Gericht / Entscheidungsdatum: LG Halle, Beschl. v. 09.09.2021 - 3 Qs 93/20
Leitsatz: Bei dem Wegfall der Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO ist zu prüfen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO gegeben ist, nämlich wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Eine zu erwartende Freiheitsstrafe von einem Jahr sollte in der Regel Anlass für eine Beiordnung eines Verteidigers geben.
Landgericht Halle
3 Qs 93/20
Verteidiger:
wegen Verstoß gegen das BtMG u.a.
hat die 3. Große Strafkammer des Landgerichts Halle als Beschwerdekammer durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht, die Richterin am Landgericht und den Richter am Landgericht am 10.09.2021 beschlossen:
1. Auf die sofortige Beschwerde des ehemaligen Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Zeitz vom 21.07.2021 (Az: 8 Ds 560 Js 202432/20) aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des ehemaligen Angeklagten werden der Landeskasse auferlegt.
Gründe
Die Staatsanwaltschaft Halle führte gegen den ehemals Angeklagten ein Ermittlungsverfahren u.a. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Mit Beschluss vom 27. 03. 2020 wurde ihm Rechtsanwalt pp. als notwendiger Verteidiger bestellt, da ihm ein Verbrechen zur Last gelegt wurde (§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO). Die Staatsanwaltschaft erhob mit Anklageschrift vom 17.08.2020 Anklage wegen des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, unerlaubten Waffenbesitz u.a. Mit Beschluss vom 19.05.2021 lehnte das Amtsgericht Zeitz die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen des Vorwurfes des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge ab und eröffnete das Hauptverfahren wegen der übrigen Vorwürfe.
Mit Beschluss vom 21.07.2021 hob das Amtsgericht Zeitz die Bestellung von Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger auf. Zur Begründung führte es an, dass nun kein Verbrechensvorwurf mehr Gegenstand des Verfahrens sei und auch die Voraussetzung des §§ 140 Abs. 2 StPO nicht vorliegen würden, weil keine Rechtsfolge zu erwarten sei, die eine Beiordnung rechtfertigen würde. Der Beschluss wurde nicht förmlich zugestellt.
Der ehemalige Angeklagte legte mit Schriftsatz vom 17.08.2021 sofortige Beschwerde gegen den Beschluss vom 21.07.2021 ein. Zur Begründung verwies er darauf, dass eine Gesamtstrafenbildung mit der Verurteilung des Amtsgerichts Eisleben im Verfahren 11 Ls 562 Js 30610/20, in dem der Angeklagte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden sei, in Betracht komme. In diesem Verfahren sei zudem die Staatsanwaltschaft in Berufung gegangen, sodass dem Angeklagten möglicherweise eine sogar noch höhere Freiheitsstrafe drohe. Das vorliegende Verfahren könne daher nicht isoliert betrachtet werden.
Mit Beschluss vom 26. 08. 2021 stellte das Amtsgericht Zeitz das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO im Hinblick auf das Verfahren des Amtsgerichts Eisleben -11 Ls 562 JS 30610/20 - auf Kosten der Staatskasse vorläufig ein.
Zuvor hatte der Verteidiger des ehemals Angeklagten mit Schriftsatz vom 25. 08. 2021 darauf hingewiesen, dass vor einer etwaigen Einstellung über die mit Schriftsatz vom 17.08.2021 eingelegte sofortige Beschwerde zu entscheiden sei.
Erst mit Verfügung vom 26. 08. 2021 wurde die Sachakte dem Landgericht Halle zur Entscheidung vorgelegt, wo die Akte am 06.09.2021 einging.
1. Die sofortige Beschwerde des ehemals Angeklagten ist gemäß §§ 304, 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO i. V. m. § 142 Abs. 7 S. 1 StPO zulässig, insbesondere fristgerecht bei dem Amtsgericht Zeitz eingegangen. Da der Beschluss vom 21.07.2021 nicht förmlich zugestellt wurde, begann auch keine einwöchige Frist zu laufen.
2. Die sofortige Beschwerde ist begründet. Bei Beschlussfassung des Amtsgerichts Zeitz am 20.07.2021 lagen die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung nicht vor.
Zwar lagen hier nach der teilweisen Nichteröffnung des Hauptverfahrens die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht mehr vor. Jedoch ist bei dem Wegfall der Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO zu prüfen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 142 Abs. 2 StPO gegeben ist, nämlich wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Eine zu erwartende Freiheitsstrafe von einem Jahr sollte in der Regel Anlass für eine Beiordnung eines Verteidigers geben (Meyer-Goßner/Schmitt, Kommentar zur StPO, 63. Aufl., § 140 StPO Rd. 23). Da nach Aktenlage eine Gesamtstrafenbildung mit der Verurteilung des Amtsgerichts Eisleben, mit der der Angeklagte erstinstanzlich zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden war, in Betracht kam, hatte der Angeklagte auch in diesem Verfahren unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Eisleben mit einer Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen, die über einem Jahr gelegen hätte. Danach lagen die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO am 21.07.2021 vor.
Mit der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses bleibt es bei der Bestellung des Rechtsanwaltes pp. zum Pflichtverteidiger des Angeklagten vom 27.03.2020.
Die Kammer ist an der zugunsten des ehemaligen Angeklagten ergangenen Entscheidung auch nicht dadurch gehindert, dass das Verfahren mittlerweile, nämlich nach dem Eingang der sofortigen Beschwerde beim Amtsgericht und vor der Weiterleitung der Akten an das Landgericht, gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt wurde. Durch die Entscheidung der Kammer wird Rechtsanwalt pp. dem ehemaligen Angeklagten nicht rückwirkend beigeordnet, sondern die Entscheidung vom 27.03. 2020 lebt lediglich wieder auf.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO analog.
Einsender: RA J. R. Funck aus Braunschweig
Anmerkung:
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