Gericht / Entscheidungsdatum: LG Bonn, Beschl. v. 06.12.2021 - 67 Qs 63/21
Eigener Leitsatz: Dem Beschuldigten ist zumindest dann nachträglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Entscheidung über den vor Beendigung des Verfahrens gestellten Antrag sachwidrig verzögert worden ist.
Landgericht Bonn
Beschluss
In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.
Verteidiger: Rechtsanwalt Dr. Peter-Rene Gülpen, Kirchstr. 11, 53840 Troisdorf,
hat die 13. große Strafkammer des Landgerichts Bonn auf die sofortige Beschwerde des vormaligen Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bonn vom 05.08.2021 - Az: 50 Gs 1027/21 - durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht pp., den Richter am Landgericht pp. und die Richterin am Landgericht Dr. pp. am 06.12.2021 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des vormaligen Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Bonn vom 05.08.2021 aufgehoben und dem vormaligen Beschuldigten Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des vormaligen Beschuldigten werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Bonn führte unter dem im Rubrum genannten staatsanwaltschaftlichen Aktenzeichen gegen den vormaligen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verschaffens von falschen amtlichen Ausweisen nach § 276 StGB. Das Verfahren erwuchs aus der Auswertung von Chatprotokollen in einem anderen Verfahren, Az. 658 Js 1/21, gegen den vormaligen Beschuldigten wegen schweren Bandendiebstahls, § 244a StGB (BI. 2 d.A.).
Mit Schreiben seines Verteidigers an das Polizeipräsidium Bonn vom 11.05.2021 beantragte dieser, ihm seinen Verteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen. Zur Begründung führte er aus, dass er sich zurzeit in der JVA Rheinbach befinde (BI. 11 d.A.). Das Polizeipräsidium übersandte die Akte mit Verfügung vom 24.05.2021 zur weiteren Sachbearbeitung an die Staatsanwaltschaft Bonn, wo diese am 26.05.2021 einging (BI. 15 d.A.). Dort verfügte die zuständige Dezernentin am 04.06.2021, dass die Akte zunächst zur Akteneinsicht, wie beantragt, an den Verteidiger übersandt werden solle, und teilte dem Verteidiger zugleich mit, dass nach Rückkehr der Akte aus der Akteneinsicht über den Antrag entschieden werde. Mit Schreiben seines Verteidigers vom 10.06.2021 erinnerte der vormalige Beschuldige an seinen Antrag vom 11.05.2021 (BI. 16 d.A.). Nach Rückgabe der Akte durch den Verteidiger übersandt die Staatsanwaltschaft die Akte am 22.06.2021 an das Amtsgericht Bonn mit dem Antrag, dem vormaligen Beschuldigten den Verteidiger gemäß § 140 Abs. 1 Nr: 5 StPO als Pflichtverteidiger beizuordnen, wo die Akte am 24.06.2021 einging (BI. 20 d.A.). Das Amtsgericht Bonn übersandte die Akte mit Verfügung vom 25.06.2021 zurück mit der Bitte um Mitteilung, ob das Verfahren überhaupt weiter betrieben werden solle oder eine Einstellung nach § 154 StPO beabsichtigt sei, mit dem Hinweis, dass eine Bestellung eines Pflichtverteidigers nur dann geboten sei, wenn das Verfahren auch betrieben werde (BI. 21 d.A.). Die Akte ging am 28.06.2021 bei der Staatsanwaltschaft ein. Mit Verfügung vom 14.07.2021 (BI. 22 d.A.) stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren gemäß § 154 StPO gegen den vormaligen Beschuldigten im Hinblick auf eine zu erwartende Strafe in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen 658 Js 1/21 - StA Bonn - ein und übersandte die Akte zurück an das Amtsgericht unter Bezugnahme auf die Einstellungsverfügung zur Entscheidung über den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers (BI. 22 d.A.), wobei sich nicht ergibt, wann die Akte dort einging.
Das Amtsgericht Bonn wies sodann mit Beschluss 05.08.2021 den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers mit der Begründung zurück, dass das Verfahren nach § 154 StPO eingestellt worden sei (BI. 26 d.A.).
Gegen diesen Beschluss legte der vormalige Beschuldigte mit Schreiben seines Verteidigers vom 10.08.2021 sofortige Beschwerde ein (BI. 34 d.A.), wobei er diese mit Schreiben vom 03.09.2021 und 15.09.2021 in rechtlicher Hinsicht begründete und seine Begründung vertiefte.
II.
Die zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen amtsgerichtlichen Beschlusses und Bestellung des Verteidigers als Pflichtverteidiger.
1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig.
Die sofortige Beschwerde ist form- und fristgerecht erhoben und es liegt insbesondere die erforderliche Beschwer vor.
Im Ausgangspunkt zutreffend stellt das Amtsgericht fest, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nicht mehr, in Betracht kommt. Dies entspricht der gefestigten Kammerrechtsprechung (vgl. Kammerbeschlüsse vom 14.05.2021 63 Qs 33/21, BeckRS 2021, 30414; vom 19.07.2021 63 Qs 51/21, BeckRS 2021, 27463). Denn im Falle einer Einstellung des Verfahrens, sei es auch nur nach § 154 StPO, kann das Ziel, dem Beschuldigten eine angemessene Rechtsverteidigung zu ermöglichen, nicht mehr erreicht werden (Kammerbeschluss vom 14.05.2021 63 Qs 33/21, Tz. 16, BeckRS 2021, 30414). Insoweit folgt für das Beschwerdeverfahren, dass es hierfür grundsätzlich an einer Beschwer fehlt.
