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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Sicherungsverteidiger, Bestellungsgründe, Statthaftigkeit der Beschwerde

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 12.01.2022 - 4 Ws 4/22

Eigener Leitsatz: 1. Zur Frage, ob ein Rechtsmittel im Namen des Mandanten eingelegt ist.
2. Zentrale Voraussetzung für die Bestellung eines Sicherungspflichtverteidigers nach § 144 Abs. 1 StPO ist, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Eine solche Bestellung ist nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat; vielmehr muss sie zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein.


Beschluss
Geschäftsnummer:
4 Ws 4/22161 AR 265/21

In der Strafsache
gegen pp. u. a.
hier nur gegen pp.

wegen gewerbs- und bandenmäßigen Subventionsbetruges u. a.

hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 12. Januar2022 beschlossen:

1. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Vorsitzenden der Strafkammer 36 des Landgerichts Berlin vom 3. Dezember 2021 wird verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

Die 36. Strafkammer des Landgerichts Berlin führt gegen den Angeklagten und weitere zehn Personen sowie sieben Einziehungsbeteiligte ein Strafverfahren wegen des Vorwurfs des gemeinschaftlich begangenen gewerbs- und bandenmäßigen Subventionsbetruges (§§ 263 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 5, § 264 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3, 25 Abs. 2 StGB).

Die Angeklagten sollen zwischen dem 4. Januar 2011 und dem 27. Januar 2016 das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie durch unrichtige Angäben zur Bewilligung und Auszahlung von Fördergeldern an die Gesellschaft für Innovationsförderung mbH (GIFÖ) veranlasst haben. Das hierfür genutzte Förderprogramm („go-inno") unterstützt mittelständische Unternehmen, indem es deren Kosten für die Inanspruchnahme von Beratungsleistungen anteilig übernimmt. Um ein ernsthaftes Bedürfnis an der Beratung sicherzustellen, müssen die beratenen Unternehmen nach den Förderrichtlinien mindestens die Hälfte der anfallenden Kosten selbst tragen. Die GIFÖ soll in den angeklagten 340. Fällen Beratungsleistungen gegenüber. dem Ministerium abgerechnet haben, die sie nicht oder jedenfalls nicht in dem geltend gemachten Umfang erbracht hatte und die von den beratenen Unternehmen faktisch auch nicht selbst bezahlt worden waren. Stattdessen soll diesen der Zahlbetrag zuvor von der GIFÖ selbst oder von einem ihr nahestehenden Unternehmen zur-Verfügung gestellt worden sein.

An diesem System sollen sich die elf Angeklagten in unterschiedlichen Rollen beteiligt und Taten nach dem dargestellten Muster begangen haben. Dem Angeklagten liegen dabei 80 Fälle zur Last. Er soll als Prokurist der GIFÖ bei diesen Taten insbesondere als „interner Berater" aufgetreten sein. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Berlin vom 28. Juli 2020 und den Eröffnungsbeschluss der Strafkammer vom 25. Juni 2021 Bezug genommen.

Für den Angeklagten meldete sich noch im Ermittlungsverfahren Rechtsanwalt D. als Wahlverteidiger. Mit Schriftsatz vom 18. November 2021 hat zudem Rechtsanwalt pp. die Übernahme der Verteidigung neben Rechtsanwalt D. angezeigt und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger neben dem Wahlverteidiger D beantragt. Dabei bezog er sich auf ein beigefügtes und ebenfalls an das Landgericht Berlin adressiertes Schreiben des Angeklagten1 in dem auch dieser die zusätzliche Beiordnung von Rechtsanwalt pp. beantragte.

Mit Beschluss vom 3. Dezember 2021 - zugestellt am 7. Dezember 2021 - hat der Vorsitzende der Strafkammer den Antrag abgelehnt. Hiergegen legte Rechtsanwalt pp. mit am· 7. Dezember 2021 eingegangenem Schriftsatz sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass die Beiordnung zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens und zur Vermeidung von Verzögerungen unabdingbar sei. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat beantragt, die sofortige Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, da diese vom Verteidiger im eigenen Namen eingelegt worden sei.

II.

1. Die form- und fristgerecht erhobene sofortige Beschwerde ist gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist sie im Namen des beschwerdeberechtigten Angeklagten eingelegt.·

Dafür spricht zunächst die in § 297 StPO enthaltene gesetzliche Vermutung, wonach Rechtsmittel eines Verteidigers im Auftrag und mit Willen des Beschuldigten eingelegt werden. Unbeschadet der Tatsache, dass der Verteidiger dabei aus eigenem Recht, und. im eigenen Namen tätig wird, handelt es sich bei dem eingelegten Rechtsmittel. um ein solches des Beschuldigten (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juli 2019 - 2 StR 181/19; Rn. 10, juris. m. w. N.).

