Gericht / Entscheidungsdatum: LG Schwerin, Beschl. v. 30.09.2021 31 Qs 56/21
Leitsatz: Einem Beschuldigten ist ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn er unter einer besonders umfassenden Betreuung steht, so dass von einer fehlenden Verteidigungsfähigkeit auszugehen ist. Die Betreuung kann als umfassend eingestuft werden, wenn ihr Aufgabenkreis umfasst Behörden-, Versicherungs-, Renten- und Sozialleistungsangelegenheiten, die Entgegennahme, das Öffnen und Anhalten der Post im Rahmen der übertragenen Aufgabenkreise, Geltendmachung von Ansprüchen auf Sozialleistungen, Hilfe zum Lebensunterhalt, und Leistungen aus der Sozialversicherung, Gesundheitssorge, Vermögenssorge mit Einwilligungsvorbehalt und Wohnungsangelegenheiten umfasst.
Landgericht Schwerin
Beschluss
In dem Strafverfahren
gegen pp.
Verteidigerin:
Rechtsanwältin:
wegen Verdachts des Diebstahls
hat das Landgericht Schwerin - Große Strafkammer 1 - durch die unterzeichnenden Richter am 30.09.2021 beschlossen:
1. Auf die sofortige Beschwerde wird der Beschluss des Amtsgerichts Wismar vom 11.08.2021 (Az. 4 Ds 532/20) aufgehoben.
2. Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 140 Abs. 2 StPO Rechtsanwältin pp. aus Magdeburg als Pflichtverteidigerin beigeordnet.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe:
Gegen den Beschwerdeführer erhob die Staatsanwaltschaft am 09.02.2021 Anklage wegen des Verdachts des Diebstahls. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens wurde der Beschwerdeführer zunächst als Beschuldigter angehört (BI. 19, 25, 26 d. A.). Mit polizeilichem Schreiben vom 21.10.2020 (BI 59 d. A.) wurde der Beschuldigte zur Beschuldigtenvernehmung vorgeladen und am 27.10.2020 zeugenschaftlich vernommen (BI. 60-62 d. A.).
Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 01.07.2021 beantragte der Beschwerdeführer die Beiordnung von Rechtsanwältin pp. als Pflichtverteidigerin. Zur Begründung wurde u.a. wie folgt vorgetragen:
Die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 Alt. 3, 4 StPO seien erfüllt.
Der Beschwerdeführer sei in seiner Fähigkeit zur Selbstverteidigung beschränkt. Ihm sei nicht deutlich, welche Stellung er im Verfahren einnehme, da er im Ermittlungsverfahren auch zeugenschaftlich vernommen wurde. Im Übrigen stehe der Beschwerdeführer unter Betreuung. Aus dem Betreuerausweis gehe hervor, dass der Aufgabenkreis des Betreuers u.a. die Vermögenssorge umfasse. Der Beschwerdeführer benötige zur Abgabe von Willenserklärungen, die den Aufgabenbereich der Vermögenssorge betreffen, die Einwilligung des Betreuers. Der Beschwerdeführer müsse sich auch hinsichtlich der Rechtsfolgen, insbesondere einer Tagessatzhöhe verteidigen können, was die Kenntnis über seine Einkunfts- bzw. Vermögenslage voraussetze.
Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Amtsgericht Wismar den Antrag des Beschwerdeführers, ihm Rechtsanwältin pp. als Pflichtverteidigerin zu bestellen, zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seinem Rechtsmittel.
II.
Die gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Falschbezeichnung als Beschwerde ist unschädlich (§ 300 StPO).
Eine Verteidigung ist notwendig im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.
Es liegt hier ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wegen der beim Beschwerdeführer bestehenden begrenzten Verteidigungsfähigkeit.
Die Verteidigungsfähigkeit eines Beschuldigten richtet sich nach seinen geistigen Fähigkeiten, seinem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Falles. Eine Bestellung kommt in Betracht, wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht. (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 140, Rn. 30).
Einem Beschuldigten ist ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn er unter einer besonders umfassenden Betreuung steht, so dass von einer fehlenden Verteidigungsfähigkeit auszugehen ist (vgl. LG Berlin, Beschluss vom 19. September 2018 502 Qs 102/18, juris). Die Betreuung kann hier als umfassend eingestuft werden, denn ihr Aufgabenkreis umfasst Behörden-, Versicherungs-, Renten- und Sozialleistungsangelegenheiten, die Entgegennahme, das Öffnen und Anhalten der Post im Rahmen der übertragenen Aufgabenkreise, Geltendmachung von Ansprüchen auf Sozialleistungen, Hilfe zum Lebensunterhalt, und Leistungen aus der Sozialversicherung, Gesundheitssorge, Vermögenssorge mit Einwilligungsvorbehalt und Wohnungsangelegenheiten.
Im Übrigen muss sich der Beschwerdeführerfür den Fall einer Geldstrafe - auch gegen die Höhe eines Tagessatzes verteidigen können, was Kenntnisse über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse voraussetzt und auch für diesen Aufgabenkreis besteht eine rechtliche Betreuung (vgl. LG Berlin, Beschluss vom 19. September 2018 502 Qs 102/18, juris). Ferner musste Berücksichtigung finden, dass der Beschwerdeführer während des Ermittlungsverfahrens sowohl als Beschuldigter als auch als Zeuge vernommen wurde. Die Einlassung des Beschwerdeführers, es sei für ihn nicht deutlich gewesen, wann er hätte aussagen dürfen bzw. müssen und welche Stellung er im Verfahren innehatte, ist nicht zu widerlegen und bestätigt im Ergebnis die begrenzte Verteidigungsfähigkeit desselben.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.
Einsender: RÄin S. Helbig, Magdeburg
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