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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Schwere der Tat, Gesamtstrafe

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Bonn, Beschl. v. 01.03.2022 - 63 Qs 7/22

Eigener Leitsatz: 1. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers kommt nach Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht. Dies kann im Einzelfall anders zu beurteilen sein, etwa wenn der Abweisung des Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers eine sachlich nicht gerechtfertigte, erhebliche Verzögerung der Verfahrensbehandlung vorausgegangen ist.
2. Bei einer Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist - auch wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden sollte - regelmäßig von einer Schwere der Tat i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO auszugehen.


Landgericht Bonn

Beschluss

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.

Verteidiger: ,

hat die 13. große Strafkammer des Landgerichts Bonn auf die sofortige Beschwerde des vormaligen Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bonn vom 30.12.2021 - Az: 50 Gs 2148/21 - durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, den Richter am Landgericht und die Richterin am Landgericht am 01.03.2022 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde des vormaligen Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Bonn vom 30.12.2021 aufgehoben und dem vormaligen Beschuldigten Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des vormaligen Beschuldigten werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

I.

Die Staatsanwaltschaft Bonn führte unter dem im Rubrum genannten staatsanwaltschaftlichen Aktenzeichen gegen den vormaligen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Nötigung nach § 240 StGB und der Bedrohung nach § 241 StGB, begangen am 23.03.2021 (BI. 1 ff. d.A.).

Mit Verfügung vom 25.06.2021 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen unbekannten Aufenthalts des vormaligen Beschuldigten nach § 154f StPO ein (BI. 16 d.A.).

Ende August/Anfang September 2021 machte der Leitende Oberstaatsanwalt in Bonn die Dezernenten seiner Behörde auf die Neuregelung des § 141 StPO aufmerksam und hielt zu dessen Beachtung an (BI. 146 f. d.A.).

Unter dem 30.08.2021 beantragte der Verteidiger des vormaligen Beschuldigten, ihm seinen Verteidiger unter Hinweis auf eine Verurteilung in dem Verfahren vor dem Amtsgericht Siegburg, damals nicht rechtskräftiges Urteil vom 21.04.2021 — 215 Ds-556 Js 128/19-160/20 —, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und elf Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung als Pflichtverteidiger beizuordnen (BI. 24 f. d.A.). Die Staatsanwaltschaft trat dem Antrag bei (BI. 27 d.A.). Den Antrag wies das Amtsgericht mit Beschluss vom 07.09.2021 (BI. 28 d.A.) zurück, wogegen der vormalige Beschuldigte sofortige Beschwerde einlegte, welche die Kammer mit Beschluss vom 08.10.2021 (BI. 47 ff. d.A.) im Hinblick auf die erfolgte Einstellung abschlägig beschied. In dem Beschluss führte die Kammer aus:

„Das Bedürfnis einer Vertretung durch einen Pflichtverteidiger besteht daher - derzeit nicht. Dabei werden die Staatsanwaltschaft und die betroffenen Gerichte in jeder Lage des Verfahrens, insbesondere bei dem Erfordernis, weitere Beweise zu sichern, zu prüfen haben, ob die Bestellung eines Pflichtverteidigers nunmehr erforderlich ist."
[Hervorhebung durch die Kammer].

Der Verteidiger des vormaligen Beschuldigten teilte unter dem 03.11.2021 (BI. 59 d.A.) die neue Anschrift des vormaligen Beschuldigten mit und die Staatsanwaltschaft nahm das Verfahren — zumindest konkludent — wieder auf und teilte dem Verteidiger mit Schreiben vom 15.11.2021 mit, dass einer etwaigen Einlassung bis zum 10.12.2021 entgegen gesehen werde (BI. 66 f. d.A.). Bereits mit Schreiben vom 03.12.2021 wiederholte der Verteidiger den Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers, wies auf die bereits erfolgte, vorstehend genannte (damals noch nicht rechtskräftige) Verurteilung durch das Amtsgericht Siegburg hin. Mit Verfügung vom 07.12.2021 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren im Hinblick auf die vorstehende Verurteilung gemäß § 154 Abs. 1 StPO ein und teilt dem vormaligen Beschuldigten mit an seinen Verteidiger gerichteten Schreiben vom selben Tag mit, dass sich im Hinblick auf die Einstellung der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers erledigt haben dürfte (BI. 75 f. d.A.). Dem widersprach der Verteidiger und beantragte gerichtliche Entscheidung. Das Amtsgericht Bonn lehnte den Antrag auf Beiordnung des Verteidigers als Pflichtverteidiger ab, da das Verfahren bereits eingestellt worden ist (BI. 86 d.A.).

