Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Naumburg, Beschl. v. 10.08.2021 - 1 VAs 4/21
Leitsatz: Nicht suchtbedingte Freiheitsstrafen können auf Antrag des Verurteilten vor der Zurückstellung suchtbedingter Freiheitsstrafen und vor Antritt einer Therapie vollständig verbüßt werden.
OBERLANDESGERICHT NAUMBURG
BESCHLUSS
1 VAs 4/21 OLG Naumburq
In der Strafvollstreckungssache
des pp.
Verteidiger
wegen Zurückstellung der Strafvollstreckung
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Naumburg
durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht,
den Richter am Oberlandesgericht
und die Richterin am Landgericht
am 10. August 2021
beschlossen:
1. Auf den Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung werden der Bescheid der Staatsanwaltschaft Halle - Zweigstelle Naumburg - vom 27. April 2021 (Az. 562 Js 205892/17) und der Beschwerdebescheid der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg vom 30. Juni 2021 (114 Zs 661/21) aufgehoben.
2. Die Staatsanwaltschaft wird verpflichtet, den Verurteilten unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.
3. Das Verfahren ist gebührenfrei. Die außergerichtlichen Kosten des Verurteilten, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig waren, sind aus der Staatskasse zu erstatten.
4. Der Geschäftswert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
5. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Gegen den Verurteilten wird derzeit eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Beisichführens verbotener Gegenstände in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz eines verbotenen Gegenstandes nach dem Waffengesetz aus dem Urteil des Landgerichts Halle vom 4. Januar 2018 (Az.: 10a KLs 562 Js 205892/17 (17/17)) vollstreckt, nachdem die neben der Freiheitsstrafe angeordnete Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt mit Beschluss des Landgerichts Magdeburg vom 29. September 2020 für erledigt erklärt worden war.
Der Verurteilte befand sich nach vorläufiger Festnahme vom 14. Juli 2017 ab dem 15. Juli 2017 bis zum 12. April 2018 in Haft. Ab dann befand er sich in der Entziehungsanstalt, bis er am 8. Oktober 2020 in den Strafvollzug verlegt wurde. Der 2/3-Termin war auf den 12. Oktober 2020, das Haftende in dieser Sache ist auf den 11. Januar 2022 notiert.
Mit Urteil des Amtsgerichts Bernburg vom 19. August 2020, rechtskräftig seit dem 9. September 2020 (Az.: 5 Ds 785 Js 39348/19 (5/20)), wurde der Antragsteller wegen einer vorsätzlichen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe ist ab dem 12. Juli 2022 vorgesehen. Der 2/3-Termin für diese Strafe ist auf den 11. Mai 2022, das Haftende auf den 11. Juli 2022 notiert.
Mit Schreiben vom 29. März 2021 beantragte der Verurteilte bei der Staatsanwaltschaft Halle die Zurückstellung der weiteren Strafvollstreckung aus dem Urteil des Landgerichts Halle vom 4. Januar 2018 nach § 35 BtMG.
Den Antrag des Verurteilten lehnte die Staatsanwaltschaft Halle - Zweigstelle Naumburg -unter dem 27. April 2021 ab, weil eine weitere - nicht nach § 35 BtMG zurückstellungsfähige Freiheitsstrafe - zu vollstrecken sei.
Die hiergegen eingelegte Vorschaltbeschwerde des Verurteilten vom 8. Juni 2021, mit welcher er geltend macht, die Vollstreckungsreihenfolge sei offensichtlich gesetzeswidrig und mit welcher er gleichzeitig beantragt hat, die Vollstreckungsreihenfolge zu ändern und festzustellen, dass aufgrund der rückwirkenden Änderung der Vollstreckungsreihenfolge die Verurteilung aus dem Urteil des Amtsgerichts Bernburg vom 19. August 2020 bereits vollstreckt ist, wies der Generalstaatsanwalt mit Bescheid vom 30. Juni 2021 (114 Zs 661/21) als unbegründet zurück.
Hiergegen richtet sich der Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung vom 6. Juli 2021, mit welcher er vorträgt, die Staatsanwaltschaft habe sich nicht mit einer möglichen Änderung der Vollstreckungsreihenfolge aufgrund eines wichtigen Grundes nach § 43 Abs. 4 StVollstrO befasst.
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig (§§ 23 ff. EGGVG). Das gemäß §§ 24 Abs. 2 EGGVG, 21 Abs. 1 StVollStrO erforderliche Vorschaltverfahren wurde durchgeführt und die Beschwerdefrist des § 26 Abs 1 EGGVG ist gewahrt.
Auch in der Sache hat der Antrag - vorläufig - Erfolg. Die Bescheide der Staatsanwaltschaft Halle - Zweigstelle Naumburg - vom 27. April 2021 und der Generalstaatsanwaltsehaft Naumburg vom 30. Juni 2021 sind rechtswidrig und verletzten den Antragsteller in seinen Rechten (§ 28 Abs. 1 Satz 1 EGGVG),
1. Die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Vollstreckungsbehörde ("kann"). Ihre Entscheidung kann deshalb im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG vom Oberlandesgericht nur daraufhin überprüft werden, ob sie rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder sonst von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 28 Abs. 3 EGGVG). Das Rechtsmittel ist deshalb nur begründet, wenn die Staatsanwaltschaft und nachfolgend der Generalstaatsanwalt bei ihren Entscheidungen von einem unzutreffenden oder unzureichend ermittelten Sachverhalt ausgegangen sind, oder wenn Begriffe oder gesetzliche Bestimmungen falsch angewendet wurden, sowie bei Ermessensüberschreitung oder Ermessensfehlgebrauch. Dagegen hat das Oberlandesgericht nicht nachzuprüfen, ob auch eine andere Entscheidung in Betracht gekommen oder vertretbar gewesen wäre. Vertretbare Ermessensentscheidung sind hinzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Dezember 1981, 5 AR (Vs) 32/81., BGHSt 30, 320, 327). Grundlage der Entscheidung. des Senats ist dabei die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde in der Gestalt, die sie im Vorschaltverfahren durch den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft gefunden hat (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2020, § 28 EGGVG, Rn. 10, m. w. N.).
