Gericht / Entscheidungsdatum: LG Gera, Beschl. v. 10.11.2021 - 11 Qs 309/21
Leitsatz: Eine nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung kann erfolgen, wenn zum Zeitpunkt des rechtzeitig gestellten und entscheidungsreifen Antrags auf Beiordnung ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag und das Erfordernis der Unverzüglichkeit bei der Bestellung nicht ausreichend beachtet wurde.
Landgericht Gera
11 Qs 309/21
In pp.
Verteidiger:
wegen Diebstahl
hat die 11. Strafkammer des Landgerichts Gera durch Vorsitzende Richterin am Landgericht, Richterin und
Richterin am Landgericht am 10.11.2021 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des vormals Beschuldigten pp. gegen den Beschluss des Amtsgerichts Gera vom 22.09.2021 wird dieser aufgehoben.
2. Dem vormals Beschuldigten wird Rechtsanwalt pp. für das Ermittlungsverfahren als Pflichtverteidiger bestellt
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des vormals Beschuldigten trägt die Staatskasse.
Gründe:
Der Beschwerdeführer war Beschuldigter eines Ermittlungsverfahrens wegen Diebstahls geringwertiger Sachen.
Mit Schriftsatz vom 28.06.2021, eingegangen bei der PI Saalfeld am 30.06.2021 beantragte der Verteidiger namens und in Vollmacht des Beschuldigten unter korrekter Bezeichnung der polizeilichen Tagebuchnummer seine Beiordnung als Pflichtverteidiger für den Beschuldigten. Zu diesem Zeitpunkt war das Ermittlungsverfahren mit Schlussvermerk vom 21.06.2021 der Staatsanwaltschaft Gera zur weiteren Entscheidung vorgelegt und dort am 28.06.2021 eingegangen.
Der Bundeszentralregisterauszug des Beschuldigten vorn 04.08.2021 wies 22 Voreintragungen aus. Unter Ziffer 21. ist vermerkt, dass die Aussetzung einer vom Amtsgericht Wittenberg im Wege der nachträglichen Gesamtstrafenbildung verhängten Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten widerrufen wurde.
Seit 29.07.2021 befindet sich der Beschuldigte in dieser Sache in Strafhaft.
Mit Verfügung vom 05.08.2021 sah die Staatsanwaltschaft Gera gemäß § 154 Abs. 1 StPO im Hinblick auf die in einem weiteren Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Gera unter anderem wegen des Verdachts der Körperverletzung anderweitig zu erwartende Strafe von der weiteren Verfolgung ab.
Mit Schreiben vom 30.08. und 06.09.2021 wies der Verteidiger darauf hin, dass er bereits am 28.06.2021 einen Beiordnungsantrag gestellt hatte und bat um Vorlage seines Antrages an das Amtsgericht Gera zur Entscheidung.
Mit dem Beschluss vom 22.09.2021, dem Beschuldigten zugestellt am 08,10.2021, hat das Amtsgericht Gera die nachträgliche Beiordnung als Pflichtverteidiger mit der Begründung abgelehnt, dass im Zeitpunkt, in dem der Beiordnungsantrag eingegangen ist, die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 und Abs. 2 StPO nicht vorgelegen hätten
Gegen den Beschluss wendet sich der Beschuldigte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 04.10.2021. Er verweist insbesondere darauf, dass sich der Beschuldigte in anderer Sache seit Anfang August 2021 in Haft befinde.
Die Staatsanwaltschaft Gera ist der Beschwerde zuletzt mit Verfügung vom 15.10.2021 mit der Begründung entgegen getreten, es sei nicht bekannt, dass sich der Beschuldigte derzeit anderweitig in Haft befinde.
Das Rechtsmittel des Beschwerdeführers ist als sofortige Beschwerde zulässig, insbesondere statthaft und fristgerecht, §§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO. Unabhängig davon, dass sich ein Empfangsbekenntnis des Verteidigers nicht bei den Akten befindet, lief die Wochenfrist jedenfalls nicht vor dem 15.10.2021 ab, nachdem dem vormals Beschuldigten die Entscheidung des Amtsgerichts erst am 08.10.2021 in der Justizvollzugsanstallt Untermaßfeld zugestellt wurde, § 37 Abs. 2 StPO.
Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
Zutreffend ist das Amtsgericht bei seiner Entscheidung zunächst davon ausgegangen, dass eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung insbesondere nach der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung mit Wirkung zum 13.12.2019 nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen ist. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung kann danach erfolgen, wenn zum Zeitpunkt des rechtzeitig gestellten und entscheiduhgsreifen Antrags auf Beiordnung ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag und das Erfordernis der Unverzüglichkeit bei der Bestellung nicht ausreichend beachtet wurde,
Zur früheren Rechtslage war zwar weitgehend anerkannt, dass eine Pflichtverteidigerbestellung nur für die Zukunft möglich ist, da die Beiordnung dem Zweck einer zukünftigen ordnungsgemäßen Verteidigung und nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten oder einem Vergütungsanspruch des Verteidigers gegen die Staatskasse dient (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. § 140 Rn. 19). Nach Auffassung der Kammer gilt dies für die neue Rechtslage jedenfalls nicht mehr uneingeschränkt (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 - Ws 120/20; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 04. Mai 2021, Az. 12 Qs 22/21 , Rn. 17; LG Hamburg, Beschluss vom 26. März 2021 - 604 Qs 6/21, BeckRS 2021, 6859 Rn 9; LG Bochum, Beschluss vorn 18. September 2020 - 11-10 Qs 6/20, Rn. 42 - juris.) Deshalb geht die Kammer davon aus, dass im Lichte der PKH-Richtlinie eine nachträgliche Verteidigerbestellung nicht versagt werden kann, wenn die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde (so auch LG Gera, Beschlüsse vorn 22.12.2020, Az. 11 Qs 362/20 und 11 Qs 323/20; r3esohluss vorn 23.12.2020, Az. 336/20 und Beschluss vom 31.03.2021, Az. 11 Qs 96/21).
