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Entscheidungen

StPO

Durchsuchung, Wegfall des Anfangsverdachts

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 27.05.2022 – 12 Qs 24/22

Leitsatz des Gerichts: 1. Wird im Fortgang des Ermittlungsverfahrens der Anfangsverdacht, der den Erlass des Durchsuchungsbeschlusses begründet hatte, wieder beseitigt, so ist die Fortführung der Durchsuchung in Form der Durchsicht der aufgefundenen Unterlagen rechtswidrig.
2. Zur Begründung des Anfangsverdachts beim vorgeblich groß angelegten ärztlichen Abrechnungsbetrug.


In pp.

1. Der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 17. Dezember 2021 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 27. April 2022 wird aufgehoben.
2. Auf der Grundlage dieses Beschlusses sichergestellte Unterlagen und sonstige Asservate sind unverzüglich an den Beschwerdeführer zurückzugeben. Gesicherte Daten, die sich im Polizeigewahrsam befinden, sind zu löschen.
3. Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die notwendigen Auslagen des Beschuldigten

Gründe

I.

Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg (GenStA) führt ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten, einen Arzt, wegen des Verdachts des Abrechnungsbetruges. Dem Beschuldigten liegt zur Last, in den Quartalen 04/2020 sowie 01/2021 nicht oder nicht selbst erbrachte Leistungen an Kassenpatienten gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB) zu Unrecht abgerechnet zu haben.

Das Amtsgericht Nürnberg - Ermittlungsrichter - erließ am 17. Dezember 2021 antragsgemäß einen (am 27. April 2022 berichtigten) Durchsuchungsbeschluss für u.a. die Räume der Praxis des Beschuldigten. Es ordnete darin die Durchsuchung nach folgenden Gegenständen an:

a) Sämtliche Patientenunterlagen, die gesetzlich versicherte Patienten betreffen und die Aufschluss darüber geben können, welche Leistungen im Zeitraum vom 1. Januar 2018 bis heute gegenüber diesen Patienten erbracht wurden, insbesondere entsprechende Personalbögen, Patientenkarteikarten, Behandlungsblätter, Arztbriefe, Befundberichte etc.

b) Sämtliche Unterlagen, die eine Zuordnung der oben bezeichneten Leistungen zu in der Praxis tätigen Ärzten bzw. Ärztinnen ermöglichen und Aufschluss darüber geben können, welcher Arzt bzw. welche Ärztin Leistungen im Zeitraum vom 1. Januar 2018 bis heute gegenüber gesetzlich versicherten Patienten erbracht hat, insbesondere Terminkalender, Dienstpläne, Urlaubspläne etc.

c) Sämtliche Unterlagen, welche Aufschluss über den Zeitpunkt der Aufnahme der Tätigkeiten in der Praxis des Beschuldigten des Dr. … und des A geben können, insbesondere Verträge, Lohnunterlagen etc.

d) Daten aus den Benutzer-Profilen des Praxis-PCs (verfasste Dokumente, E-Mail-Korrespondenz zwischen dem Beschuldigten und seinen Angestellten, Schriftverkehr, Weisungen)

e) Unterlagen über die finanziellen Verhältnisse des Beschuldigten, insbesondere Kontounterlagen, Steuerunterlagen, Rechnungen, Ausgabenbelege etc.

f) Sämtliche elektronisch gespeicherten Daten, welche die in den vorstehenden Ziffern bezeichneten Informationen enthalten, auch soweit diese nur durch Sachverständige lesbar gemacht werden können, einschließlich den für die Erfassung und Bearbeitung dieser Daten durch den Beschuldigten und seine Mitarbeiter verwendeten Computerprogrammen

g) Computer und EDV-Anlagen sowie elektronische Speichermedien und Datenträger (einschließlich Mobiltelefonen) sowie sämtliche technische Hilfsmittel (insbesondere Computerprogramme, PINs/Passwörter), soweit sie erforderlich sind, um die Auslesung der vorgenannten elektronischen Daten sicherzustellen.