2. Vorliegend haben die Staatsanwaltschaften den Antrag des Verurteilten auf Zurückstellung der Strafvollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Halle vom 4. Januar 2018 nach § 35 BtMG zurückgewiesen, da eine weitere Freiheitsstrafe - hier die sechsmonatige Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Bernburg vom 19. August 2020 - als Anschlussvollstreckung einer Zurückstellung entgegenstehe (§ 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG). Eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge - wie von dem Verurteilten beantragt hat die Generalstaatsanwaltschaft abgelehnt, da die §§ 43 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 StVollstrO die Reihenfolge der Vollstreckung bestimmten.
Bei der Prüfung des Antrages des Verurteilten hat die Staatsanwaltschaft indes nicht in ihr Ermessen eingestellt, dass eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge nach §§ 43 Abs. 2 und 3 bei Vorliegen eines wichtigen Grundes nach § 43 Abs. 4 StVollstrO zur Änderung festgelegten Vollstreckungsreihenfolge führen kann.
Ein wichtiger Grund im Sinne des § 43 Abs. 4 StVollstrO, die Vollstreckungsreihenfolge zu ändern, ist hier nicht von vorneherein ausgeschlossen. Der vom Antragsteller beantragten Änderung der Vollstreckungsreihenfolge und der (Vorweg-)Vollzug der gesamten sechsmonatigen - nicht nach § 35 BtMG zurückstellungsfähigen - Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Bernburg steht die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Vermerk der Staatsanwaltschaft Halle - Zweigstelle Naumburg - vom 20. Juni 2021, BI. 137 Bd. II d. VH) nicht mehr entgegen. Zwar habe der Bundesgerichtshof entschieden, dass eine Vorabvollstreckung der nicht zurückstellungsfähigen Strafe unter Änderung der Vollstreckungsreihenfolge nach § 43 Abs. 4 StVollstrO selbst auf Antrag des Verurteilten nicht in Betracht komme, dies deshalb, weil auch eine nach § 454b Abs. 2 StPO unterbrochene Strafe eine im Sinne des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG zu vollstreckende Strafe sei, die die Zurückstellung der weiteren Strafen nach § 35 BtMG hindere (vgl. BGH, Beschluss vom 4. August 2010 5 AR (VS) 23/10 -, juris). Hierauf hat der Gesetzgeber in § 454b Abs. 3 StPO indes reagiert. Die Vorschrift wurde durch Art. 3 Nr. 36 Buchst. a des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017 (BGBl. I S, 3202), in Kraft getreten am 24. August 2017, eingeführt, um therapiewilligen Verurteilten die Zurückstellung einer suchtbedingten Freiheitsstrafe unter den Voraussetzungen des § 35 BtMG auch bei gleichzeitigem Vorliegen nicht suchtbedingter Freiheitsstrafen zu ermöglichen. Nicht suchtbedingte Freiheitsstrafen können damit auf Antrag des Verurteilten - und ein solcher liegt hier vor - vor der Zurückstellung suchtbedingter Freiheitsstrafen und vor Antritt der Therapie vollständig verbüßt werden (vgl. Appl in Karlsruher-Kommentar, StPO, 8. Aufl. 2019, § 454b, Rn. 4a).
Dieser - durch die Gesetzesänderung - neu ins Gesetz eingeführte Gesichtspunkt hat bei der Entscheidung der Staatsanwaltschaft erkennbar keine Rolle gespielt. Er wird aber bei der nunmehr zu treffenden Entscheidung der Vollstreckungsbehörde, ob ein wichtiger Grund im Sinne des § 43 Abs. 4 StVollstrO vorliegt, der eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge - wie von dem Verurteilten begehrt - gebietet, zu berücksichtigen sein.
Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden (§ 28 Abs. 2 Satz 2 EGGVG). Hinsichtlich der Annahme eines wichtigen Grundes steht der Vollstreckungsbehörde ein Beurteilungsspielraum zu (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Januar 2019 2 VAs 60118 juris). Zudem sind nicht alle Voraussetzungen einer Zurückstellung nach § 35 BtMG geklärt.
Eine Kostengrundentscheidung nach §§ 1 Abs. 2 Nr. 19, 22 Abs. 1 GNotKG i.V m Teil 1 Hauptabschnitt 5, Abschnitt 3, Nr. 14300 bzw. 15301 KV GNotKG ist nicht veranlasst (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl, § 30 EGGVG, Rn. 2), da der Antrag weder zurückgenommen noch zurückgewiesen wurde. Die übrige Kostenentscheidung beruht auf § 30 Satz 1 EGGVG.
Der Gegenstandswert wurde nach § 36 Abs. 1 3 GNotKG festgesetzt (vgl. OLG Gelle, Beschluss vom 28. August 2013 - 2 VAs 10/.13 juris; Meyer-Goßner/Schmitt, 2.2 0 , § 30 EGGVG, Rn. 4).
Die Rechtsbeschwerde hat der Senat nicht zugelassen, weil die Sache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 29 Abs 2 EGGVG).
Einsender: RA T. Reulecke, Wernigerode
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