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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Hamburg, Beschl. v. 15.7.2021 - 622 Qs 22/21

Leitsatz: Eine rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers ist zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gern. § 140 Abs. 1, Abs. 2 StPO zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und die Entscheidung durch gerichtsinterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.


Landgericht Hamburg

Beschluss

622 Qs 22/21

In der Strafsache
gegen pp.

hat das Landgericht Hamburg, Große Strafkammer 22, durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, die Richterin am Landgericht, die Richterin am Landgericht (k.A.) am 15. Juli 2021 beschlossen:

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-St. Georg vom 16. Juni 2021 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des vormals Angeschuldigten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Hamburg führte gegen den vormals Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung.

Mit polizeilicher Abverfügung vom 7. Januar 2021 wurde das Verfahren an die Staatsanwaltschaft Hamburg abgegeben. Bereits mit Schreiben vom 11. Dezember 2020, adressiert an die Polizei Hamburg, LKAHH171, zeigte der Verteidiger Dr. Ebrahim-Nesbat die anwaltliche Vertretung des zu diesem Zeitpunkt in anderer Sache in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Billwerder befindlichen vormals Beschuldigten an und beantragte Akteneinsicht. Zudem beantragte der vormals Beschuldigte mit selbigem Schriftsatz die Beiordnung von pp. als Pflichtverteidiger schon im Ermittlungsverfahren. Dr. Ebrahim-Nesbat teilte mit, für den Fall der Beiordnung das Wahlmandat niederzulegen. Mit weiterem Schriftsatz vom 21. Februar 2021, adressiert an die Staatsanwaltschaft Hamburg, wiederholte er die Anträge. Nach erfolgter Akteneinsicht — die zugrundeliegende staatsanwaltschaftliche Verfügung datiert auf den 11. März 2021 — erinnerte Dr. Ebrahim-Nesbat am 24. März 2021 erneut an die Anträge und damit verbunden an die Zuleitung dieser an das zuständige Gericht zur Entscheidung.

Am 13. April 2021 hat die Staatsanwaltschaft Hamburg Anklage gegen den vormals Beschuldigten erhoben und unter anderem beantragt, die Beiordnung von Rechtsanwalt pp. bat in einem anderen, bereits beim Amtsgericht Hamburg-St. Georg anhängigen Verfahren mit dem Aktenzeichen 949 Ds 46/21 nach Verfahrensverbindung auch auf das hiesige Verfahren zu erstrecken. Mit Verfügung vom 23. April 2021 ersuchte das Gericht die Staatsanwaltschaft Hamburg um Zustimmung zur Verfahrenseinstellung gemäß § 154 Abs. 2 StPO im Hinblick auf die inzwischen rechtskräftige Verurteilung vom 31. März 2021 in dem Verfahren 949 Ds 46/21. Mit Verfügung vom 30. April 2021 stimmte die Staatsanwaltschaft Hamburg der Verfahrenseinstellung gemäß § 154 Abs. 2 StPO zu und beantragte zugleich, den Beiordnungsantrag von Rechtsanwalt pp. nunmehr abzulehnen.

Das Amtsgericht Hamburg-St. Georg hat mit Beschluss vom 16. Juni 2021 dem vor-mals Beschuldigten Rechtsanwalt pp. rückwirkend als Pflichtverteidiger gemäß §§ 140 Abs. 1 Nr. 5, 141 Abs. 1 Satz 1, 142 Abs. 1 Satz 1 StPO bestellt. Zugleich hat es das Verfahren, wie vorgesehen, gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Der Beschluss wurde der Staatsanwaltschaft Hamburg gemäß § 41 StPO am 22. Juni 2021 zugestellt.

Hiergegen erhob die Staatsanwaltschaft am 24. Juni 2021, eingegangen vorab per Fax am selben Tag, sofortige Beschwerde und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass nach der maßgeblichen Rechtsprechung des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg (Beschluss vom 16. September 2020 — 2 Ws 112/20) eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht in Betracht kommt. Außerdem habe zum Zeitpunkt der Anklageerhebung ein Beiordnungsgrund schon gar nicht mehr bestanden. Die Akte sei sodann ohne weitere prozessleitende Maßnahmen vom Amtsgericht Hamburg-St. Georg unverzüglich mit der Anfrage einer Einstellung gemäß § 154 Abs. 2 StPO zurückgesandt worden.

