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Entscheidungen

StPO

Akteneinsicht, Nebenklägerin, Gefährdung des Untersuchungszwecks

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Berlin, Beschl. v. 21.04.2022 - 511 Qs 36/22

Eigener Leitsatz: Die Rolle des Nebenklägers als Zeuge im Strafverfahren und die deshalb durch das Akteneinsichtsrecht grundsätzlich eröffnete Möglichkeit einer "Präparierung seiner Aussage anhand des Akteninhalts reichen für eine Versagung der Akteneinsicht nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine Gefährdung der gerichtlichen Wahrheitsfindung. Hinsichtlich der Beurteilung der Gefährdung besteht seitens des entscheidenden Gerichts ein weiter Entscheidungsspielraum.


Landgericht Berlin

Beschluss
511 Qs 36/22

In der Strafsache
gegen pp.

Verteidiger

hier nur betreffend
die Nebenklägerin
Nebenklagevertreterin: Rechtsanwältin G

wegen sexueller Nötigung, Vergewaltigung u.a.

hat die 11. grolle Strafkammer des Landgerichts Berlin am 21.April 2022 beschlossen:

1. Auf die Beschwerde der Nebenklägerin wird der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 24. März 2022 betreffend diese Nebenklägerin aufgehoben und dieser über ihre Vertreterin Rechtsanwältin G Akteneinsicht gewährt,
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe;

I.

Am 27, Juni 2020 erstattete die Geschädigte pp. Anzeige gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfs einer vom 24. November 2019 bis zum 25. November 2019 begangenen Körperverletzung sowie einer vom 14. Februar 2020 bis zum 15. Februar 2020 begangenen Vergewaltigung. Den Vorwurf der Vergewaltigung hat die Geschädigte Anfang März 2021 in einer mehrstündigen polizeilichen Vernehmung ausführlich geschildert.

Nach erfolgter Akteneinsicht bestritt der Angeklagte in einer von seinem Verteidiger eingereichten schriftlichen Einlassung vom 19. Mai 2021 den Vorwurf der Vergewaltigung. Weitere unmittelbare Tatzeugen konnten nicht ermittelt werden.

Mit Beschluss vorn 18. Januar 2022 ließ das Amtsgericht Tiergarten die Anklagen der Staatsanwaltschaft Berlin vom 10. Juli 2019 (Vorwurf der Vergewaltigung betreffend die Geschädigte pp., der Amtsanwaltschaft Berlin vom 23. Februar 2021 (Vorwurf der Körperverletzung betreffend die Geschädigte pp.) sowie der Staatsanwaltschaft vom 15, Juni 2021 (Vorwurf der Vergewaltigung betreffend die Geschädigte pp.) unter Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Amtsgericht Tiergarten — Schöffengericht - zur Hauptverhandlung zu.

Mit Schriftsatz vom 20. Februar 2022 beantragte Rechtsanwältin G. die Geschädigte pp.
als Nebenklägerin zuzulassen, sie — Rechtsanwältin .G — als deren Beistand zu bestellen sowie ihr Akteneinsicht zu gewähren.

Mit Beschluss vom 25, Februa 2022 ließ das Amtsgericht Tiergarten die Geschädigte als Nebenklägerin zu und bestellte Rechtsanwältin G als Beistand.

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 24. März 2022 lehnte das Amtsgericht die Anträge auf Akteneinsicht durch die Nebenklagevertreterinnen Rechtsanwältin G und Rechtsanwältin pp. (für die Nebenklägerin pp. mit der Begründung ab, dass eine „Aussage gegen Aussage" Konstellation vorliege, außer dem 'bestreitenden Angeklagten und den Nebenklägerinnen keine weiteren Personen unmittelbare Wahrnehmungen zu den Tatvorwürfen hätten schildern können und eine Aktenkenntnis der Nebenklägerinnen die Prüfung der Aussagekonstanz erschwere bzw. verhindere.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Nebenklagevertreterin Rechtsanwältin G.

Die Staatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme beantragt, den Beschluss aufzuheben und Rechtsanwältin G. unbeschrankte Akteneinsicht zu gewähren.

II.

Das Amtsgericht Tiergarten hat die beantragte Akteneinsicht der Nebenklagevertreterin Rechtsanwältin G zu Unrecht abgelehnt.

Zwar kann die Akteneinsicht der Nebenklägerin gemäß § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO versagt werden, soweit der Untersuchungszweck hierdurch gefährdet erscheint. Dies ist namentlich anzunehmen, wenn zu befürchten ist, dass bei Gewährung der Akteneinsicht die Sachaufklärung beeinträchtigt wird.

Die Rolle des Nebenklägers als Zeuge im Strafverfahren und die deshalb durch das Akteneinsichtsrecht grundsätzlich eröffnete Möglichkeit einer „Präparierung" der Aussage anhand des Akteninhalts reichen jedoch für eine Versagung der Akteneinsicht nicht aus (vgl. KG, Beschluss vom 5. Oktober 2015, 4 Ws 83/15). Denn zum einen geht mit der Wahrnehmung des gesetzlich eingeräumten Akteneinsichtsrechts nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher. Zum anderen würde durch die generalisierende Annahme, dass mit Akteneinsicht durch den Nebenklägervertreter die Glaubhaftigkeit der Angaben des Nebenklägers stets in besonderer Weise in Zweifel zu ziehen sei, seine freie Entscheidung, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2016, 5 StR 40116); gerade denjenigen, die Opfer einer Straftat geworden sind, würden damit die Schutzfunktionen der §§ 406d ff. StPO entzogen (vgl. KG, Beschluss vom 2. Oktober 2015, 2 Ws 83/16).