Den Tatverdacht stützte das Amtsgericht neben einer Auskunft der KVB darauf, dass nach Aussage der Zeugin C der Beschuldigte am 21. Dezember 2020 durch den Arzt A für die Zeugin erbrachte Leistungen als durch ihn erbrachte Leistungen abgerechnet habe. Darüber hinaus habe er – wiederum gestützt auf die Aussage der Zeugin C – unter dem Leistungsdatum 23. März 2021 eine verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen mit einer Dauer von mindestens 15 Minuten (GOP 35110) abgerechnet, die er tatsächlich nicht erbracht habe.

Die Durchsuchung fand am 28. April 2022 statt. Dabei führten die Ermittlungsbeamten eine Datensicherung durch und nahmen diverse schriftliche Unterlagen zur Durchsicht mit.

Gegen den Durchsuchungsbeschluss legte der Verteidiger des Beschuldigten mit Schreiben vom 28. April 2022 Beschwerde ein; zuletzt beantragte er mit Schriftsatz vom 12. Mai 2022, die Sicherstellung der mitgenommenen Gegenstände aufzuheben und diese an den Beschuldigten wieder herauszugeben. Das Amtsgericht Nürnberg half der Beschwerde nicht ab. Die GenStA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft und auch sonst zulässig erhoben. Sie hat in der Sache Erfolg.

1. Eine Durchsuchungsanordnung gem. § 102 StPO setzt einen durch Tatsachen konkretisierten Verdacht voraus, dass eine Straftat begangen worden ist und der Verdächtige als deren Täter oder Teilnehmer in Betracht kommt. Für das später mit der Überprüfung des Durchsuchungsbeschlusses befasste Beschwerdegericht ist grundsätzlich ebenfalls die Sach- und Rechtslage zur Zeit seines Erlasses maßgeblich, wie sie dem Ermittlungsrichter bei seiner Entscheidung vorlag (BVerfG, Beschluss vom 10. September 2010 - 2 BvR 2561/08, juris Rn. 28; Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 105 Rn. 15a). Wird aber im weiteren Ermittlungsverfahren etwa durch die Vorlage neuer Beweismittel der Anfangsverdacht wieder beseitigt, so ist die Fortführung der Durchsuchung in Form der Durchsicht der aufgefundenen Unterlagen rechtswidrig (BVerfG, Beschluss vom 18. März 2009 - 2 BvR 1036/08, juris Rn. 54; BGH, Beschluss vom 23. November 1987 - 1 BGs 517/87, CR 1988, 142, 143; LG Leipzig, Beschluss vom 6. Juni 2008 - 5 Qs 18/08, juris Rn. 15 ff.).

Hiervon ausgehend hat sich der – nach Aktenlage zunächst gegebene – Anfangsverdacht erledigt, der auf der Aussage der Zeugin C beruhte, sie sei am 21. Dezember 2020 vom Arzt A behandelt worden, der aber erst zum 1. Februar 2021 als Weiterbildungsassistent beim Beschuldigten eingestellt wurde. Aus den von der Verteidigung vorgelegten Unterlagen ergibt sich, dass A zum 1. Februar 2021 überhaupt erst beim Beschuldigten eingestellt wurde und dass die Zeugin am 21. Dezember 2020 nicht von A, sondern von Dr. L behandelt worden ist, der – wie vorgelegte Lichtbilder belegen – A allerdings recht ähnlich sieht. Dr. L war ausweislich der vorgelegten Dokumente beim Beschuldigten zunächst als Weiterbildungsassistent und im Dezember 2020 dann als Sicherstellungsassistent beschäftigt, weshalb seine Leistungen nach den Bestimmungen der KVB auch unter der lebenslangen Arztnummer (LANR) des Beschuldigten abgerechnet werden durften. Sicherstellungsassistenten sind nämlich keine eigenständigen Leistungserbringer. Sie werden nur für den anstellenden Arzt tätig und verwenden daher immer dessen LANR bei der Abrechnung (vgl. das Merkblatt der KVB „Informationen zum Thema Verwendung der Arzt- und Betriebsstättennummern“, Stand 16. November 2012, abrufbar unter www.kvb.de).

