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Entscheidungen

Haftfragen

Invollzugsetzung eines Haftbefehls, neu hervorgetretene Umstände

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 29.10.2021 – 2 Ws 114/21

Leitsatz des Gerichts: 1. Neu hervorgetretene Umstände im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO rechtfertigen die Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls dann, wenn sie zu einer Straferwartung führen, die von der Prognose des Haftrichters zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht, und sich nach einer Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass sich die Fluchtgefahr durch die Abweichung ganz wesentlich erhöht.
2. Stand aber dem Angeklagten die Möglichkeit einer für ihn nachteiligen Änderung der Prognose während der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen und kam er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nach und hat damit dokumentiert, dass er sich dem Verfahren zur Verfügung halten will, kommt der erneute Voll-zug des Haftbefehls nicht in Betracht.


2 Ws 114/21121 AR 222/21

In der Strafsache
gegen pp.

wegen Vergewaltigung u.a.

hat der 2. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 29. Oktober 2021 beschlossen:

1. Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Vollzug des Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom 10. August 2020 – 353 Gs 3473/20 – in Gestalt des Beschlusses des Landgericht Berlin vom 23. September 2021 unter Aufrechterhaltung der in dem Haftverschonungsbeschluss des Landgerichts Berlin vom 21. Dezember 2020 angeordneten Meldeauflage ausgesetzt; im Übrigen wird die Beschwerde verworfen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten in-soweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe:

Das Landgericht Berlin hat den seit dem 21. Dezember 2020 vom Vollzug der Untersuchungshaft verschonten Beschwerdeführer am 23. September 2021 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Mit Urteilsverkündung hat die Kammer ihren Haftverschonungsbeschluss aufgehoben und den Haftbefehl erneut in Vollzug gesetzt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte, der das Urteil fristgerecht mit der Revision angegriffen hat, mit seiner am 30. September 2021 erhobenen Beschwerde, der die Kammer nicht abgeholfen hat.

Dem Angeklagten wird vorgeworfen, seine Lebensgefährtin am 13. Februar 2020 in deren Wohnung zum ungeschützten oralen und vaginalen Geschlechtsverkehr gezwungen und sie dabei unter anderem mit beiden Händen gewürgt zu haben.

Der Verfahrensablauf stellt sich im Einzelnen wie folgt dar:

Am 10. August 2020 erließ das Amtsgericht Tiergarten im vorliegenden Verfahren gegen den Beschwerdeführer einen auf die Haftgründe der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO) und der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gestützten Haftbefehl, weil dieser sich – von der Geschädigten mit dem Tatvorwurf konfrontiert und zum Verlassen der gemeinsamen Wohnung aufgefordert – verborgen halte. Aufgrund dieses Haftbefehls wurde der Angeklagte am 1. November 2020 in Berlin festgenommen. In der Zeit vom 1. November 2020 bis zum 26. November 2020 verbüßte er zunächst eine Ersatzfreiheitsstrafe, ab dem 27. November wurde die Untersuchungshaft vollzogen. Am 9. November 2020 erhob die Staatsanwaltschaft auf der Grundlage eines gegenüber dem Haftbefehl unveränderten Sachverhalts Anklage zum Landgericht Berlin. Im Haftprüfungstermin am 21. Dezember 2020 vor der 2. großen Strafkammer legte der Beschwerdeführer eine amtliche Meldebestätigung vor, wonach er seit dem 1. Mai 2020 in der Sp. Straße in Berlin gemeldet war, woraufhin ihn die Kammer vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschonte und ihm aufgab, sich einmal wöchentlich bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle zu melden und keinen Kontakt zu der Geschädigten aufzunehmen. Mit Beschluss vom 18. Januar 2021 wurde die Anklage ohne Änderungen unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zugelassen.

Zwischen dem 11. März 2021 und dem 23. September 2021 fand an 13 Sitzungstagen, zu denen der Angeklagte – von einer Verspätung abgesehen – jeweils beanstandungsfrei erschienen ist, die Hauptverhandlung statt. Über den Antrag der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft, den Angeklagten unter Aufrechterhaltung der Haftverhältnisse zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten zu verurteilen, hinausgehend, hat die Kammer den Angeklagten, der die Tat bestritten und dessen Verteidigerin einen Freispruch beantragt hat, am 23. September 2021 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Ferner hat sie unter Aufhebung des Haftverschonungsbeschlusses vom 21. Dezember 2020 den Haftbefehl vom 10. August 2020 wieder in Vollzug gesetzt und den Beschwerdeführer noch im Saal verhaften lassen.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner am 30. September 2021 beim Landgericht eingegangenen Beschwerde, mit der er beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise unter geeigneten Auflagen außer Vollzug zu setzen. Im Wesentlichen macht er geltend, es liege angesichts seiner persönlichen Verhältnisse und des Umstands, dass er sich der Hauptverhandlung gestellt habe, bereits keine Fluchtgefahr vor. Die Kammer hat der Beschwerde am 4. Oktober 2021 nicht abgeholfen.

