Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Schleswig, Beschl. v. 08.03.2022 - 1 Ws 42/22
Eigener Leitsatz: 1. Der Anspruch auf Bestellung eines Rechtsanwalts als Beistand gemäß § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO besteht auch dann, wenn zwar die Anklage nicht auf ein versuchtes Tötungsdelikt gestützt wird, aber die wenn auch nur geringe Möglichkeit besteht, dass der Angeklagte ein solches Delikt begangen hat und seine Verurteilung deswegen in Betracht kommt.
2. Zur schwierigen Sach- und Rechtslage, die die Gewährung von PKH für den Nebenkläger zur Zuziehung eines Rechtsanwalts erfordert.
1 Ws 42/22
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht
Beschluss
In dem Strafverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
wegen gefährlicher Körperverletzung
Nebenklägervertreter:
Auf die Beschwerde des Nebenklägers gegen den Beschluss der Vorsitzenden der VII. Großen Strafkammer des Landgerichts Lübeck vom 23. Februar 2022, durch den sein Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts abgelehnt worden ist, hat der I. Strafsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft am 8. März 2022 beschlossen:
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Dem Nebenkläger wird Rechtsanwalt pp. in Hamburg als Beistand bestellt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Staatskasse zu tragen. Diese hat auch dem Nebenkläger die ihm im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthafte Beschwerde ist zulässig und auch begründet.
Die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein hat in ihrer Zuschrift vom 3. März 2022 ausgeführt:
Der Antrag ist - da für den Beschwerdeführer günstiger - als Antrag auf Bestellung eines Rechtsanwalts als Beistand gemäß § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO auszulegen. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, die u.a. eine zusätzliche Bedürftigkeitsprüfung voraussetzt, kommt nämlich nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen des § 397a Abs. 1 StPO nicht vorliegen. Der Anspruch auf Bestellung eines anwaltlichen Beistands besteht auch dann, wenn zwar die Anklage nicht auf ein versuchtes Tötungsdelikt gestützt wird, aber die wenn auch nur geringe Möglichkeit besteht, dass der Angeklagte ein solches Delikt begangen hat und seine Verurteilung deswegen in Betracht kommt (BGH, Beschluss vom 12. Mai 1999 - 1 ARs 4 - 99, NJW 1999, 2380). So liegt der Fall hier. Nachdem die Staatsanwaltschaft in der Abschlussverfügung einen Rücktritt vom versuchten Totschlag angenommen hat (Bl. 2 d. SB), geht die Antragsschrift unter Ziffer 5 zwar lediglich von einer gefährlichen Körper-verletzung aus (Bl. 7 d. SB). Gleichwohl verbleibt die Möglichkeit, dass die Frage des Rücktritts nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme anders bewertet wird und infolgedessen ggf. auch ein versuchter Totschlag als Anlasstat in Betracht kommen könnte.
Bereits vor diesem Hintergrund ist die Beschwerde begründet.
Im Übrigen wäre die Beschwerde aber auch begründet, wenn der Antrag - entsprechend der Auslegung des Landgerichts Lübeck - als Antrag auf Gewährung von Prozesskosten-hilfe für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts verstanden würde.
Soweit sich der Beschluss des Landgerichts Lübeck angesichts der erlittenen Verletzungen des Beschwerdeführers ausschließlich damit auseinandersetzt, ob dieser seine Interessen selbst ausreichend wahrnehmen kann, ist anzumerken, dass es sich insoweit weniger um eine Frage der Unfähigkeit als der Unzumutbarkeit eigener Interessenwahrnehmung handeln dürfte, die als solche insbesondere auf der psychischen Betroffenheit des Nebenklägers durch die Tat beruhen kann (Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt StPO § 397a Rn. 9). Das in der Antragsschrift unter Ziffer 5 geschilderte Tatgeschehen (Bl. 7 d. SB) lässt sowohl wegen der Tat selbst (Messerangriff auf offener Straße) als auch wegen ihrer Folgen (Notwendigkeit einer lebensrettenden Operation) auf eine erhebliche psychische Betroffenheit des Beschwerdeführers schließen, die eine Unzumutbarkeit eigener Interessenwahrnehmung nahelegt.
Jedenfalls aber erscheint die Gewährung von Prozesskostenhilfe mit Blick auf die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten. Eine schwierige Sach- und Rechtslage ist regelmäßig dann gegeben, wenn aus der vernünftigen Sicht des Nebenklägers der Sachverhalt verwickelt ist, Spezialkenntnisse erfordert oder komplizierte bzw. umstrittene Rechts-fragen auftauchen oder Beweisanträge gestellt werden müssen (BeckOK StPO/Weiner StPO § 397a Rn. 20). Angesichts dessen dürfte sich die Sach- und Rechtslage aus der maßgeblichen Sicht des Beschwerdeführers schon allein deshalb als schwierig erweisen, weil hinsichtlich des Tathergangs eine Aussage gegen Aussage Konstellation besteht und der Beschuldigte sich bereits im Rahmen des Ermittlungsverfahrens auf Notwehr berufen hat (Bl. 11 d. SB). Demzufolge steht zu erwarten, dass die Frage etwaiger Notwehr auch Gegenstand der Hauptverhandlung sein wird, zumal auch die Antragsschrift davon ausgeht, dass der Beschwerdeführer dem Beschuldigten unmittelbar vor dem Messerstich einen Faustschlag ins Gesicht versetzt hat (Bl. 7 d. SB).
Hinzu kommt, dass es sich vorliegend um ein Sicherungsverfahren handelt, das per se die Schwierigkeit der Beurteilung der Schuld(un)fähigkeit des Beschuldigten birgt und dafür die Bewertung der Ausführungen eines Sachverständigen erfordert, was aus Sicht eines Nebenklägers tatsächlich wie rechtlich als problematisch einzustufen ist. Rechtlich schwierig wäre insbesondere auch eine im Laufe des Sicherungsverfahrens ggf. notwendige Überleitung in das Strafverfahren gemäß § 416 StPO. Für den Beschwerdeführer gilt dies umso mehr, als dass der Vortrag seines Rechtsanwalts auf eine bestehende Sprachbarriere hin-deutet (Bl. 35 d. SB), die sich angesichts der Komplexität der genannten Schwierigkeiten nicht allein durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers überwinden lassen dürfte.
Dem tritt der Senat bei.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung von § 467 StPO.
Einsender: RA J. Breu, Hamburg
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