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Entscheidungen

OWi

Verwerfungsurteil, genügende Entschuldigung, Gastroenteritis

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 02.12.2021 – 3 Ws (B) 323/21

Leitsatz des Gerichts: 1. Der Rechtsmittelführer ist in der Rechtsbeschwerde auch zur Darstellung eines potentiell rügefeindlichen Aktenvermerks des Tatrichters (hier: Erklärung, ein Ent-schuldigungsschreiben habe zunächst nicht vorgelegen) verpflichtet.
2. Unterbleibt die Darstellung, führt dies ausnahmsweise nicht zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels, wenn der Tatrichter den Einspruch des säumigen Betroffenen unab-hängig vom Vorliegen der Urkunde nicht verwerfen durfte.
3. Eine zur Entschuldigung der Abwesenheit geltend gemachte Erkrankung muss nicht im Wortlaut benannt werden; die Benennung des ICD-10-Codes genügt.
4. Bei einer durch ärztliches Attest dokumentierten Gastroenteritis ist die bestehende Symptomatik mit „akuter Brechdurchfall“ ausreichend beschrieben.
5. Es ist regelmäßig unzulässig, aus dem Umstand, dass der erkrankte Betroffene einen Arzt aufgesucht hat, auf seine Verhandlungsfähigkeit zu schließen.


3 Ws (B) 323/21 - 122 Ss 147/21

In der Bußgeldsache
gegen pp.

wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit

hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 2. Dezember 2021 be-schlossen:

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 30. Juli 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurück-verwiesen.

Gründe:

I.

Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen wegen einer Geschwindig-keitsüberschreitung einen Bußgeldbescheid erlassen und eine Geldbuße sowie ein Fahrverbot festgesetzt. Der Betroffene hat hiergegen Einspruch eingelegt. Am 30. Juli 2021, dem Tag der Hauptverhandlung, hat der Verteidiger durch Schreiben vom „29. Juli 2021“ beantragt, den Termin aufzuheben. Zur Begründung hat er aus-geführt, der Betroffene leide unter „akutem Brechdurchfall“. Er habe seinen Arzt auf-gesucht und sich behandeln lassen, sei aber nicht in der Lage, einer Hauptverhand-lung zu folgen. Dem Schreiben war ein Überweisungsschein („Diagnose K52.9 G … erbitte Colonoskopie zum Ausschluss Colitis“) und eine ärztliche Arbeitsunfähigkeits-bescheinigung („arbeitsunfähig seit 30.07.2021“) mit dem ICD-10-Code „K52.9 G“ beigefügt. Dahinter verbirgt sich die gesicherte („G“) Diagnose „Nichtinfektiöse Gast-roenteritis und Kolitis, nicht näher bezeichnet“. Nachdem zur Hauptverhandlung nie-mand erschienen war, hat das Amtsgericht den Einspruch mit der Begründung ver-worfen, der Betroffene fehle nicht genügend entschuldigt. Zwar habe er eine Arbeits-unfähigkeitsbescheinigung eingereicht; aus dieser ergebe sich aber weder die Art noch die Dauer und auch nicht die Schwere der Erkrankung. Weiter heißt es: „Wa-rum der Betroffene in der Lage war, einen Arzt aufzusuchen, aber nicht zur Haupt-verhandlung erscheinen konnte, ist nicht plausibel.“ Hiergegen wendet sich der Be-troffene mit der Rechtsbeschwerde. Neben der Verletzung sachlichen Rechts rügt er eine Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist – im Ergebnis – zulässig erho-ben. Zwar verschweigt die Rechtsbeschwerde einen Aktenvermerk der Abteilungs-richterin vom 27. September 2021, in dem es heißt, ihr hätten bei der Verwerfungs-entscheidung die Überweisung und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, nicht aber der Verlegungsantrag vom „29. Juli 2021“ vorgelegen, in dem die konkrete Sympto-matik („akuter Brechdurchfall“) beschrieben wird (Bl. 43). Zur Darstellung eines sol-chen potentiell rügefeindlichen Umstands ist der Rechtsmittelführer in der Rechtsbe-schwerde verpflichtet (vgl. nur BVerfG NJW 2005, 1999 m. w. N.). Das Versäumnis führt hier aber ausnahmsweise nicht zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels, weil der Einspruch auch dann nicht hätte verworfen werden dürfen, wenn dem Amtsgericht nur die beiden ärztlichen Urkunden vorgelegen hätten. Im Übrigen beschreibt das Rechtsmittel den Verfahrensgang ausreichend und bezeichnet mit „akutem Brech-durchfall“ (RB S. 2) auch die Symptome der Erkrankung in einer den §§ 79 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO noch genügenden Weise.

2. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist auch begründet. Bei § 74 Abs. 2 OWiG handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift, die eng auszulegen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 6. Juli 1998 – 3 Ws (B) 324/98 – [juris]; OLG Stuttgart Justiz 2004, 126; BayObLG StV 2001, 338). Entscheidend ist bei ihrer Anwendung nicht, ob sich der Betroffene genügend entschuldigt hat, sondern ob er im Zeitpunkt der Hauptverhandlung genügend entschuldigt war (vgl. Senat VRS 132, 115 m.w.N.). Hat das Tatgericht Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung, so darf es den Einspruch nur verwerfen, wenn es sich die Überzeugung verschafft hat, dass diese nicht hinreichen. Hierbei ist eine großzügige Auslegung zu Gunsten des Betroffenen geboten (vgl. BGHSt 17, 391). Die Vorlage eines ärztlichen Attests enthält die kon-kludente Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht (vgl. Senat DV 2019, 189). Bleiben freibeweisliche Aufklärungsbemühungen erfolglos und bleibt daher zweifel-haft, ob der Betroffene genügend entschuldigt ist, liegen die Voraussetzungen einer Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG nicht vor (vgl. zuletzt OLG Brandenburg jurisPR-StrafR 23/2019 m. Anm. Krenberger [Volltext bei juris]).

Nach dieser Maßgabe konnte das Amtsgericht nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Betroffene der Hauptverhandlung unentschuldigt ferngeblieben ist. Vielmehr musste es aufgrund der ihm unzweifelhaft vorliegenden Arbeitsunfähigkeitsbeschei-nigung von der gesicherten Diagnose einer Gastroenteritis ausgehen. Die dem Amtsgericht zusätzlich vorgelegte ärztliche Überweisung an einen Gastroenterologen mag kein sicherer Hinweis auf eine besonders gravierende Erkrankung sein. Keines-falls legt sie aber eine Bagatellerkrankung nahe, und erst recht lässt sie es als un-wahrscheinlich erscheinen, dass der Betroffene nur simulierte. Daher durfte das Amtsgericht die Bescheinigungen nicht als unerheblich abtun. Seine zunächst nur auf einer Vermutung beruhende Einschätzung, dem Betroffenen sei die Teilnahme an der Verhandlung durchaus zuzumuten, hätte das Amtsgericht bei dieser Sachlage im Freibeweis, namentlich durch einen Anruf bei dem ausstellenden Arzt, überprüfen müssen. Im Übrigen ist der Verteidigung zuzustimmen, dass es problematisch und nachgerade widersinnig erscheint, vom erkrankten Betroffenen ein aussagekräftiges Attest zu verlangen und zugleich aus dem Umstand, dass er einen Arzt aufgesucht hat, auf seine Verhandlungsfähigkeit zu schließen.

3. Das Urteil war daher mit seinen Feststellungen aufzuheben, und die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwer-de – an das Amtsgericht zurückzuverweisen.


Einsender: RiKG U. Sandherr, Berlin

Anmerkung:


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