Gericht / Entscheidungsdatum: LG Köln, Beschl. v. 10.03.2022 - 109 Qs 15/21
Eigener Leitsatz: Ein Angeklagter darf sich bei fehlenden gegenteiligen Anhaltspunkten grundsätzlich darauf verlassen, dass ein Verteidiger von Entscheidungen gegen ihn unterrichtet wird und dieser die notwendigen Schritte dagegen einleiten wird.
Landgericht Köln
Beschluss
In dem Beschwerdeverfahren
betreffend pp.
Verteidiger: ,
hat die 9. große Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Köln auf die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 09.11.2021 - Az: 582 Cs 171/21 - durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, Richter am Landgericht pp. und die Richterin am Landgericht am 10.03.2022 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde wird der Beschluss des Amtsgerichts Köln vom . 09.11.2021 aufgehoben und dem Beschwerdeführer auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist gegen den Strafbefehl vom 27.09.2021 gewährt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die diesbezüglichen notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Köln hat am 27.09.2021 einen Strafbefehl erlassen und gegen den Beschwerdeführer wegen Subventionsbetrugs im Zusammenhang mit der Beantragung einer Soforthilfe im Rahmen des Soforthilfeprogramms Corona" eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15,00 EUR festgesetzt sowie die Einziehung des Wertes des Tatertrages in Höhe von 9.000,00 EUR angeordnet.
Der Strafbefehl ist dem Beschwerdeführer ausweislich der Zustellungsurkunde (BI.
133 d.A.) am 29.09.2021 zugestellt worden.
Der Beschwerdeführer hatte sich bereits unter dem 10.08.2021 an das ermittelnde Polizeipräsidium Köln gewandt und mitgeteilt, dass er die Kanzlei pp. mit seiner Verteidigung beauftragt habe und der Verteidiger bis Ende August im Urlaub sei. Mit Schreiben vom 20.08.2021 hatte die Staatsanwaltschaft Köln dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass wegen der angekündigten Urlaubsrückkehr des Verteidigers einer Stellungnahme sowie einem Akteneinsichtsgesuch bis zum 15.09.2021 entgegengesehen werde. Falls keine Rückmeldung erfolge, ergehe eine Entscheidung nach Aktenlage.
Die Abschlussentscheidung der Staatsanwaltschaft erfolgte am 21.09.2021 (BI. 127 d.A.).
Der Verteidiger wandte sich am 23.09.2021 unter Beifügung einer Vollmacht vom 13.09.2021 (BI. 137 d.A.) an das Polizeipräsidium Köln und bat um Akteneinsicht und ggfs. Weiterleitung des Gesuchs sowie Mitteilung des Aktenzeichens der Staatsanwaltschaft (BI. 135 d.A.). Das Schreiben wurde unter dem 27.09.2021 (BI. 134 d.A.) weitergeleitet und ging am folgenden Tag bei der Staatsanwaltschaft Köln und am 04.10.2021 beim Amtsgericht Köln ein. Das Amtsgericht Köln stellte die Entscheidung über das Akteneinsichtsgesuch mit Verfügung vom 05.10.2021 zurück (BI. 137 Rück d.A.).
Unter dem 21.10.2021 bewilligte das Amtsgericht die Akteneinsicht, die Verfügung wurde am
22.10.2021 ausgeführt (BI. 141 Rück).
Unter dem 28.10.2021, eingegangen am 29.10.2021, legte der Verteidiger für den Angeklagten Einspruch gegen den Strafbefehl ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er machte im Wesentlichen geltend, dass er keine formlose Abschrift des Strafbefehls erhalten und auch sonst keine Kenntnis von dem Erlass des Strafbefehls erlangt habe. Er habe die Akte am 25.10.2021 abgeholt und erst danach Kenntnis von dem Strafbefehl erhalten.
Mit Schreiben vom 09.11.2021 wies das Amtsgericht Köln den Verteidiger darauf hin, dass seiner Ansicht nach ein Fall des § 145a Abs. 3 StPO nicht vorliege. Die Verteidigerbestellung sei erst nach Erlass und Zustellung des Strafbefehls zur Akte gelangt. Auch bestünden Zulässigkeitsbedenken im Hinblick auf den Vortrag zum Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses. Ausführungen dazu, warum der Angeklagte unverschuldet an der Einhaltung der Einspruchsfrist gehindert gewesen sei oder warum er den Strafbefehl nicht weitergeleitet habe, fehlten.
