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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Stuttgart, Beschl. v. 21.09.2021 - 9 Qs 62/21

Leitsatz: Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers hat auch noch nach Beendigung des Verfahrens zu erfolgen, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zum damaligen Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor Verfahrensbeendigung unterblieben ist, weil die Beschlussfassung auf Grund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert wurde.


9 Qs 62/21

Landgericht Stuttgart

Beschluss

In dem Beschwerdeverfahren
gegen pp.

wegen Betruges
hier: Pflichtverteidigerbestellung

hat das Landgericht Stuttgart – 9. Große Strafkammer – am 21.09.2021 beschlossen:

1. Der Beschluss des Amtsgerichts S. vom 01.06.2021 wird aufgehoben.
2. Dem Angeklagten wird mit Wirkung zum 20.05.2021 Rechtsanwalt F. zum Pflichtverteidiger bestellt.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit angefallenen notwen-digen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

Gegen den Angeklagten wurde vor dem Amtsgericht S. ein Strafverfahren wegen Betruges geführt. Die-ses endete mit rechtskräftigem Urteil vom 16.06.2021.

Zuvor hatte der Angeklagte gegen einen am 04.05.2021 erlassenen Strafbefehl mit Schriftsatz vom 20.05.2021 Einspruch eingelegt und zugleich die Beiordnung eines Pflichtverteidigers beantragt. Zur Begründung führte er aus, gegen ihn werde ein noch nicht abgeschlossenes Berufungsverfahren vor dem Landgericht H. geführt; in der dortigen Sache sei er erstinstanzlich zur Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Darüber hinaus drohe der Widerruf der im Urteil des Amtsgerichts S. vom 20.07.2020 (BZR Nr. 22) bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung, sodass er im Falle der Verurteilung weitere acht Monate Freiheitsstrafe zu verbüßen hätte.

Nach Eingang des Beiordnungsantrags fragte das Amtsgericht S. bei der Staatsan-waltschaft S. an, ob nach § 153 Abs. 2 StPO oder, im Hinblick auf das in H. geführte Verfahren, nach § 154 Abs. 2 StPO vor-gegangen werden könne. Die Staatsanwalt-schaft teilte daraufhin unter Hinweis auf die zahlreichen Vorstrafen des Angeklagten mit, dass einer Einstellung nicht zugestimmt bzw. eine solche nicht bean-tragt werde. Zudem trat die Staatsanwaltschaft dem Beiordnungsantrag entgegen.

Mit Beschluss vom 01.06.2021 lehnte das Amtsgericht die Verteidigerbestellung ab. Es komme lediglich eine Geldstrafe in Betracht, sodass ein Bewährungswiderruf nicht drohe. Eine Gesamtfreiheitsstrafe von über einem Jahr sei „anhand des aktuel-len Bundeszentralregisterauszugs“ nicht zu erwarten.

Gegen diesen Beschluss legte der Angeklagte über seinen Verteidiger am 11.06.2021 sofortige Be-schwerde ein. Zur Begründung seines Rechtsmittels trug er erneut vor, er sei in dem in der Berufungs-instanz beim Landgericht H. anhängigen Verfahren erstinstanzlich vom Amtsgericht B. zu einer Freiheits-strafe von einem Jahr verurteilt worden. Zudem führte er ergänzend aus, es sei ein weiteres Verfahren vor dem Amtsgericht B. anhängig. Dort werde ihm Körperverletzung vorgeworfen.

Eine Aktenvorlage an das Beschwerdegericht erfolgte nicht. Stattdessen führte das Amtsgericht S. am 16.06.2021 die Hauptverhandlung durch. Der Angeklagte wurde des Betruges schuldig gesprochen und zur Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 5,00 € verurteilt. Offenbar wurde noch in der Sitzung allseits Rechtsmittelverzicht erklärt, wenngleich sich dies dem Hauptverhandlungsprotokoll nicht eindeutig ent-nehmen lässt. Jedenfalls ist Rechtskrafteintritt am 16.06.2021 notiert.

Mit Schriftsatz vom 25.08.2021 erinnerte der Verteidiger an das eingelegte Rechtsmittel gegen die Ab-lehnung der Pflichtverteidigerbestellung. Anschließend wurden die Akten am 17.09.2021 der Strafkam-mer zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde vorgelegt.

Die Staatsanwaltschaft S. hat beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu ver-werfen.