Hinsichtlich der Beurteilung der Gefährdung besteht seitens des entscheidenden Gerichts auch ein weiter Entscheidungsspielraum (vgl. KG, Beschluss vorn 21. November 2018, 3 Ws 278/18, m.w.N.). Maßgeblich für die Prüfung der Gefährdung des Untersuchungszwecks ist deshalb stets eine Würdigung der Verfahrens- und Rechtslage im Einzelfall (vgl. KG aaO).

Vorliegend ist zwar eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation gegeben, denn abgesehen von den belastenden Angaben der Nebenklägerin H. in ihrer Strafanzeige und ihren Vernehmungen finden sich in der Verfahrensakte keine weiteren Beweismittel, die das unmittelbare Tatgeschehen betreffen.

Die Ausübung des auf der Rechtsfolgenseite eröffneten Ermessens führt jedoch im vorliegenden Fall dazu, dass die Akteneinsicht dennoch im vollen Umfang zu gewähren war.

Die Akteneinsicht durch die Nebenklagevertreterin gefährdet die gerichtliche Wahrheitsfindung vorliegend nicht in dem Maße, dass die Akteneinsicht deshalb ganz oder teilweise zu versagen wäre. Dabei waren im Rahmen der Ermessensausübung der Grad der Gefährdung der gerichtlichen Wahrheitsermittlung und der Gefährdung der Freiheitsrechte des Angeklagten gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs. 1 GG als Ausfluss dieser gegen die Informationsrechte der Nebenklägerin sowie ihre Rechte auf Fürsorge, Gleichbehandlung und Schutz ihrer Menschenwürde abzuwägen (vgl. OLG Braunschweig, NStZ 2016, 629).

Nach diesen Maßstäben sind die. Voraussetzungen des § 406e Abs. 2 Satz 1 StPO nicht erfüllt. Dem Interesse der nach Aktenlage einer Vergewaltigung ausgesetzten Nebenklägerin an der Akteneinsicht kommt ein hohes Gewicht zu, zumal unter Umständen zivilrechtliche Ansprüche —etwa Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche — durchgesetzt werden müssen. Schließlich sind bei der Abwägung der Interessen auch die besonderen Verfahrensrechte eines Nebenklägers im Strafprozess zu berücksichtigen, die über diejenigen eines bloßen „Verletzten", für den § 40ee Abs. 2 Satz 1 StPO auch und unmittelbar Anwendung findet, weit hinausgehen. Ein Überwiegen des Geheimhaltungsinteresses des Angeklagten kann danach nicht festgestellt werden.

Aufgrund der Gefährdung des Ermittlungserfolges kann nach der Gesetzesbegründung die Akteneinsicht in nur „sehr seltenen" Ausnahmefällen beschränkt werden, als Beispiel wird der selbst einer Tatbeteiligung verdächtige Angehörige eines Getöteten genannt (Vgl. BT-Drs. 16/13671; Seite 1). Ein derart seltener Ausnahmefall, in dem die Gefährdung des Ermittlungserfolges Vorrang vor dem Informationsinteresse des Nebenklägers hat, liegt vorliegend ersichtlich nicht vor.

Desweiteren wird die Gefahr, die die Gewährung der Akteneinsicht für die gerichtliche Wahrheitsfindung darstellt, vorliegend dadurch gemindert, dass die Nebenklagevertreterin anwaltlich versichert hat, dass sie die Verfahrensakte ihrer Mandantin nicht zu Kenntnisnahme überlassen werde. Zwar ist die Einhaltung dieser Zusicherung nicht durchsetzbar. Das Gericht darf jedoch grundsätzlich auf die Integrität und Zuverlässigkeit eines Rechtsanwaltes als vertrauenswürdiges Organ der Rechtspflege vertrauen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 21. März, 2002, 1 BvR 2119/01; OLG Braunschweig aaO), zumal das Gericht die zur Wahrheit verpflichtete Nebenklägerin im Rahmen der Hauptverhandlung auch danach befragen kann, ob sie im Vorfeld Zugang zu dem. Inhalt ihrer vorherigen Vernehmungen hatte.

Zudem kann der Sachaufklärung und Wahrheitsfindung im Übrigen weiterhin dadurch ausreichend Rechnung getragen werden, dass der Umstand der umfassenden Akteneinsicht der Nebenklägerin und eine hierdurch mögliche Anpassung der Aussage erforderlichenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung ihrer Zeugenaussage berücksichtigt wird (vgl. KG aaO).

Die Stellungnahme des Verteidigers vom 20. April 2022 führt zu keiner anderen Bewertung und Entscheidung. Die Kosten waren analog § 467 Abs. 1 StPO der Landeskasse Berlin aufzuerlegen, weil sonst niemand dafür haftet.


Einsender: RA M. Laudon, Hamburg

Anmerkung:


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