2. Hinsichtlich des weiteren Verdachtsmoments, der Beschuldigte habe eine am 23. März 2021 nicht erbrachte Leistung abgerechnet, rechtfertigt ein möglicherweise bestehender Anfangsverdacht die Durchsuchung nicht.

Unter der streitigen Abrechnungsziffer GOP 35110 kann eine verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen unter systematischer Nutzung der Arzt-Patienten-Interaktion für eine Dauer von mindestens 15 Minuten abgerechnet werden. Der Beschuldigte hat eine Zusatzweiterbildung in Psychotherapie absolviert, sodass die Kammer keinen Anhaltspunkt dafür hat, es habe ihm die erforderliche fachliche Qualifikation zur Erbringung psychosomatischer Leistungen gemäß § 5 Abs. 6 der Psychotherapie-Vereinbarung (Anlage 1 zum Bundesmantelvertrag-Ärzte) gefehlt, um nach GOP 35110 abrechenbare Leistungen zu erbringen. Derlei behauptet auch die GenStA nicht. Bereits aus der Aussage der Zeugin C kann allerdings nicht gefolgert werden, es habe keine verbale Intervention durch den Beschuldigten stattgefunden. Diese gab an, am 15. März 2021 durch den Beschuldigten operiert worden zu sein und in diesem Zusammenhang auch mit ihm gesprochen zu haben. Zur Dauer des Gesprächs machte sie keine Angaben. Es ist also möglich, dass dieses Gespräch vom 15. März 2021 die Voraussetzungen von GOP 35110 erfüllt hat. Allerdings wurde diese Ziffer ausweislich der Auskunft der KVB nicht für den 15. März 2021 abgerechnet, sondern für den 23. März 2021. Für diesen Tag behauptet die Zeugin, mit keinem Arzt gesprochen zu haben. Hält man diese Aussage für belastbar, lautet der Vorwurf an den Beschuldigten nicht, nicht erbrachte Leistungen abgerechnet zu haben, sondern erbrachte Leistungen unter einem falschen Datum abgerechnet zu haben.

Ob dieser Mangel abrechnungsrelevant wäre (dazu nachfolgend unter III) und deshalb bei der anzulegenden streng formalen Betrachtungsweise des Sozialversicherungsrechts (vgl. BGH, Urteil vom 19. August 2020 - 5 StR 558/19, juris Rn. 47 ff.; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 10. März 2022 - 12 Qs 6/22, juris Rn. 14) ein Schaden entstanden sein kann, mag dahinstehen. Denn selbst wenn eine Falschabrechnung vorläge, wäre die durchgeführte Durchsuchung nicht verhältnismäßig (zu dieser Anforderung BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2008 - 2 BvR 1219/07, juris Rn. 13; Burhoff, Handbuch Ermittlungsverfahren, 9. Aufl., Rn. 1820 m.w.N.). In der Sache geht es um einen Schaden von 21,74 €. Die für die strafrechtliche Beurteilung maßgeblichen Umstände lagen auch ohne Durchsuchung schon vor: die Aussage der Zeugin C und die Mitteilung der KVB darüber, für welche Tage welche Gebührenziffern unter welcher LANR abgerechnet wurden. Welche zusätzlichen Erkenntnisse hätte die Durchsuchung insoweit zutage fördern sollen?

3. Allerdings meint die GenStA, und ihr folgend das Amtsgericht, aus den unter 1 und 2 referierten Verdachtsmomenten lasse sich folgern, der Beschuldigte habe auch in einer Vielzahl weiterer Fälle, bei einer Vielzahl derzeit noch unbekannter gesetzlich Versicherter nicht oder nicht durch ihn selbst erbrachte Leistungen abgerechnet. Aus diesem Grunde sieht sie einen dahingehenden Anfangsverdacht als gegeben und die Durchsuchung nach Unterlagen in dem sehr weiten Umfang – wie unter I dargelegt – als gerechtfertigt an. Dem folgt die Kammer nicht.

