und begründete so mutmaßlich die eigene Strafbarkeit (§ 26 StGB). Dr. S. war vor der Aufforderung durch die Beschuldigte lediglich allgemein tatgeneigt, aber mangels Kenntnis des Einzelfalles zu den konkreten Taten noch nicht fest entschlossen (er war mithin kein omnimodo facturus).

e) Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit der Durchsuchung hegt die Kammer nach Lage der Dinge nicht.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.


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