Gegen diesen Beschluss legte der vormalige Beschuldigte mit Schreiben seines Verteidigers vom 11.01.2022 sofortige Beschwerde ein (BI. 101 d.A.) und begründete diese mit Schreiben vom 14.02.2022 (BI. 125 ff. d.A.).
Die zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen amtsgerichtlichen Beschlusses und Bestellung des Verteidigers als Pflichtverteidiger.

II.

1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig.

Die sofortige Beschwerde ist form- und fristgerecht erhoben und es liegt insbesondere die erforderliche Beschwer vor.

Im Ausgangspunkt zutreffend stellt das Amtsgericht fest, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt. Dies entspricht der gefestigten Kammerrechtsprechung (vgl. Kammerbeschlüsse vom 14.05.2021 — 63 Qs 33/21, BeckRS 2021, 30414; vom 19.07.2021 — 63 Qs 51/21, BeckRS 2021, 27463). Denn im Falle einer Einstellung des Verfahrens, sei es auch nur nach § 154 StPO, kann das Ziel, dem Beschuldigten eine angemessene Rechtsverteidigung zu ermöglichen, nicht mehr erreicht werden (Kammerbeschluss vom 14.05.2021 — 63 Qs 33/21, Tz. 16, BeckRS 2021, 30414).

Insoweit folgt für das Beschwerdeverfahren, dass es hierfür grundsätzlich an einer Beschwer fehlt.

Wie die Kammer aber in g|eichsam gefestigter Rechtsprechung ausgeführt hat, kann dies im Einzelfall dann anders zu beurteilen sein, etwa wenn der Abweisung des Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers eine sachlich nicht gerechtfertigte, erhebliche Verzögerung der Verfahrensbehandlung vorausgegangen ist (Kammerbeschlüsse vom 14.05.20221 – 63 Ws 33/21, BeckRS 2021, 30414; vom 19.07.2021 – 63 Qs 51/21, BeckRS 2021 27463; vom 21.01.2022 – 62 Qs 3/22).

Ein solcher Ausnahmefall ist hier gegeben.

Denn die Staatsanwaltschaft hatte bereits mit Mitteilung der neuen Anschrift am 03.11.2021 – unter Berücksichtigung des Beschlusses der Kammer vom 08.10.2021 - Kenntnis von dem Vorliegen der Voraussetzungen für eine Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO. Den ursprünglichen Antrag des vormaligen Beschuldigten hatte sie auch unterstützt.

Nach § 142 Abs. 1 S. 2 StPO wäre die Akte mit dem Antrag unverzüglich dem Amtsgericht zur Entscheidung vorzulegen gewesen. Hingegen muss die Entscheidung nicht sofort getroffen werden, aber so zügig, dass die Verfahrensrechte des Beschuldigten gewahrt werden (BT-Drs. 18/13829. a.a.O.). Der Staatsanwaltschaft war es insoweit zuzubilligen, sich noch Eingang des Schreibens vom 03.11.2021 über den weiteren Fortgang des Verfahrens zu entschließen.

Zwar kommt in § 142 Abs. 2 S. 3 StPO der gesetzgeberische Wille zum Ausdruck, dass es in bestimmten Fällen, in denen ein Pflichtverteidiger zu bestellen wäre, einer Bestellung nicht bedarf, wenn die Staatsanwaltschaft lediglich noch die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vornimmt, um sodann das \/erfahren einzustellen. Unabhängig davon, ob dieser Wille auch auf andere Konstellationen, insbesondere § 142 Abs. 1 StPO übertragen werden kann, was die Kammer nicht entscheiden muss, hat die Staatsanwaltschaft nicht bloß solche Handlungen vorgenommen oder die Akte der Verteidigung zur Akteneinsicht übersandt. Denn Sie ist vorliegend in der Sache selbst tätig geworden, indem sie mit Schreiben vom 15.11.2021 denn Verteidiger Gelegenheit zur Abgabe einer Einlassung gegeben und damit mehr veranlasst hat. Der Verteidiger musste aufgrund der Aufforderung vorn 15.11.2021 davon ausgehen, dass die Staatsanwaltschaft trotz der (noch nicht rechtskräftigen) Verurteilung vom 21.04.2021 das hiesige Verfahren weiter betreiben wolle. Er musste daher auch mit Eingang des Schreibens der Staatsanwaltschaft prüfen, wie sich der vormalige Beschuldigte in Bezug auf das hiesige Verfahren verteidigen werde. Vielmehr hätte es im Falle einer beabsichtigten Einstellung im Hinblick auf die Verurteilung vom 21.04.2021 nach Eingang der Adressmitteilung nahe gelegen, das Verfahren umgehend nach § 154 Abs. 1 StPO einzustellen.

