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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Haftentlassung, Aufhebung der Bestellung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Magdeburg, Beschl. v. 11.05.2022 - 25 Qs 33/22

Eigener Leitsatz: In den Fällen der Pflichtverteidigeraufhebung wegen Haftentlassung ist im Rahmen des insoweit eingeräumten Ermessens stets sorgfältig zu prüfen, ob die frühere mit dem Umstand der Inhaftierung verbundene Behinderung des Angeklagten in seinen originären Verteidigungsrechten und -möglichkeiten entfallen ist oder diese Einschränkung des Angeklagten trotz Aufhebung der Haft fortbesteht und deshalb eine weitere Unterstützung durch einen Verteidiger erfordert.


Landgericht Magdeburg

Beschluss

25 Qs 852 Js 73753/21 (33/22)

In der Beschwerdesache
Gegen pp.

Verteidiger:
Rechtsanwalt Jan-Robert Funck, Schleinitzstraße 14, 38106 Braunschweig

wegen gefährlicher Körperverletzung

hat die 5. Große Strafkammer des Landgerichts Magdeburg durch die unterzeichnenden Richter am 11. Mai 2022 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde des Angeschuldigten vom 11. April 2022 wird der Beschluss des Amtsgerichts Quedlinburg vom 29. März 2022 (Az.: 2 Ds 852 Js 73753/21), durch den die Bestellung von Rechtsanwalt pp. vom 12. August 2021 als Pflichtverteidiger aufgehoben wurde, aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Quedlinburg zurückverwiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens, einschließlich der dem Angeschuldigten hierfür entstandenen notwendigen Auslagen, hat die Landeskasse zu tragen.

Gründe:

Gegen den Angeschuldigten wird vor dem Amtsgericht Quedlinburg ein Strafverfahren wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung geführt. Mit Anklage der Staatsanwaltschaft Magdeburg — Zweigsteile Halberstadt — vom 22. Juli 2021 wird dem Angeschuldigten vorgeworfen, am 25. Februar 2020 gegen 19:02 Uhr in Ballenstedt gemeinsam mit den Mitangeschuldigten pp. und pp. zur Wohnung pp. Gefahren zu sein und bei den Geschädigten pp. und pp. geklingelt zu haben, um pp. dem gemeinschaftlichen Tatplan entsprechend, in arbeitsteiliger Vorgehensweise zur Rede zu stellen. Da dieser lediglich am Fenster erschienen sei, habe pp. ihn aufgefordert, herauszukommen. Als der pp. daraufhin zur Tür gekommen sei, habe ihn pp. am Kragen ergriffen und pp. übergeben. Diese habe versucht pp. zu schlagen und zu treten, während der Angeschuldigte pp. den Geschädigten derart heftig geschlagen habe, dass dieser zu Fall gekommen und aufgrund seiner erlittenen Verletzungen drei Tage krankgeschrieben worden sei. Durch die Rangelei habe pp. Rötungen am Hals davongetragen. Sie sei als "Schlampe" beschimpft worden, eine halbvolle Bierflasche sei in ihre Wohnung geworfen worden und alle Angeschuldigten hätten das Geschehen durch ihr Grölen angeheizt.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Quedlinburg vom 12. August 2021 wurde dem Angeschuldigten pp. Rechtsanwalt pp. als Verteidiger bestellt, da sich der Angeschuldigte zu dieser Zeit aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befunden hat (§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO).

Am 18. November 2021 wurde der Angeschuldigte aus der Haft entlassen.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Quedlinburg vom 29. März 2022 (Az.: pp.) dem Verteidiger zugegangen am 04. April 2022, wurde die Bestellung von Rechtsanwalt pp. vom 12. August 2021 als Pflichtverteidiger aufgehoben. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass diese Bestellung aufzuheben sei, da der Angeschuldigte mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung, nämlich bereits am 18. November 2021, aus der Haft entlassen worden sei.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 11. April 2022 legte der Angeschuldigte gegen den Beschluss des Amtsgerichts Quedlinburg vom 29. März 2022 sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der angegriffene Beschluss bereits deswegen aufzuheben sei, da dieser nicht erkennen lasse, dass sich das Gericht des ihm zustehenden Ermessens bewusst gewesen sei und seine Entscheidung unter Berücksichtigung der spezifischen Gesichtspunkte des Einzelfalls getroffen habe.