Es spricht nichts dafür, dass die sofortige Beschwerde hier abweichend davon im eigenen (Gebühren-) Interesse des Rechtsanwalts erhoben worden ist. Im Gegenteil verfolgt das Rechtsmittel in der Sache einen Beiordnungsantrag weiter, den der Angeklagte auch selbst gestellt hatte. Die Beschwerdebegründung bezieht sich sogar ausdrücklich auf diesen Antrag des Angeklagten. Inhaltlich argumentiert der Verteidiger ebenfalls mit Interessen seines Mandanten, nämlich insbesondere mit dessen Recht auf ein faires und zügiges Verfahren.

2. Die sofortige Beschwerde hat in der Sache jedoch keinen Erfolg, denn die Entscheidung des Strafkammervorsitzenden ist nicht zu beanstanden.

a) Gemäß § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem Wahlverteidiger bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich bestellt werden, wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist.

Nach ihrem Wortlaut hat die Vorschrift demnach zur zentralen Voraussetzung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Eine solche Bestellung ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat; vielmehr muss sie zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein. Soweit der Gesetzeswortlaut „Umfang oder Schwierigkeit" des Verfahrens anführt, benennt er lediglich exemplarisch einen der Hauptanwendungsfälle für diese zentrale Normvoraussetzung. Hierauf ist bei der Auslegung Bedacht zu nehmen. Auf den Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens kann es mithin nur ankommen, soweit diese Eigenschaften dazu führen, dass dessen zügige Durchführung ohne den (bzw. die beiden) weiteren Verteidiger gefährdet wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 31. August 2020 — StB 23/20 —, BGHSt 65, 129, Rn. 13).

Unter dieser Prämisse kann für die Auslegung des § 144 Abs. 1 StPO im Übrigen auf die Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die sich vor der Reform durch das Ge setz zur Neuregelung des Rechts der. notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 zur Zulässigkeit der Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger herausgebildet hatte (vgl. BGH a.a.O.; KG, Beschluss vom 25. November 2021 — 1 Ws 56/21 —).

Die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers kommt danach nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, wenn hierfür ein „unabweisbares Bedürfnis" besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten und einen ordnungs-gemäßen Verfahrensverlauf zu gewährleisten. Ein solches Bedürfnis kann etwa bestehen, wenn sich die Hauptverhandlung über einen längeren Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem vorübergehenden Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden kann (st. Rspr., vgl. etwa BGH a. a. O.; Senat, Beschluss vom 6. August 2018 -.4 Ws 104/18 —, Rn. 11, juris m. w. N.).

b) Die Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgaben obliegt dabei zuvorderst dem Vorsitzenden des mit der Sache befassten Gerichts. Im Beschwerdeverfahren prüft der Senat allein, ob dieser die Grenzen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1. StPO eingehalten und sein Entscheidungsermessen fehlerfrei ausgeübt hat (vgl. BGH a. a. O.; Hanseatisches Ober-landesgericht in Bremen, Beschluss vom 30. April 2021 — 1 Ws 24/21 —, Rn. 13, juris).

Diese Einschränkung der Prüfungsbefugnis des Beschwerdegerichts war schon zur alten Rechtslage anerkannt (vgl. etwa Senat a.a.O.), und ergibt sich nunmehr aus dem Sinn und Zweck des § 144 Abs. 1 StPO als maßgeblicher Ermächtigungsgrundlage. Die Norm dient in erster Linie der zügigen Durchführung des Verfahrens. Die Vorbereitung und Leitung der Hauptverhandlung als Herzstück des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens obliegt im Grundsatz dem Vorsitzenden in eigener Zuständigkeit. Er hat sicherzustellen, dass der Anspruch des Angeklagten auf eine Verhandlung und ein Urteil innerhalb angemessener Frist gewahrt wird. Dem trägt es Rechnung, dass er nach Anklageerhebung zur Entscheidung über die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers berufen ist (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO). Deshalb entspricht es dem gesetzlichen Kompetenzgefüge, wenn das Beschwerdegericht nicht seine Beurteilung, wie die Hauptverhandlung zu gestalten ist, damit sie dem Beschleunigungsgrundsatz genügt, an die Stelle derjenigen des Vorsitzenden setzt. Dessen Beurteilung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nicht erfordert, kann das Beschwerdegericht nur dann beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält; anderenfalls hat es sie hinzunehmen (vgl. BGH a.a.O.).

c) Bei Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist die Einschätzung des Strafkammervorsitzenden; derzeit bestehe kein unabdingbares Bedürfnis für die Beiordnung, jedenfalls vertretbar.

aa) Ein unabweisbares Bedürfnis ergibt sich nicht aus dem Umfang des Verfahrensstoffes. Die Verfahrensakten umfassen 17 Hauptakten und 340 Fallakten sowie weitere Sonderbände. Ihr Umfang ist mithin — wie auch der Vorsitzende der Strafkammer bei seiner Entscheidung bedacht hat — beachtlich. Allerdings führt der Umfang nicht dazu, dass er nur im arbeitsteiligen Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden könnte. Eine außergewöhnliche rechtliche oder tatsächliche Komplexität geht mit dem Aktenumfang nämlich gerade nicht einher. Der Tatvorwurf betrifft vielmehr Serientaten, die nach einem gleichförmigen Muster abgelaufen sein sollen und denen jeweils kein außergewöhnlich komplizierter Sachverhalt zugrunde liegt.

