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Entscheidungen

Haftfragen

Haftsache, Beschleunigungsgrundsatz, Einholung eines Sachverständigengutachtens

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Naumburg, Beschl. v. 22.03.2022 - 1 Ws (s) 84/22

Eigener Leitsatz: Bei der Einholung eines Gutachtens ist es zur gebotenen Beschleunigung des Verfahrens unerlässlich, auf zeitnahe Erstellung des Gutachtens hinzuwirken. Es sind deshalb mit dem Gutachter Absprachen darüber zu treffen, in welcher Frist ein Gutachten zu erstellen ist und gegebenenfalls zu prüfen, ob eine zeitnähere Gutachtenerstattung durch einen anderen Sachverständigen zu erreichen ist.


BESCHLUSS

1 Ws (s) 84/22

Strafsache
gegen pp.

Verteidiger:
wegen Raubes u.a.

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Naumburg am 22. März 2022 durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht beschlossen:

Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Haftbefehl des Amtsgerichts Bernburg vom 9. Dezember 2020, 5 Ls 272 Js 20290/20 (42/20), zuletzt bestätigt durch die Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts Magdeburg vom 9. März 2022, 28 Ns 727 Js 20290/20 (55/21), aufgehoben.

Der Angeklagte ist in dieser Sache sofort aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 6. April 2021 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Bernburg vom 9. Dezember 2020 in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl stützt sich auf den Vorwurf des Raubes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und den Haftgrund der Fluchtgefahr. Der Haftbefehl war dem Angeklagten nach Festnahme in anderer Sache am 21. Januar 2021 verkündet worden.

Am 25. Februar 2021 verurteilte das Amtsgericht Bernburg — Schöffengericht — den Angeklagten in dieser Sache wegen Raubes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, Diebstahls und Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten (5 Ls 272 Js 20290/20 (42/20)). Auf die Berufung des Angeklagten fand am 25. Mai 2021 eine erste Hauptverhandlung vor dem Landgericht Magdeburg statt, in deren Verlauf sich herausstellte, dass eine Begutachtung des Angeklagten aufgrund dessen Drogensucht im Hinblick auf eine Unterbringung gemäß § 64 StGB notwendig war.

Mit Beschluss vom 11. Juni 2021 erteilte das Landgericht Magdeburg - nach Stellungnahme der zuständigen Staatsanwaltschaft Magdeburg - den Auftrag zur Erstellung eines Gutachtens an den Sachverständigen Dr. med. pp.. Dieser teilte am 4. Juli 2021 mit, dass die ambulanten Untersuchungstermine nach Zuführung des in der Justizvollzugsanstalt Burg inhaftierten Angeklagten für den 21. und 22. September 2021 vorgesehen seien. Am 3. November 2021 fragte das Landgericht per E-Mail beim Gutachter an, wann mit dem Eingang des Gutachtens gerechnet werden könne. Am 22. November 2021 ging das Gutachten bei Gericht ein. Am 23. November 2021 bestimmte der Vorsitzende Termin zur Hauptverhandlung am 9. März 2022.

Mit Urteil vom 9. März 2022 hat das Landgericht unter Verwerfung der Berufung des Angeklagten im Übrigen das erstinstanzliche Urteil im Rechtsfolgenausspruch abgeändert und den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt und mit Beschluss vom gleichen Tage die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet (28 Ns 727 Js 20290/20 (55/21)).

Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Angeklagten vom 11. März 2022, welche die Verletzung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen rügt.

Das Landgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 15. März 2022 nicht abgeholfen und die Akten dem Senat zur Entscheidung vorgelegt. Gegen das Urteil des Landgerichts hat der Angeklagte fristgerecht Revision eingelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift vom 21. März 2022 beantragt, auf die Haftbeschwerde des Angeklagten den Haftbefehl aufzuheben.

II.

Die gemäß den §§ 117 Abs. 2 S. 2, 304 Abs. 1 StPO zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung des zugrundeliegenden Haftbefehls.

Zwar bestehen vorliegend gegen die Annahme eines dringenden Tatverdachts, welcher durch den Senat nach Erlass eines Urteils ohnehin nur eingeschränkt überprüfbar ist, keine Bedenken. Ebenso kann angesichts der Angaben des Angeklagten im Termin zur Haftbefehlsverkündung dahingehend, dass er seine Wohnung verloren habe, vom Haftgrund der Fluchtgefahr ausgegangen werden.