Der Verteidiger hat dazu ausgeführt, dass zum Zeitpunkt der Verteidigerbestellung gegenüber dem Polizeipräsidium Köln der Strafbefehl noch nicht erlassen, bei Eingang der Bestellung bei der Staatsanwaltschaft der Strafbefehl jedenfalls noch nicht zugestellt gewesen und sie noch innerhalb der Einspruchsfrist bei Gericht eingegangen sei. Die Weiterleitung der Verteidigerbestellung durch das Polizeipräsidium sei verzögert erfolgt, dies müsse sich die Justiz zurechnen lassen. Der Angeklagte habe unstreitig bereits vor Erlass des Strafbefehls ihn als Verteidiger beauftragt und auch den Auftrag zur Einlegung von Rechtsmitteln erteilt. Er habe davon ausgehen dürfen, dass sein Verteidiger Kenntnis von dem Strafbefehl erlange und alles Notwendige unternehme. Er habe die Akte am Freitag, 25.10.2021, abgeholt und am Montag, 28.10.2021, Kenntnis vom Erlass des Strafbefehls erhalten.
Mit Beschluss vom 09.11.2021 (BI. 158 f d.A.) hat das Amtsgericht den Einspruch verworfen und den Antrag auf Wiedereinsetzung als unzulässig verworfen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung sei bereits unzulässig. Es fehle die konkrete Angabe des Zeitpunktes des Wegfalls des Hindernisses. Bezüglich der Kenntniserlangung durch den Verteidiger sei nur von einem Zeitpunkt nach Abholung der Akte" die Rede. Erst auf Nachfrage sei mitgeteilt worden, dass der Verteidiger am 28.10.2021 Kenntnis genommen habe. Nicht entscheidend sei, dass durch den Eingang des Antrags am 28.10.2021 in allen möglichen Sachverhaltsvarianten die Frist gewahrt sei. Auch sei der konkrete Zeitpunkt der Kenntniserlangung nicht glaubhaft gemacht. Der Antrag sei zudem aber auch unbegründet. Eine Zustellung an den Verteidiger oder dessen Unterrichtung sei nicht erforderlich gewesen, da die Verteidigerbestellung erst nach Erlass des Strafbefehls zur Akte gelangt sei. Dem Angeklagten sei auch das Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft bekannt gewesen. Eine Verzögerung durch das Polizeipräsidium könne nicht festgestellt werden. Die Bestellung gegenüber dem Polizeipräsidium ' sei am 23.09. und bei der Staatsanwaltschaft schon am 28.09. eingegangen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung sei auch deshalb unbegründet, weil sich aus dem Antrag nicht ergebe, warum der Angeklagte nicht selbst fristgerecht Einspruch eingelegt habe. Der Strafbefehl enthalte keinen Hinweis auf die Verteidigerbestellung. Konkreter Vortrag diesbezüglich sowie eine Glaubhaftmachung fehlten.
Der Beschluss ist dem Verteidiger am 12.11.2021 zugestellt worden (BI. 164 d.A.). Mit Schriftsatz vom 19.11.2021, am selben Tag bei Gericht eingegangen, hat der Verteidiger sofortige Beschwerde eingelegt. Er hat ausgeführt, dass es auf die nach Auffassung des Gerichts unpräzise Angabe zum Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses nicht ankomme. Die Wochenfrist sei in jedem Fall gewahrt. Auch verkenne das Gericht die Reichweite der sich aus § 145a Abs. 3 StPO ergebenden Fürsorgepflicht sowie der Anforderungen an einen Angeklagten. Sein Mandant habe ihn rechtzeitig mit der Einlegung von Rechtsmitteln beauftragt.
Das Amtsgericht hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 24.11.2021 nicht abgeholfen und ausgeführt, die Angabe des Zeitpunktes des Wegfalls sei Zulässigkeitsvoraussetzung, § 145a Abs. 3 StPO gelte nur, wenn die Verteidigerbestellung bei Erlass bereits aktenkundig sei und es habe dem Angeklagten oblegen, den Verteidiger von der Zustellung des Strafbefehls an ihn zu unterrichten. Warum dies nicht erfolgt sei, ergebe sich aus dem Wiedereinsetzungsantrag nicht.
II,
Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 09.11.2021 ist gemäß §§ 46 Abs. 3, 311 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere innerhalb der Frist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegt worden.
Sie ist auch begründet.
Das Amtsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht als unzulässig und hilfsweise unbegründet verworfen.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist zulässig.
Er ist statthaft. Der Angeklagte hat eine Frist nicht eingehalten. Der Strafbefehl ist ihm am 29.09.2021 wirksam zugestellt worden. Zu diesem Zeitpunkt war die Verteidigerbestellung noch nicht aktenkundig.