Seit der mit Wirkung vorn 13.12.2019 in Kraft getretenen Neureglung des Rechts der notwendigen Verteidigung liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn der Angeklagte sich auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer (Haft-)Anstalt befindet. Es kommt dabei nicht darauf an, dass die Haft nicht im vorliegenden Verfahren vollzogen wurde (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage, § 141 Rn. 15 m. w. N.). Ein Fall der notwendigen Verteidigung lag daher gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO jedenfalls ab dem 29.07.2021 vor, da sich der Beschwerdeführer ab diesem Zeitpunkt in anderer Sache in Strafhaft befunden hat.
Der Antrag auf Beiordnung wurde auch rechtzeitig, nämlich bereits am 28.06.2021 und damit gut 5 Wochen vor der Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Gera gestellt.
Nach § 141 Abs. 1 StPO ist unverzüglich eine Entscheidung über die beantragte Bestellung als Pflichtverteidiger herbeizuführen. Auch wenn dieses Gebot erst seit dem 13.12.2019 ausdrücklich in § 141 Abs. 1 StPO normiert ist, war bereits nach alter Rechtslage anerkannt, dass sich aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren eine Verpflichtung zur zeitnahen Entscheidung über den Antrag ergibt. Der Ermittlungsrichter ist demnach gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO gehalten, unverzüglich über den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung zu entscheiden, um die Verteidigungsrechte des Beschuldigten zu wahren (BT-Dr. 19/13829, S. 37). Bereits zu § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO a. F. war dabei anerkannt, dass diese Zeitspanne im Sinne einer Prüfungs- und Überlegungsfrist von 1 - 2 Wochen zu bemessen ist (vgl. Lüderssen/Jahn, in: LR-StPO, 26. Aufl., § 141 Rn 19). Um dem Beschleunigungsgebot im Interesse des Beschuldigten Rechnung zu tragen, bindet dies jedoch nicht nur den Ermittlungsrichter hinsichtlich eines ihm vorliegenden Antrages, sondern gleichermaßen Polizei und Staatsanwaltschaft und verpflichtet auch diese Strafverfolgungsbehörden zur unverzüglichen Weiterleitung eines an diese gerichteten Beiord-nungsantrages. Mit anderen Worten ist über einen rechtzeitig gestellten Beiordnungsantrag auch dann nicht unverzüglich entschieden, wenn dessen Weiterleitung an das zur Entscheidung berufene Amtsgericht aus behördeninternen Gründen unterblieben ist, auf die der Beschuldigte keinen Einfluss hat.
Vorliegend hat die Polizeiinspektion. Saalfeld den Beiordnungsantrag vom 28.06.2021 erst am 30.08.2021 und damit über 2 Monate nach dessen Eingang an die Staatsanwaltschaft Gera weitergeleitet, obwohl dieser korrekte Angäben zum Beschuldigten und zur polizeilichen Tagebuch-nummer des Ermittlungsverfahrens enthält. Obwohl dieser Antrag der Staatsanwaltschaft Gera am 31.08.2021 vorlag und der Verteidiger mit 2 weiteren Schreiben vom 06.09.2021 und 08.09.2021 die unverzügliche Weiterleitung an das Amtsgericht anmahnte, erfolgte die Vorlage an das Amtsgericht Gera erst mit Verfügung vom 20.09.2021. Mit der Entscheidung des Amtsgerichts am 22.09.2021 und, damit knapp 3 Monate nach Antragstellung wurde daher nicht mehr unverzüglich über den Beiordnungsantrag entschieden, ohne dass der vormals Beschuldigte einen Einfluss auf die verzögerte Weiterleitung des Antrages hatte.
Dass die Inhaftierung des Beschuldigten in anderer Sache erst nach dem Antrag auf Beiordnung erfolgte und die Voraussetzung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO erst zu dem späteren Zeitpunkt eintrat, ist unschädlich. Lag diese Voraussetzung jedenfalls vor, als die Staatsanwaltschaft Gera die Einstellung gemäß § 154 StPO das Amtsgericht über den Beiordnungsantrag entschieden hat, wäre diese auch zu berücksichtigen gewesen. Dass die Inhaftierung des Beschuldigten in anderer Sache noch nicht aktenkundig war, rechtfertigt die Ablehnung der Beiordnung nicht. Nachdem sich nämlich aus dem Bundeszentralregisterauszug vom 04.082021 ein Bewährungswiderruf ergibt und weitere gegen den Beschuldigten geführte Ermittlungsverfahren - eines davon bei der Staatsanwaltschaft Gera unter anderem wegen Körperverletzung (Az. 270 Js 2056/21) - bereits aktenkundig waren, hätten diese Umstände vor der Einstellungsverfügung, jedenfalls aber vor der Entscheidung über den Beiordnungsantrag des Verteidigers durch entsprechende Nachforschungen aufgeklärt werden müssen.
Die Beschwerdekammer hat die entsprechenden Auskünfte bei der Justizvollzugsanstalt Untermaßfeld und der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau gemäß § 309 StPO noch eingeholt. Danach war dem Beschuldigten auch rückwirkend ein Pflichtverteidiger zu bestellen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO analog.
Einsender: RA J. - R. Funck, Braunschweig
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