a) Es handelt sich beim Anfangsverdacht um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der gerichtlich überprüfbar ist. Allerdings besteht dabei ein Beurteilungsspielraum, der dem Staatsanwalt bei der Subsumtion des konkreten Sachverhalts einen gewissen Freiraum lässt, eigenverantwortlich seine Entscheidung auf der Basis seiner persönlichen kriminalistisch-forensischen Erfahrungen und subjektiven Bewertungen zu treffen. Eine danach als vertretbar zu wertende Einschätzung des Sachverhalts ist deshalb vom Gericht hinzunehmen (BGH, Urteil vom 21. April 1988 - III ZR 255/86, juris Rn. 20 ff.; Herrmann in Heghmanns/Herrmann, Das Arbeitsgebiet des Staatsanwalts, 6. Aufl., Rn. 258; strenger Eisenberg/Conen, NJW 1998, 2241, 2248 f.; allgemein auch Kment/Vorwalter, JuS 2015, 193, 196 ff.).

b) Diese Grenze der Vertretbarkeit ist vorliegend überschritten. Das Indiz unter 1 hat sich erledigt. Aber selbst, wenn man es noch in die Betrachtung einbezöge, so lägen zwei unterschiedlich geartete Abrechnungsfehler vor, die eine systematische, über die Einzelfälle hinausweisende Falschabrechnungspraxis nicht aufzeigen oder auch nur andeuten. Beim Indiz unter 2 ist darüber hinaus zu sehen, dass – vorsätzliches Handeln unterstellt – die kriminelle Energie eher gering scheint. Denn auch wenn es bei der streng formalen Betrachtungsweise für die Erfüllung des Betrugstatbestandes keinen Unterschied macht, ob eine gar nicht erbrachte Leistung abgerechnet wird oder eine erbrachte Leistung nur fehlerhaft verbucht wird, ist der Unterschied bei der Bewertung der kriminellen Energie signifikant. Die These der GenStA läuft im gegebenen Fall darauf hinaus, bloße Vermutungen und Spekulationen zur Grundlage für einen weitgehenden Grundrechtseingriff zu machen, was unzulässig ist (BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 2011 - 2 BvR 1774/10, juris Rn. 25). Denn, dass Falschabrechnungen stattfinden – teils vorsätzlich, teils irrig – ist so bedauerlich wie ubiquitär. Wenn aber hier schon das Auffinden zweier unterschiedlicher Abrechnungsfehler in zwei Quartalen es rechtfertigen soll, den Generalverdacht der Falschabrechnung für die letzten Jahre zu konstruieren und auf dieser Grundlage beim Beschuldigten umfangreich Material zu sichern, so entfernt sich das allzu weit vom schwachen tatsächlichen Ausgangspunkt. Die Durchsuchung soll einen gegebenen Tatverdacht belegen, nicht erst die Tatsachen herbeischaffen, um ihn zu begründen (BVerfG, Beschluss vom 13. März 2014 - 2 BvR 974/12, juris Rn. 17).

III.

Die Kammer weist ergänzend auf Folgendes hin: Die schlüssige Behauptung eines Abrechnungsbetrugs im Vertragsarztbereich setzt regelmäßig voraus, dass die für die Abrechnung maßgeblichen Verträge und Regelwerke in den fallrelevanten Auszügen Bestandteil der Akte werden. Anders mag es in trivialen Fällen sein, namentlich wenn es nur um die Abrechnung nicht erbrachter Leistungen geht. So hätte hier belegt werden müssen, woraus sich die abrechnungsrechtliche Relevanz der taggenauen Abrechnung ergibt. Liegen die maßgeblichen (und nicht gerichtsbekannten) Regelwerke nicht der Akte bei und sind sie nicht im Internet frei abrufbar – zahlreiche Verträge aus dem Bereich der KVB sind nicht frei zugänglich –, kann die Beschwerdekammer schwerlich annehmen, der Ermittlungsrichter habe bei Erlass des Durchsuchungsbeschlusses einen schlüssig dargelegten Verdacht i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO vor sich gehabt. Der schlanke Hinweis der GenStA in der Zuschrift vom 18. Mai 2022 auf die vom Bundessozialgericht postulierte „Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung“ ersetzt die Darlegung der Abrechnungsgrundlagen nicht (vgl. auch LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 10. März 2022 - 12 Qs 6/22, juris Rn. 11).

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 465 StPO analog.


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