Wie die Kammer aber in gleichsam gefestigter Rechtsprechung ausgeführt hat, kann dies im Einzelfall dann anders zu beurteilen sein, wenn in der auf die Einstellung erfolgten Abweisung des Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers eine objektiv willkürliche Sachbehandlung zu sehen ist (Kammerbeschlüsse vom 14,05.2021 63 Qs 33/21, BeckRS 2021, 30414; vom 19.07.2021 63 Qs 51/21, BeckRS 2021, 27463).
Ein solcher Ausnahmefall einer objektiv willkürlichen Sachbehandlung ist hier gegeben.
Denn die Staatsanwaltschaft hat bereits mit ihrem Beiordnungsantrag vom 22.06.2021 zu Ausdruck gebracht, dass sie das hiesige Verfahren weiter betreiben wollte. Es bestehen auch wie sich bereits aus dem Umstand ergibt, dass das hiesige Verfahren aus einem anderen Ermittlungsverfahren resultierte, in welchem den vormaligen Beschuldigten eine deutlich schwerwiegendere Straftat zur Last gelegt wird keine Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft von diesem Verfahren (Az. 658 Js 1/21) erst nach dem Antrag vom 22.06.2021 Kenntnis erlangt haben könnte.
Insoweit oblag es allein der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens, darüber zu entscheiden, ob sie das hiesige Verfahren in Kenntnis aller Umstände weiter betreibt oder nach § 154 Abs. 1 StPO einer Einstellung zuführt. Vor Erhebung der Anklage (§ 154 Abs. 2 StPO) hat das Amtsgericht hierüber nicht zu befinden. Strafprozessual ist in § 154 Abs. 1 StPO auch nicht vorgesehen, dass dem Amtsgericht hierzu vor Erhebung der öffentlichen Klage ein wie auch immer geartetes Anregungsrecht zustünde.
Mit Übersendung des Antrags durch die Staatsanwaltschaft hatte das Amtsgericht gemäß § 141 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO daher unverzüglich zu entscheiden. Vor dem Hintergrund, dass der vormalige Beschuldigte seinen Beiordnungsantrag bereits am 11.05.2021 zulässigerweise bei der Polizei, § 142 Abs. 1 S. 1 StPO, gestellt hatte, war eine Entscheidung über den Antrag am 05.082021 nicht mehr unverzüglich im Sinne des § 141 StPO. Ein Beurteilungsspielraum unter Berücksichtigung von fiskalischen Interessen besteht nicht (BT-Drs. 19/13829, S. 37). Zwar muss die Entscheidung nicht sofort getroffen werden, aber so zügig, dass die Verfahrensrechte des Beschuldigten gewahrt werden (BT-Drs. 19/13829, a.a.O.). Gemessen hieran handelt es sich bei der gegebenen Sachlage, dass die Voraussetzungen für eine Bestellung bei Antragstellung offensichtlich vorlagen, durch die Rücksendung der Akte an die Staatsanwaltschaft mit der Rückfrage nach einer Einstellung um eine sachlich unbegründete Verzögerung der Sachentscheidung.
Vielmehr hat das Amtsgericht durch die Entscheidung, die Akte zur Prüfung der Einstellung des Verfahrens nach § 154 Abs. 1 StPO an die Staatsanwaltschaft zurückzusenden und eine Einstellung zu erreichen, die Verfahrensrechte des vormaligen Beschuldigten eingeschränkt, da nach der vorstehend zitierten Kammerrechtsprechung eine rückwirkende oder nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers unzulässig ist. Dabei versteht es sich von selbst, dass die Amtsgerichte die vorstehend zitierte Rechtsprechung der Kammer nicht dadurch missbrauchen dürfen, indem sie vor Entscheidung des bereits gestellten Beiordnungsantrags auf die Einstellung des Verfahrens hinwirken und so planmäßig die Verfahrensrechte der Beschuldigten unterlaufen.
Das Amtsgericht war daher aufgrund des Vorliegens der Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gehalten, dem Antrag des vormaligen Beschuldigten zu entsprechen und ihm seinen Verteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen. Eine Prüfung des Beurteilungsspielraums war insoweit nicht erforderlich, da in den Fällen des § 140 Abs. 1 StPO ein solcher, anders als bei § 140 Abs. 2 StPO, nicht eröffnet ist (Krawcyk in: BeckOK-StPO, 41. Edition Stand 01.10.2021, § 140 Rn. 21).
2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.
Nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ist dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn er sich auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet.
Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Der vormalige Beschuldigte befand sich auch zum Zeitpunkt der amtsgerichtlichen Entscheidung in der JVA Rheinbach.
3. In der Rechtsfolge war dem Antrag des vormaligen Beschuldigten zu entsprechen und ihm sein Verteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen.
Die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit kam unter den gegebenen Umständen nicht in Betracht. penn dies würde dem vormaligen Beschuldigten lediglich den Nachweis des Vorliegens einer Amtspflichtverletzung im Rahmen eines Schadensersatzanspruchs nach § 839 BGB/Art. 34 GG vermitteln. Vielmehr war der Verletzung der Verfahrensrechte des vormaligen Beschuldigten durch die Bestellung seines Verteidigers als Pflichtverteidiger Rechnung zu tragen.
4. Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.
Einsender: RA Dr. R. Gülpen, Troisdorf
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