Gemessen hieran handelt es sich bei der gegebenen Sachlage, dass die Voraussetzungen für eine Bestellung aufgrund der bekannten Verurteilung durch das Amtsgericht Siegburg und der zu erwartenden Gesamtfreiheitsstrafe ganz offensichtlich vorlagen und gleichwohl die Akte nicht mit dem Antrag an das Amtsgericht übersandt worden ist, dem vormaligen Beschuldigten einen Pflichtverteidiger zu bestellen, um eine sachlich unbegründete, erhebliche Verzögerung, die vorliegend — auch im Lichte der Information durch den Leitenden Oberstaatsanwalt in Bonn — so schwer wiegt, dass dem vormaligen Beschuldigten ausnahmsweise ein Fortdauern der Beschwer zuzubilligen ist.

Dessen ungeachtet merkt die Kammer auf die Beschwerde noch folgendes an:

Eine bewusst gesetzeswidrige, mithin auch vorsätzlich willkürliche oder den Straftatbestand des § 339 StGB erfüllende Sachbehandlung, wie sie der Verteidiger dem Dezernenten der Staatsanwaltschaft vorwirft, vermag die Kammer nicht zu erkennen.

2.

Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.

a) Nach § 140 Abs. 2 StPO ist dem Beschuldigten u.a. dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn aufgrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Weil es im Rahmen von § 140 Abs. 2 StPO u.a. maßgeblich auf die Bedeutung des Verfahrens für den Angeklagten ankommt, ist die Schwere der Tat nach sämtlichen zu erwartenden Rechtsfolgen - also neben einer etwaigen Freiheitsstrafe auch mögliche Maßregeln der Sicherung und Besserung, Nebenfolgen oder mittelbare Nachteile - unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des spezifischen Einzelfalles zu bestimmen. Bei einer Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist - auch wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden sollte - regelmäßig von einer Schwere der Tat i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO auszugehen (OLG Hamm, Beschluss vom 29.01.2004 — 3 Ss 15/04; OLG Frankfurt/Main, Beschluss vom 11.07.2003 — 3 Ws 805/03; OLG Brandenburg, Urteil vom 11.04.2000 — 2 Ss 19/00; KG, Beschluss vom 22.01.1998 —1 Ss 338/97, alle abrufbar unter juris).

Diese Voraussetzungen waren hier gegeben. Denn der vormalige Beschuldigte ist - wie sein Verteidiger zu Recht bemerkt - zwischenzeitlich rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und elf Monaten verurteilt worden. Die durch das Amtsgericht erfolgte Verurteilung vom 21.04.2021 ist mit der hier in Rede stehenden Tat gemäß §§ 53 ff. StGB gesamtstrafenfähig und es wäre im Wege der Gesamtstrafenbildung mit einer Freiheitsstrafe von deutlich über einem Jahr zu rechnen.

b) In der Rechtsfolge war dem Antrag des vormaligen Beschuldigten zu entsprechen und ihm sein Verteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen.

Die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit kam unter den gegebenen Umständen nicht in Betracht. Denn dies würde dem vormaligen Beschuldigten lediglich den Nachweis des Vorliegens einer Amtspflichtverletzung im Rahmen eines Schadensersatzanspruchs nach § 839 BGB/Art. 34 GG vermitteln. Vielmehr war der Verletzung der Verfahrensrechte des vormaligen Beschuldigten durch die Bestellung seines Verteidigers als Pflichtverteidiger Rechnung zu tragen.

3. Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.


Einsender: RA Dr. P.-R. Gülpen, Troisdorf

Anmerkung:


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