II.

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl ist nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig. Sie hat Erfolg, soweit die Kammer den Haftbefehl unter Aufhebung ihres Haftverschonungsbeschlusses wieder in Vollzug gesetzt hat.

1. Die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft gemäß § 112 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 StPO liegen vor.

a) Der Angeklagte ist der ihm im Haftbefehl zur Last gelegten Taten dringend verdächtig, § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO. Das ergibt sich bereits daraus, dass die Kammer nach der Beweisaufnahme die Überzeugung von seiner Täterschaft gewonnen und ihn schuldig gesprochen hat. Auch das Haftbeschwerdevorbringen richtet sich nicht gegen den dringenden Tatverdacht.

b) Es besteht unter Berücksichtigung der maßgeblichen Rechtsgrundsätze (vgl. KG, Beschluss vom 3. November 2011 – 4 Ws 96/11 –, juris Rdn. 4 ff.) der Haftgrund der Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.

Der Angeklagte muss damit rechnen, dass das von ihm mit der Revision angegriffene Urteil rechtskräftig wird und er unter Anrechnung der Untersuchungshaft (§ 51 Abs. 1 StGB) dann einen Strafrest von annähernd fünf Jahren zu verbüßen haben wird, was ihm einen erheblichen Anreiz bietet, sich dem weiteren Verfahren, insbesondere der Strafvollstreckung, durch Flucht oder Untertauchen zu entziehen. Eine Aussetzung des Strafrests zur Bewährung nach § 57 StGB ist derzeit – im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG StV 2008, 421, juris Rdn. 37 m.w.N.) bei dem Angeklagten aufgrund der bei Sexualstraftaten selbst bei Erstverbüßern erhöhten Prognoseanforderungen (vgl. KG, Beschlüsse vom 13. Januar 2006 – 5 Ws 623/05 – und 30. Mai 2005 – 5 Ws 263/05 –) konkret nicht zu erwarten. Mit einer Aussetzung des Strafrests zur Bewährung nach § 57 StGB kann der lediglich mit einer Gesamtgeldstrafe vorbestrafte Angeklagte, der bereits im Jahr 2018 eine kurze Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen musste, im Falle des Rechtskrafteintritts derzeit nicht rechnen. Denn bei Sexualstraftätern ist besonders kritisch zu prüfen, ob unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit die Aussetzung der Reststrafe zur Be-währung verantwortet werden kann, weil unter anderem Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung den Gesetzgeber erst veranlasst haben, mit der Einführung des Begriffs „Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit“ in § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB den Gerichten aufzugeben, diesem Aspekt ein besonderes Augenmerk zu widmen (vgl. KG a.a.O.). Derzeit ist noch ungewiss, ob diese kritische Prüfung zu Gunsten des Angeklagten ausgehen wird und die in der Tat zu Tage getretenen gravierenden Persönlichkeitsdefizite zum Zeitpunkt der Prüfung der Reststrafenaussetzung behoben sein werden.

Die persönlichen Verhältnisse des die Tat bestreitenden Angeklagten sind nicht geeignet, die aus der Erwartung eines ganz erheblichen Freiheitsentzuges herzuleitende Fluchtgefahr entscheidend zu mindern. Der Beschwerdeführer, der die südafrikanische Staatsangehörigkeit besitzt, lebt zwar seit 2003 in Deutschland und seit 2010 in Berlin, hielt sich jedoch noch 2016 für einen Zeitraum von etwa sechs Monaten in seinem Heimatland auf. Seine derzeitige Lebenssituation ist sowohl beruflich als auch privat wenig gefestigt. Er verfügt in Berlin über keine eigene Wohnung, ist ohne partnerschaftliche Bindung und hatte zu den zwei von seinen insgesamt drei Kindern, die in Deutschland leben, zuletzt vor mehr als einem Jahr persönlichen Kontakt. Der Angeklagte, der keine Schule besucht und nach eigenen Angaben nach seiner Ankunft in Deutschland eine Feinwerk-Mechaniker-Lehre absolviert hat, war zuletzt seit Mitte September bis zu seiner erneuten Inhaftierung an drei Tagen in der Woche als Barkeeper und Kellner tätig. Auch seine beruflichen Bindungen sind daher angesichts der Höhe der im Falle der Rechtskraft zu verbüßenden Restfreiheitsstrafe nicht geeignet, die Fluchtgefahr entscheidend zu mindern.