Sein Verteidiger hat erst am 29.10.2021 und damit nicht innerhalb der Frist des § 410 Abs. 1 StPO Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist auch rechtzeitig gestellt worden. Nach § 45 Abs. 1 S. 2 StPO ist der Antrag binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Verfügung hinsichtlich der Bewilligung der Akteneinsicht, durch die der Verteidiger erstmals Kenntnis vom Erlass und der Zustellung des Strafbefehls erhielt, ist am 22.10.2021 ausgeführt worden (BI. 141 Rück), der Antrag auf Wiedereinsetzung am 29.10.2021 beim Amtsgericht eingegangen. Die Wochenfrist wäre selbst dann gewahrt, wenn der Verteidiger bereits am Tag der Ausführung der Verfügung Kenntnis von dem Erlass und der Zustellung des Strafbefehls erhalten hätte.
Der Antrag ist auch nicht deshalb unzulässig, weil der Verteidiger hinsichtlich seiner Kenntnisnahme bzw. dem Wegfall des Hindernisses vorgetragen hat, diese sei nach Abholung der Akte" eingetreten. Daraus lässt sich mit der notwendigen Klarheit rückschließen, dass der Antrag jedenfalls in der Wochenfrist eingegangen ist. Die Angabe des Zeitpunktes des Wegfalls des Grundes ist ausnahmsweise dann nicht erforderlich, wenn die Einhaltung der Frist nach Aktenlage offensichtlich ist (Schmitt, Meyer-Goßner, StPO, § 45, Rn. 5).
Der Antrag ist auch begründet.
Der Angeklagte, auf den es allein ankommt, hat die Frist unverschuldet versäumt.
Er hatte zum Zeitpunkt der Zustellung des Strafbefehls bereits einen Verteidiger mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt, der sich auch bereits vor dem Erlass des Strafbefehls gegenüber dem ermittelnden Polizeipräsidium bestellt und um Akteneinsicht gebeten hatte.
Ein Angeklagter darf sich grundsätzlich und bei fehlenden gegenteiligen Anhaltspunkten darauf verlassen, dass ein Verteidiger von Entscheidungen gegen ihn unterrichtet wird und dieser die notwendigen Schritte dagegen einleiten wird (s. zB BayObLG, Beschluss v. 03.11.1999, NStZ-RR 2000, 110).
Der Verteidiger ist, nachdem seine Vollmacht noch innerhalb der Einspruchsfrist bei Gericht eingegangen war, nicht von der Zustellung des Strafbefehls unterrichtet worden. § 145a Abs. 3 StPO enthält die Verpflichtung des Gerichts, einen Verteidiger von an den Angeklagten selbst zugestellten Entscheidungen zu unterrichten. Sie ist Ausdruck der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts. Ihr Unterbleiben berührt zwar nicht die Wirksamkeit der Zustellung, stellt in der Regel aber einen Wiedereinsetzungsgrund dar (Schmitt in: Meyer-Goßner, § 145a, Rn. 14; OLG Köln, Beschluss v. 10.06.2011 - 2 Ws 308/11, BeckRS.2011, 21771). Sie greift auch nicht nur dann, wenn die Verteidigerbestellung bereits bei Erlass einer Entscheidung bekannt war, sondern jedenfalls auch, wenn sich ein Verteidiger noch innerhalb der Einspruchsfrist bestellt (s. zu einer nachträglichen Bestellung und der Erforderlichkeit der Unterrichtung auch OLG Nürnberg, Beschluss v. 30.03.2010, BeckR$ 2010, 10624).
Aus der Tatsache, dass der Verteidiger im Strafbefehl nicht aufgeführt war, musste der Angeklagte nicht schließen, dass seine Verteidigerbestellung nicht zur Akte gelangt war. Tatsächlich war die Verteidigerbestellung auch bereits innerhalb der Einspruchsfrist bei Gericht eingegangen.
Ein Verschulden ist ihm auch nicht deshalb vorzuwerfen, weil er seinem Verteidiger nicht das ihm nach Aktenlage bekannte staatsanwaltschaftliche Aktenzeichen mitgeteilt hatte. Wie auch tatsächlich erfolgt, durfte er damit rechnen, dass es dem Verteidiger möglich sein würde, über das Polizeipräsidium gegebenenfalls' an die zuständige Stelle weitergeleitet zu werden.
Die Kosten der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand fallen gern. § 473 Abs., 7 StPO dem Antragsteller zur Last, die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers im Beschwerdeverfahren trägt in entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO (vgl. BayObLG StV 2006, 6 ff.; Meyer-Goßner StPO, § 464, Rn. 7a, 11a) die Staatskasse.
Einsender: RA S. Kirli, Köln
Anmerkung:
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