II.

Die sofortige Beschwerde hat Erfolg. Das Amtsgericht hat den Beiordnungsantrag zu Unrecht abge-lehnt. Die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung lagen zum insoweit ausschlaggebenden Zeitpunkt der Antragstellung vor.

1. Das Rechtsmittel ist zulässig. Die Falschbezeichnung als (einfache) „Be-schwerde“ ist unschädlich (§ 300 StPO), und die Beschwerdefrist ist gewahrt.

Darüber hinaus steht auch die zwischenzeitlich eingetretene Urteilsrechtskraft der Zulässigkeit der so-fortigen Beschwerde nicht entgegen. Durch einen die Bestellung eines Pflichtverteidigers zurückweisen-den Beschluss ist der Ange-klagte auch nach Eintritt der Rechtskraft eines gegen ihn ergangenen Urteils beschwert (OLG Bamberg, Beschl. v. 29.4.2021 – 1 Ws 260/21).

2. Die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO lagen zum Zeitpunkt der Antragstellung vor. Die Mitwir-kung eines Verteidigers war wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten.

a) Nach allgemeiner Ansicht in der Rechtsprechung ist wegen der Schwere der zu erwartenden Rechts-folge ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Beschuldigte/Angeklagte im Falle einer Verurteilung mit einer Freiheits-strafe von einem Jahr oder mehr zu rechnen hat. Diese Grenze ist auch dann zu be-achten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt (LG Halle, Beschl. v. 29.06.2021 – 10a Qs 61/21; LG Hannover, Beschl. v. 16.06.2021 – 63 Qs 23/21; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 140 Rn. 23a m.w.N).

(1) In vorliegender Sache lag angesichts des damals in der Berufungs-instanz anhängigen Verfahrens vor dem Landgericht H., in dem der Angeklagte zu der Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden war, sowie aufgrund des weiteren vor dem Amtsgericht B. anhängigen Ver-fahrens wegen Körperverletzung auf der Hand, dass der vielfach straf-rechtlich in Erscheinung getretene Angeklagte mit einer Gesamt-freiheitsstrafe von über einem Jahr zu rechnen hatte. Zwar kann auch in einer solchen Konstellation bei Bagatelltaten, die sich nicht wesentlich auf das Gesamtstrafmaß auswirken, von einer Beiordnung ab-gesehen werden, vorliegend wurde das Verfahren jedoch jedenfalls von den Ermittlungsbehörden nicht als Bagatellsache behandelt, hat doch die Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf die zahlreichen Vorein-tragungen nachvollziehbar eine Einstellung nach § 153 Abs. 2 bzw. 154 Abs. 2 StPO abgelehnt.

Dass aus Sicht des Amtsgerichts lediglich eine Geldstrafe zu erwarten war, führt insoweit zu keiner an-deren Bewertung, zumal angesichts der erheblichen strafrechtlichen Vorbelastung auch unter Berück-sichtigung der strengen Anforderungen des § 47 Abs. 1 StGB eine kurze Freiheitsstrafe jedenfalls nicht fernlag, hat sich der Angeklagte von den zahlreichen früheren Verurteilungen doch wenig beeindruckt gezeigt und wurde immer wieder straffällig.

(2) Hinzu kommt, dass der Angeklagte mit dem Widerruf der im Urteil des Amtsgerichts S. vom 22.07.2020 bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung zu rechnen hatte, sodass sich das ihm drohende Gesamt-strafübel um weitere acht Monate erhöhte.

Ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ist nicht alleine des-halb ausgeschlossen, weil die An-lasstat mit Geldstrafe geahndet wer-den kann. Der Umstand, dass der neue Tatrichter von der Verhän-gung einer kurzen Freiheitsstrafe absieht, bietet keinen Anlass für die Annahme, er habe sich intensiv mit der gegenwärtigen Prognoselage beschäftigt und sei von einer dem Widerruf entgegenstehenden günstigen Prognose ausgegangen (vgl. Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 56f, Rn. 8b). Ein Widerruf war mithin jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen.

Nach alledem liegen die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vor.

b) Der zwischenzeitlich erfolgte rechtskräftige Abschluss des Verfahrens steht einer auf den Zeitpunkt der Antragstellung rückwirkenden Beiordnung eines Pflichtverteidigers vorliegend nicht entgegen.