2. Der Haftgrund der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO) ist demgegenüber jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr gegeben, nachdem der Angeklagte aufgrund des Haftbefehls ergriffen worden ist, dem Landgericht in der Folge seine Melde- und Aufenthaltsanschriften mitgeteilt hat, über einen Zeitraum von neun Monaten der Meldeauflage aus dem Haftverschonungsbeschluss beanstandungsfrei nachgekommen sowie zu sämtlichen Hauptverhandlungsterminen erschienen ist.

3. Allerdings steht der Invollzugsetzung des Haftbefehls § 116 Abs. 4 StPO entgegen, wonach bei vorangegangener Haftverschonung der Vollzug des Haftbefehls nur unter besonderen Voraussetzungen angeordnet werden darf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. September 2012 – 2 BvR 1874/12 –, juris Rdn. 24).

Nach dieser Vorschrift kommt die Inhaftierung nur in Betracht, wenn der Angeklagte den ihm bei der Haftverschonung auferlegten Pflichten oder Beschränkungen gröblich zuwiderhandelt (§ 116 Abs. 4 Nr. 1 StPO), er Anstalten zur Flucht trifft, auf Ladungen unentschuldigt ausbleibt oder sonst zeigt, dass das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war (§ 116 Abs. 4 Nr. 2 StPO), oder neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen (§ 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO). Die Voraussetzungen von § 116 Abs. 4 Nr. 1 und 2 StPO sind ersichtlich nicht erfüllt, weil der Angeklagte sämtlichen Auflagen nachgekommen und zur Hauptverhandlung an allen Sitzungstagen beanstandungsfrei erschienen ist.

a) „Neu“ im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sind nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände nur dann, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Das maßgebliche Kriterium für den Widerruf besteht mit anderen Worten in einem Wegfall der Vertrauensgrundlage der Aussetzungsentscheidung (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 11. Juli 2012 – 2 BvR 1092/12 –, juris Rdn. 43, vom 11. Juni 2012 – 2 BvR 720/12 –, juris Rdn. 48 und vom 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 –, juris Rdn. 18).

Ein nach Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. Ob dies der Fall ist, ist durch Abwägung und Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu ermitteln (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 11. Juli 2012 – 2 BvR 1092/12 –, juris Rdn. 45, vom 11. Juni 2012 – 2 BvR 720/12 –, juris Rdn. 50 und vom 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 –, juris Rdn. 20)

Erforderlich sind nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Angeklagte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausging. Bloße Mutmaßungen können insoweit nicht genügen. Selbst der Umstand, dass der um ein günstiges Ergebnis bemühte Angeklagte infolge des Schlussantrags der Staatsanwaltschaft oder gar durch das Urteil selbst die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, kann einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern ihm – wie hier – die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs stets vor Augen stand und er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachkam (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 11. Juli 2012 – 2 BvR 1092/12 –, juris Rdn. 46, vom 11. Juni 2012 – 2 BvR 720/12 –, juris Rdn. 51 und vom 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 –, juris Rdn. 23).

Der erneute Vollzug des Haftbefehls aufgrund von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO kommt auch in Betracht, wenn ein Angeklagter unerwartet streng verurteilt wird, im Ermittlungsverfahren neue Taten hinzugetreten sind (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8. Juli 2021 – 2 BvR 575/21 –, juris Rdn. 45 und vom 17. Dezember 2020 – 2 BvR 1787/20 –, juris Rdn. 53) oder wenn sonstige (auch zeitlich vor dem Aussetzungsbeschluss entstandene) schwerwiegende Tatsachen nachträglich bekannt werden, die das Gericht, hätte es sie im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung gekannt, zur Ablehnung der Haftverschonung veranlasst hätten. War dagegen schon zu diesem Zeitpunkt mit der später ausgesprochenen – auch höheren – Strafe zu rechnen und hat der Angeklagte die ihm erteilten Auflagen gleichwohl korrekt befolgt, liegt kein Fall des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vor (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 11. Juli 2012 – 2 BvR 1092/12 –, juris Rdn. 47, vom 11. Juni 2012 – 2 BvR 720/12 –, juris Rdn. 53 und vom 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 –, juris Rdn. 22).

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe fehlt es hier an neu hervorgetretenen Umständen im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO. Vorliegend hat sich am Tatvorwurf der Anklage gegenüber dem Inhalt des Haftbefehls nichts geändert. Auch die Verurteilung durch das Landgericht zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren erfolgte wegen der von Anfang an vorgeworfenen Tat.

