Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Dresden, Beschl. v. 06.04.2022 2 Ws 93/22
Leitsatz des Gerichts: 1. Das "Gebot bestmöglicher Sachaufklärung (BVerfG, Beschluss vom 8. November 2006 - 2 BvR 578/02) erhebt die gerichtliche Verpflichtung zur Einholung eines kriminalprognostisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens in § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO zum gesetzlichen Regelfall und indiziert damit zugleich eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO.
2. Die Verneinung des "Erwägens einer Strafaussetzung in § 454 Abs. 2Satz 1 StPO kommt nur dann in Betracht, wenn die Möglichkeit einer Aussetzung der Vollstreckung völlig fernliegend ist und als ernsthafte Alternative zur Fortdauer der Strafhaft von vornherein ausgeschlossen erscheint.
3. Ob eine solche Ausnahme im konkreten Einzelfall vorliegt, stellt eine im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO schwer zu beurteilende Sachfrage dar, die regelmäßig nicht allein nach Aktenlage, sondern erst nach der durch § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO ausdrücklich vorgeschriebenen und aufgrund der Gesetzessystematik vorbehaltlich Satz 4 der Bestimmung grundsätzlich zuvor durchzuführenden mündlichen Anhörung des Verurteilten beantwortet werden kann.
In pp.
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird die Verfügung des Vorsitzenden der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer Bautzen des Landgerichts Görlitz vom 18. März 2022 aufgehoben.
Dem Verurteilten wird für die Prüfung einer Aussetzung der Strafreste zur Bewährung sein Verteidiger Rechtsanwalt E. aus H. zum Pflichtverteidiger bestellt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die hierdurch dem Beschwerdeführer entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer verbüßt derzeit die Gesamtfreiheitsstrafen von drei Jahren zehn Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Leipzig vom 22. Oktober 2014 (Az.: ...), von sechs Jahren einem Monat aus dem Gesamtstrafenbeschluss des Landgerichts Leipzig vom 12. Juni 2018 (Az.: ...) sowie die Freiheitsstrafe von 10 Monaten aus dem Urteil des Landgerichts Leipzig vom 21. Januar 2020 (Az.: ...), gegenwärtig in der Justizvollzugsanstalt Bautzen. Zwei Drittel aller Strafen werden voraussichtlich am 02. Juli 2022 vollstreckt sein; das Haftende ist derzeit auf den 29. August 2025 notiert.
Mit Verfügung vom 07. Februar 2022 legte die Vollstreckungsbehörde die Sachakten dem Landgericht Görlitz - Strafvollstreckungskammer Bautzen - zur Prüfung einer möglichen Reststrafenaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB vor. Der Kammervorsitzende bestimmte mit Verfügung vom 14. Februar 2022 einen Anhörungstermin des Verurteilten auf den 11. April 2022, wobei er diesem zugleich nahelegte, sein Einverständnis in eine Strafaussetzung (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB) zurückzunehmen. Angesichts der bereits vorliegenden (negativen) Stellungnahmen von Staatsanwaltschaft und Justizvollzugsanstalt lägen die Voraussetzungen für eine Aussetzung nicht vor, weshalb auch kein Anlass bestehe, ein Prognosegutachten (§ 454 Abs. 2 StPO) einzuholen.
Mit Schriftsatz vom 08. März 2022 zeigte sich Rechtsanwalt E. aus H. unter Vollmachtvorlage als Wahlverteidiger des Verurteilten für das Vollstreckungsverfahren an. Er beantragte zum einen, wegen seiner Verhinderung aufgrund eines Arzttermins den Anhörungstermin zu verlegen, zum anderen, ihn analog § 140 Abs. 2 StPO als Pflichtverteidiger zu bestellen, da der Verurteilte weder schreiben noch lesen, mithin sich nicht selbst hinreichend verteidigen könne. Auf entsprechende Bitte des Kammervorsitzenden teilte er mit weiterem Schreiben vom 16. März 2022 sodann insgesamt sechs freie Termine, u.a. den 12. April 2022, mit, an denen er an der Anhörung teilnehmen könne.
Mit Verfügung vom 18. März 2022 bestimmte der Kammervorsitzende daraufhin den Anhörungstermin auf den 12. April 2022. Zugleich lehnte er den Antrag des Verurteilten auf Bestellung seines Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger für das Vollstreckungsverfahren ab. Eine solche sei nicht geboten, da die Sach- und Rechtslage nicht schwierig sei. Die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung, ob der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt werden könne, werde allein durch eine positive Legalprognose begründet und auf Tatsachen gestützt, welche der Verurteilte auch ohne anwaltlichen Beistand vortragen könne.
Gegen die seinem Verteidiger am 24. März 2022 zugestellte Entscheidung wendet sich der Verurteilte mit seiner durch Anwaltsschriftsatz vom selben Tag erhobenen sofortigen Beschwerde. Die Bestellung sei wegen seines Analphabetentums geboten.