Die nach § 143 Abs. 3 StPO i. V. m. § 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde des Angeschuldigten ist begründet.

Die angefochtene Entscheidung beruht auf § 143 Abs., 2 Sätze 1 und 2 StPO. Nach § 143 Abs. 2 Satz 1 StPO kann die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufgehoben werden, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt. Nach § 143 Abs. 2 Satz 2 StPO kann die Bestellung eines Verteidigers nach — wie vorliegend — § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO nur aufgehoben werden, wenn der Beschuldigte mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung aus der Anstalt entlassen wird. Dieser Fristbestimmung liegt die Erwägung zugrunde, dass einem Beschuldigten dadurch ausreichend Zeit eingeräumt wird, um einen Verteidiger seines Vertrauens noch bis zum Beginn der Hauptverhandlung zu finden (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 09. November 2010 — 4 Ws 615/10 —, juris).

Der Angeschuldigte wurde zwar bereits am 18. November 2021, mithin mehr als zwei Wochen vor dem Beginn der Hauptverhandlung, aus der Haft entlassen. Allerdings ordnet § 143 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht die uneingeschränkte Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung bei Vorliegen der formellen Voraussetzungen an. Vielmehr wird für das mit der Frage befasste Gericht ein Ermessensspielraum eröffnet. Das Gericht ist gehalten, dieses Ermessen fehlerfrei zu gebrauchen.

Im Rahmen des insoweit eingeräumten Ermessens ist stets sorgfältig zu prüfen, ob die frühere mit dem Umstand der Inhaftierung verbundene Behinderung des Angeklagten in seinen originären Verteidigungsrechten und -möglichkeiten entfallen ist oder diese Einschränkung des Angeklagten trotz Aufhebung der Haft fortbesteht und deshalb eine weitere Unterstützung durch einen Verteidiger erfordert (vgl. OLG Düsseldorf, a.a.O.; OLG Celle StV 1992, 151, OLG Frankfurt StV 1983, 497, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 143 Rn. 6). Das Gericht ist verpflichtet, insoweit nachvollziehbare Erwägungen anzustellen und diese zur Grundlage seiner Entscheidung zu machen (so schon Beschluss der Kammer v. 07. Juli 2021 — 25 Qs 743 Js 41625/18 (49/21) sowie LG Magdeburg Beschl. v. 19. Juni 2014 — 21 Qs 785 Js 36889-13 (44/14), BeckRS 2014, 20314; OLG Düsseldorf, a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 143 Rn. 6 m. w. N.; BeckOK StPO/Krawczyk, 39. Ed. 1.1.2021, StPO, § 143 Rn. 11).

Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung des Amtsgerichts Quedlinburg nicht gerecht. Dem angefochtenen Beschluss des Amtsgerichts Quedlinburg vom 29. März 2022 kann nicht entnommen werden, dass sich das Gericht des ihm zustehenden Ermessens bewusst gewesen ist oder umfassend die gebotenen Überlegungen unter Berücksichtigung der spezifischen Gesichtspunkte des Einzelfalls angestellt hat. Die Begründung lässt insbesondere nicht erkennen, ob ein Fortwirken der Behinderung der Verteidigung ausnahmsweise nicht mehr besteht (vgl. OLG Düsseldorf, a.a.O.). Auch vor dem Hintergrund der zahlreichen Vorstrafen des Angeschuldigten — die Auskunft des Bundesamtes für Justiz und aus dem Erziehungsregister vom 08. März 2022 weist 23 (teilweise einschlägige) Eintragungen aus, wobei der Angeschuldigte wegen einschlägiger Taten bereits mehrfach zu Haftstrafen verurteilt wurde —, lässt die Begründung des Beschlusses des Amtsgerichts Quedlinburg vom 29. März 2022 nicht erkennen, dass dieser Umstand im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt bzw. warum diesbezüglich ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO verneint wurde.
Entgegen § 309 Abs. 2 StPO ist die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an das Amtsgericht Quedlinburg zurückzuverweisen, um diesem die Möglichkeit zu geben, das ihm durch § 140 Abs. 3 Satz 1 StPO eingeräumte Ermessen rechtsfehlerfrei auszuüben (vgl. OLG Düsseldorf, a.a.O.; Beschluss der Kammer v. 07. Juli 2021 — 25 Qs 743 Js 41625/18 (49/21)).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO analog.


Einsender: RA J.-R. Funck, Braunschweig

Anmerkung:


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