Der Strafkammervorsitzende hat zudem durch eine vorausschauende Planung und Terminierung den Verfahrensbeteiligten ausreichend Gelegenheit verschafft, den Akteninhalt zu durchdringen und die Hauptverhandlung vorzubereiten. Zwischen der Eröffnungsentscheidung und dem bereits mit Verfügung vorn 20. August 2021 festgesetzten Beginn der Hauptverhandlung am 16. Februar 2020 liegen fast acht Monate.

bb) Dass der Wahlverteidiger des Angeklagten einen der 25 angesetzten Hauptverhandlungstermine nicht wahrnehmen können wird, ist derzeit nicht absehbar. Die mit Verfügung vom 20. August 2021 nach Anhörung aller Beteiligter erfolgte Anberaumung von 18 Terminen bis zum 6. Mai 2022 hat er vielmehr widerspruchslos gebilligt. Konkrete Einwände erhob er auch nicht, als der Strafkammervorsitzenden mit Schreiben vom 6. Dezember 2021 ankündigte, weitere Termine bestimmen zu wollen. Ohne sich zu den 15 vom Strafkammervorsitzenden unterbreiteten Terminvorschlägen im Einzelnen zu äußern, teilte er lediglich vage mit, er könne auf Grund „anderweitiger Gerichtstermine sowie übriger zeitlicher 'Dispositionen" diese Termine „kaum" gewährleisten.

Dass er damit tatsächlich gerade an den sieben Terminen, die der Strafkammervorsitzende nach Anhörung aller Beteiligter aus seiner Vorschlagsliste auswählte, verhindert ist, vermag der Senat nicht zu erkennen.

Auch die Beschwerdebegründung benennt eine solche Verhinderung nicht konkret. Die dort stattdessen angestellten Überlegungen zu möglichen organisatorischen Schwierigkeiten des auswärtigen Wahlverteidigers können schon deshalb nicht über-zeugen, weil solche von diesem zu keinem Zeitpunkt selbst geltend gemacht worden sind.

Selbst wenn sich eine Verhinderung des Wahlverteidigers an einzelnen Terminen nachträglich doch noch herausstellen sollte, würde daraus nicht notwendig ein unabweisbares Bedürfnis für die Pflichtverteidigerbestellung erwachsen. Die Verhinderung an einzelnen Tagen könnte vielmehr auch durch eine Beschränkung des Prozessstoffes auf nicht den Angeklagten betreffende .Verfahrensgegenstände kompensiert wer-den, so dass mit dem vom Wahlverteidiger zu entsendenden Vertreter verhandelt werden kann.

cc) Die voraussichtliche Dauer der Hauptverhandlung als solche macht die Bestellung eines zweiten Verteidigers zur Verfahrenssicherung ebenfalls nicht unabdingbar.

Jeder mehrtätigen Hauptverhandlung wohnt das Risiko inne, dass Verteidiger durch Erkrankung für einen Zeitraum ausfallen, der nicht mehr durch Unterbrechungen überbrückt werden kann. Diese Gefahr wird durch die Covid-19-Pandemie zusätzlich erhöht. Sie ist zum jetzigen Zeitpunkt gleichwohl eine abstrakte Gefahr, die nicht zur Unvertretbarkeit der gegenwärtigen Entscheidung des Strafkammervorsitzenden führt. Ihm verbleibt für den unwahrscheinlichen Fall einer solchen Erkrankung immer noch die Möglichkeit, dem Angeklagten sodann einen weiteren Pflichtverteidiger nach § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO zu bestellen (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2021 — StB 17/21 Rn. 9, juris; KG a: a.

dd) Schließlich begegnet es entgegen der Rechtsauffassung des Beschwerdeführers auch keinen durchgreifenden Bedenken, dass, der Strafkammervorsitzende im Rahmen seiner Gesamtabwägung ergänzend auch die praktischen Auswirkungen bedacht hat, die Zweitbeiordnungen bei einem gegen elf Angeklagte und sieben Einziehungs-beteiligte geführten Strafverfahren auf die Anzahl der für die Verhandlung zur Verfügung stehenden Säle hätten, in denen die pandemiebedingt gebotenen Abstände ein-gehalten werden könnten. Diese Erwägung ist nicht sachfremd, da die Anzahl der beteiligten Personen die zügige Durchführung des Verfahrens — die. zentrale Zielsetzung des § 144 Abs. 1 StPO — ebenfalls beeinflussen kann. Dass der Strafkammervorsitzende diesem Aspekt ein zu großes Gewicht beigemessen hätte, ist angesichts der nur beiläufigen Erwähnung in den Beschlussgründen nicht zu befürchten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz1 StPO.


Einsender: RA C. Hoenig, Berlin

Anmerkung:


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