Jedoch erweist sich die Fortdauer der Untersuchungshaft aufgrund eines Verstoßes gegen das Gebot der besonders beschleunigten Verfahrensführung in Haftsachen als unverhältnismäßig und zwingt zur Aufhebung des Haftbefehls.

Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruches regelmäßig gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung (vgl. BVerfG Beschluss vom 30. Juli 2014 — 2 BvR 1457/14, juris). Als Konsequenz dessen verlangt das Beschleunigungsgebot in Haftsachen, das Verfahren von Beginn an und während der gesamten Dauer des Strafverfahrens mit der größtmöglichen Beschleunigung zu betreiben (vgl. Senat vom 19.03.2009, 1 Ws 171/09, juris).

Diesen Vorgaben wird die Verfahrensführung der Kammer vorliegend nicht gerecht.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift vom 21. März 2022 ausgeführt:

„Die Kammer hat die Sache nicht mit der gebotenen Beschleunigung gefördert. Bei der Einholung eines Gutachtens ist es zur gebotenen Beschleunigung des Verfahrens unerlässlich, auf zeitnahe Erstellung des Gutachtens hinzuwirken. Es sind deshalb mit dem Gutachter Absprachen darüber zu treffen, in welcher Frist ein Gutachten zu erstellen ist und gegebenenfalls zu prüfen, ob eine zeitnähere Gutachtenerstattung durch einen anderen Sachverständigen zu erreichen ist. Der Gutachter ist auf die bestehende Haftsituation hinzuweisen. Gericht und Staatsanwaltschaft haben die zügige Gutachtenerstattung fortwährend zu kontrollieren und den Gutachter zur zügigen Bearbeitung anzuhalten [Saarländisches OLG Saarbrücken, Beschluss vom 22.04.2015 - 1 Ws 7/15 (H)-, juris].

Gemessen daran wird die Behandlung der Sache durch das Landgericht diesen Maßstäben nicht gerecht

So hat die Kammer erst 2 Wochen nach der Erkenntnis der Notwendigkeit des Gutachtens den Sachverständigen bestellt. Als dieser Anfang Juli 2021 mitteilte, dass die Vorführung zur Untersuchung des Angeklagten erst am 21./22.09.2021 erfolgen sollte, hat sie weder auf eine zeitnähere Begutachtung gedrängt, noch nach den Gründen für diese verzögerte Vorführung gefragt oder gar eine Frist zur Erstattung des Gutachtens gesetzt.

Es finden sich auch in der Akte keinerlei Hinweise darauf, ob das Landgericht möglicherweise durch eine Umbestellung eines Sachverständigen eine frühere Begutachtung ins Auge gefasst hat.

Zudem finden sich keine Hinweise, dass dem Sachverständigen überhaupt irgendeine Frist gesetzt wurde, bis wann das Gutachten zu erstatten ist.

Die Nachfrage Anfang November 2021, wann mit dem Gutachten zu rechnen sei, erscheint eher formaler Natur.

Es finden sich auch keinerlei Hinweise darauf, dass der Vorsitzende im Hinblick auf die zu erwartende Gutachtenerstattung bereits Terminabsprachen getroffen hätte, um eine frühestmögliche Terminierung der Sache ins Auge zu fassen.

Erst mit Eingang der Akten am 22.11.2021 hat der Vorsitzende am 23.11.2021 Termin zur Hauptverhandlung am 09.03.2021, d. h. fast 4 Monate nach Eingang des Sachverständigengutachtens bestimmt. In einer Gesamtbetrachtung hat die Kammer vom Zeitpunkt der Aussetzung der Hauptverhandlung am 25.05.2021 über 9 Monate gebraucht, um einen neuen Hauptverhandlungstermin in der Sache durchzuführen.

Dies ist in der Gesamtschau der aufgezeigten Abläufe und Versäumnisse der Kammer als offenkundiger Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz zu bewerten, mit der Folge, dass der Haftbefehl aufzuheben ist "

Diesen Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft schließt sich der Senat ausdrücklich an.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO analog.


Einsender: RA J.-R. Funck, Braunschweig

Anmerkung:


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