(1) Zwar ist die nachträgliche Verteidigerbestellung grundsätzlich unzulässig. Ist ein Strafverfahren ab-geschlossen, kann der Zweck der Beiordnung, nämlich eine ordnungsgemäße Verteidigung des Ange-klagten zu gewährleisten, nicht mehr erreicht werden. Dies kann jedoch dann nicht gelten, wenn die in § 140 StPO normierten Beiordnungsvoraussetzungen zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und die Entscheidung über den Antrag aus vom Angeklagten nicht zu vertretenden und von ihm nicht beeinfluss-baren Gründen wesentlich verzögert wurde oder unterblieb (OLG Bamberg, Beschl. v. 29.04.2021 – 1 Ws 260/21; OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.11.2021 –Ws 962/20).

(2) Ein genereller Ausschluss der nachträglichen Beiordnung ist spätestens seit der Reform des Rechts der Pflichtverteidigung durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 aus-geschlossen; dies wäre mit der der Reform zu Grunde liegenden Richt-linie 2016/1919/EU nicht vereinbar. Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers dient nämlich nicht ausschließlich dessen Gebühreninteresse, sondern auch den Interessen eines Angeklagten an einer ordnungsgemäßen Verteidigung und damit einhergehend der Sicherung eines fairen Verfahrens.

Nach Art. 4 Abs. 1 der sog. Prozesskostenhilferichtlinie haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechts-bei-stands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Die Richtlinie sichert also nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Be-zahlung des Rechtsbeistands. Diese würde jedoch unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde (OLG Nürnberg a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 142 Rn. 20).

(3) Darüber hinaus hat der Gesetzgeber mit der Einführung des Unverzüglichkeitsgebots in § 141 Abs. 1 StPO klar zum Ausdruck gebracht, dass es seine Absicht war, bei Vorliegen der in § 140 StPO normierten Beiordnungsvoraussetzungen jedem Beschuldigten ab der Eröffnung des Tatvorwurfs unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen die Möglichkeit der Einholung kompetenten Rats zwecks bestmögli-cher Wahrnehmung seiner Interessen zur Verfügung zu stellen. Der Beiordnungszeitpunkt sollte, was sich überdies auch aus den Änderungen in § 140 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 7 StPO ergibt, vorverlagert werden. Dieser gesetzgeberischen Absicht liefe es zuwider, ließe man ein Zuwarten mit der Verbescheidung von Beiordnungsanträgen bzw. Rechtsmitteln gegen ablehnende Entscheidungen zu.

(4) Hinzu kommt, dass einem Angeklagten durch eine verfahrensfehlerhafte Behandlung von Seiten der Justiz, die vorliegend in der unterbliebenen Aktenvorlage an das Beschwerdegericht zu sehen ist, keine erheblichen Nachteile entstehen dürfen. Die Belastung mit Verteidigerkosten stellt jedoch für einen ehemaligen Angeklagten einen erheblichen Nach-teil dar (LG Hechingen, Beschl. v. 20.05.2020 – 3 Qs 35/20).

(5) Ferner spricht für die Zulässigkeit einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung, dass das Gesetz einem Beschuldigten/Angeklagten, dessen Beiordnungsantrag abgelehnt wurde, in § 142 Abs. 7 StPO mit der sofortigen Beschwerde ein Rechtsmittel zur Verfügung stellt. Diese Überprüfungsmöglichkeit darf nicht dadurch entzogen werden, dass das Gericht schlicht untätig bleibt oder, wie vorliegend, die ihm obliegende Vorlage an das Beschwerdegericht unterlässt, zumal der Gesetzgeber mit der im Zuge der Reform 2019 vorgenommenen Umstellung von der „einfachen“ auf die sofortige Beschwerde gera-de eine zeitnahe Überprüfung von Beiordnungsentscheidungen fördern wollte.

c) Der Begründetheit des Beiordnungsantrags steht auch nicht entgegen, dass der Verteidiger davon abgesehen hat, für den Fall der Bestellung die Niederlegung seines Wahlmandats anzukündigen. Eine entsprechende Er-klärung ist bereits im Antrag eines Wahlverteidigers auf Beiordnung zu sehen (OLG Jena NJW 2009, 1430; LG Passau, Beschl. v. 26.01.2021 – 1 Qs 6/21).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO analog.


Einsender: RiLG T. Hillenbrand, Stuttgart

Anmerkung:


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