Der dem Beschwerdeführer im Haftbefehl vom 10. August 2020 zur Last gelegte Sachverhalt entspricht dem, der von der Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage vom 9. November 2020 zu Grund gelegt wurde und – soweit ersichtlich – auch dem landgerichtlichen Urteil zugrunde liegt. Allein auf der Grundlage des Haftbefehls war bereits bei einem Strafrahmen für eine Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1 und Nr. 2, Abs. 6 Nr. 1 StGB von zwei Jahren bis zu 15 Jahren eine Straferwartung hinsichtlich einer Freiheitsstrafe, wie sie das Landgericht in seinem Urteil vom 23. September 2021 ausgesprochen hat, in jeder Hinsicht realistisch. Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte trotz der im vorliegenden Verfahren Ende 2020 erlittenen mehrwöchigen Untersuchungshaft und der insgesamt 13 Sitzungstage umfassenden Hauptverhandlung darauf vertraut haben könnte, das Verfahren werde ebenso wie das gegen ihn wegen Vergewaltigung einer ehemaligen Lebensgefährtin geführte und Anfang 2018 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellte Ermittlungsverfahren 284 Js 302/16 glimpflich für ihn ausgehen, fehlen. Obwohl er demnach von der Verhängung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe und sich daraus möglicherweise ergebenden aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen ausgehen musste, hat er sich dem Verfahren weiter zur Verfügung gehalten und an allen 13 Hauptverhandlungstagen teilgenommen. Insbesondere ist er zur Urteilsverkündung am Nachmittag des letzten Verhandlungstages erschienen, nachdem die Staatsanwaltschaft in ihrem Schlussvortrag am Vormittag die Verhängung einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten beantragt hatte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Risiko einer Bestrafung für den den Tatvorwurf bestreitenden, aus seiner Sicht also einen Freispruch erwartenden, Beschwerdeführer deutlich erhöht. Mit seiner Teilnahme an der Urteilsverkündung hat er dokumentiert, dass er sich dem Verfahren auch weiterhin zur Verfügung halten will.

Schließlich ist der Beschwerdeführer auch weder unerwartet streng bestraft worden noch sind sonstige schwerwiegende Tatsachen nachträglich bekannt geworden. Ins-besondere stellt der Umstand, dass sich der Beschwerdeführer zeitweise unter einer anderen als der der Kammer im Haftprüfungstermin genannten Meldeanschrift aufgehalten hat, keine derartige Tatsache dar. Denn zum einen hat er dies in der Exploration durch den psychiatrischen Sachverständigen Mitte März 2021 von sich aus offenbart, so dass es der Kammer spätestens seit Übersendung des schriftlichen Sachverständigengutachtens am 23. März 2021 bekannt sein musste. Zum anderen hat er auf Nachfrage in der Hauptverhandlung am 25. März 2021, dem dritten Verhandlungstag, seine aktuelle Aufenthaltsanschrift mitgeteilt.

c) Ein neu hervorgetretener Umstand im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO kann auch in der Verstärkung des bisherigen oder im Hinzutreten eines weiteren Haftgrundes gesehen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 – juris Rdn. 20; OLG Frankfurt, Beschluss vom 24. März 2010 – 1 Ws 38/10 – juris Rdn. 10). Eine Verstärkung des bisherigen Haftgrundes der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ist nach dem Vorstehenden nicht feststellbar. Die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten haben sich seit Erlass des Haftverschonungsbeschlusses vom 21. Dezember 2020 im Wesentlichen nicht geändert.

Ein weiterer Haftgrund ist nicht hinzugetreten, vielmehr ist der ursprünglich angenommene Haftgrund der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO), wie dargelegt, entfallen.

4. Der Senat setzt den Vollzug des Haftbefehls daher, wie auch von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin beantragt, nach § 116 Abs. 1 Satz 1 StPO unter Aufrechterhaltung der vom Landgericht in dem Haftverschonungsbeschluss vom 21. Dezember 2020 angeordneten Meldeauflage aus. Die Aufrechterhaltung des von der Kammer ebenfalls angeordneten Kontaktverbots kam nicht in Betracht, weil es nicht geeignet ist, den Angeklagten davon abzuhalten, sich dem Verfahren zu entziehen. Weil die – hier nicht gegebenen – Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO auch bei einer Verschärfung von Auflagen gegeben sein müssen, von deren Erfüllbarkeit und Erfüllung die Haftverschonung abhängt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. September 2012 – 2 BvR 1874/12 – juris Rdn. 24; OLG Frankfurt a.a.O. Rdn. 3 f. zur Sicherheitsleistung), war für eine Verschärfung der Meldeauflage kein Raum.

III.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse zur Last, weil sonst niemand für sie haftet. Die Auslagenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO. Eine Entscheidung nach § 473 Abs. 4 StPO ist nicht veranlasst, obwohl der Angeklagte sich mit seiner Beschwerde auch erfolglos gegen die Aufrechterhaltung des Haftbefehls gewandt hat, weil er sein wesentliches Ziel, nämlich die Freilassung aus der Untersuchungshaft, erreicht hat.


Einsender: VorsRiKG O. Arnoldi, Berlin

Anmerkung:


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