Der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer hat den Vorgang dem Oberlandesgericht unvollständig durch Übersendung lediglich einer Sachakte (Az.: ...) auf direktem Weg vorgelegt. Der Senat hat der Generalstaatsanwaltschaft zunächst rechtliches Gehör gewährt; diese beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Anhaltspunkte für einen Analphabetismus bei dem Verurteilten seien nach Aktenlage nicht ersichtlich.
II.
Die sofortige Beschwerde ist begründet.
1. Im Vollstreckungsverfahren ist, wovon auch die Strafvollstreckungskammer ausgeht, dem Verurteilten in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Würdigung aller Umstände das Vorliegen eines "schwerwiegenden Falles" ergibt und der Beschuldigte die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag. Maßgebend ist nicht die Schwere der Tatvorwürfe oder die Schwierigkeit der Sache im Erkenntnisverfahren, sondern die Schwere des Vollstreckungsfalles, die besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage im Vollstreckungsverfahren oder die Unfähigkeit des Verurteilten, sich selbst zu verteidigen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Vollstreckungsverfahren in weitaus geringerem Maße als im kontradiktorisch ausgestalteten Erkenntnisverfahren ein Bedürfnis nach Mitwirkung eines Verteidigers auf Seiten des Verurteilten besteht. Eine Bestellung ist grundsätzlich auf Ausnahmefälle von besonderem Gewicht oder besonderer Komplexität beschränkt (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 25. März 2019 Az.: 2 Ws 156/19 , juris m.w.N. unter Bezugnahme auf BVerfG NJW 2002, 2773). Ein solcher Ausnahmefall ist angesichts der durch § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO als gesetzlicher Regelfall angeordneten Pflicht des Gerichts zur Einholung eines kriminalprognostischen Sachverständigengutachtens - und ungeachtet eines aus der vorgelegten Akte nicht ersichtlichen Analphabetismus des Verurteilten - gegeben.
2. Der Verurteilte bedarf unter dem Gesichtspunkt des Gebots bestmöglicher Sachaufklärung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08. November 2006, Az.: 2 BvR 578/02, juris) eines anwaltlichen Pflichtbeistands. Der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer hat seine Entscheidung allein nach Aktenlage - und damit auf unzureichender Erkenntnisgrundlage - getroffen, da er den Prüfungsablauf, wie er sich aus der Gesetzessystematik der Absätze 1 und 2 des § 454 StPO ergibt, nicht hinreichend beobachtet hat.
Der Verurteilte befindet sich seit nunmehr über acht Jahren im Strafvollzug, dabei auch wegen Strafen, welche die in § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO genannten Voraussetzungen erfüllen. Diese Vorschrift schreibt daher als gesetzlichen Regelfall auch für den vorliegenden Fall die Einholung eines kriminalprognostischen Sachverständigengutachtens vor, wenn das Gericht erwägt, die weitere Vollstreckung der Freiheitsstrafen auszusetzen. Mit Blick auf das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung kann die Verneinung eines solchen Erwägens nur dann in Betracht kommen, wenn die Möglichkeit der Aussetzung der Vollstreckung völlig fernliegend und als ernsthafte Alternative zur Fortdauer der Strafhaft von vornherein ausgeschlossen erscheint (vgl. Senat, NJW 2009, 3315 m.w.N.; OLG Jena, StV 2001, 26; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 454 Rdnr. 37 m.w.N.), so dass zur Schaffung einer hinreichenden Entscheidungsgrundlage für die Kriminalprognose nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB ein kriminalprognostisches Gutachten nicht mehr erforderlich ist (Senat, a.a.O.; BVerfG, NJW 2007, 1933 m.w.N.).
Ob eine solche Ausnahme im konkreten Einzelfall gerechtfertigt ist, stellt eine schwer zu beurteilende Sachfrage im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO dar, die regelmäßig erst nach der durch § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO vorgeschriebenen mündlichen Anhörung des Verurteilten beantwortet werden kann. Bei ihrer Klärung bedarf ein Verurteilter wegen der damit verbundenen Schwierigkeit grundsätzlich der juristischen Unterstützung durch einen Pflichtverteidiger. Die mündliche Anhörung stellt nämlich nicht nur die Gewährung des rechtlichen Gehörs dar; durch sie soll auch erreicht werden, dass das Gericht den unmittelbaren Kontakt mit dem Verurteilten - ggfls. auch in der Justizvollzugsanstalt - aufnimmt. Es soll sich einen persönlichen Eindruck von ihm verschaffen (BGHSt 28, 138 ff.; OLG Celle, StV 1988, 259; Bringewat NStZ 1996, 20; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 454 Rdnr. 16), um sodann seine Entscheidung, ob die Strafaussetzung abweichend vom gesetzlichen Regelfall des § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO ohne Einholung eines kriminalprognostischen Sachverständigengutachtens abzulehnen ist, auch auf dieser Erkenntnisgrundlage zu treffen.
III.
Angesichts dieser Verfahrenslage war die Ablehnung des Antrags auf Bestellung zum Pflichtverteidiger unzutreffend. Die Entscheidung war auf die sofortige Beschwerde hin zu korrigieren.
Für die Kosten des Beschwerdeverfahrens haftet in Ermangelung eines anderen Kostenschuldners die Staatskasse; die Auslagenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.
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