Mit Verfügung vom 28. Juni 2021 hat das Amtsgericht Hamburg-St. Georg der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die von der Beschwerdeführerin eingelegte, nach § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO gegen gerichtliche Entscheidungen über die Bestellung eines Pflichtverteidigers statthafte sofortige Beschwerde ist zwar zulässig, insbesondere rechtzeitig innerhalb der maßgeblichen Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO erhoben, aber erweist sich in der Sache als unbegründet.

Rechtsanwalt pp. wurde zu Recht als notwendiger Verteidiger beigeordnet. Der rückwirkenden Bestellung von ihm stand nicht entgegen, dass das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist.

Der Bundesgerichtshof (BGH, Beschluss vom 20. Juli 2009 — 1 StR 344/08 bei Juris = NStZ-RR 2009, 348) hat unter Geltung der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 gültigen Rechtslage die nach Verfahrensabschluss beantragte Beiordnung zum Pflichtverteidiger abgelehnt. Die obergerichtliche Rechtsprechung war der Auffassung, dass die rückwirkende Bestellung eines Verteidigers schlechthin unzulässig und unwirksam sei, und zwar auch dann, wenn der Antrag rechtzeitig gestellt aber versehentlich nicht über ihn entschieden worden war (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage 2021, § 141 Rn. 19 mwN).

Auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 wird — worauf die Staatsanwaltschaft Hamburg in ihrer Zuschrift zutreffend hinweist und was die Kammer bei ihrer Entscheidung im Blick hatte — in der obergerichtlichen Rechtsprechung größtenteils die Ansicht vertreten, dass die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht in Betracht kommt, weil sie ausschließlich dem Zweck diene, dem Verteidiger für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, nicht jedoch die notwendige ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten (Hans-OLG, Beschluss vom 16.09.2020 — 2 Ws 112/20; HansOLG Bremen, Beschluss vom 23.09.2020 — 1 Ws 120/20 = NStZ 2021, 253; OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021 — 1 Ws 12/21 bei Juris). Die rückwirkende Beiordnung sei auf etwas Unmögliches gerichtet und würde die notwendige Verteidigung eines Angeklagten in der Vergangenheit nicht mehr gewährleisten (OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.03. 2020 — 1 Ws 19/20).

In der sowohl von dem Amtsgericht Hamburg-St. Georg in dem angefochtenen Be-schluss als auch von Rechtsanwalt pp. in Bezug genommenen Entscheidung des OLG Nürnberg (Beschluss vom 6. November 2020 — Ws 962-963/20) wird die Auffassung vertreten, dass die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers jedenfalls dann zulässig sei, wenn die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung über den Beiordnungsantrag wesentlich verzögert wurde (so auch OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 — 1 Ws 260/21, und LG Regensburg, Beschluss vom 30.Dezember 2020 — 5 Qs 188/20).

In Anbetracht der erfolgten Gesetzesänderung und der damit verbundenen Stärkung der Rechte des Beschuldigten schließt sich die Kammer unter den hier gegebenen besonderen Umständen des Falls der Ansicht des OLG Nürnberg an und erachtet es ausnahmsweise für zulässig, auch rückwirkend für den Zeitraum ab Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen. Das OLG Nürnberg stützt seine Ansicht unter anderem nachvollziehbar auf die der Gesetzesänderung zugrundeliegenden „PKH-Richt-linie" RL 2016/1919/EU, insbesondere deren Art. 4, wonach die Bezahlung des Rechtsbeistandes mittelloser Beschuldigter durch die Mitgliedstaaten rechtzeitig und praktisch wirksam sichergestellt werden soll. Eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten als deklariertes Regelungsziel würde jedoch unter-laufen, wenn eine Pflichtverteidigung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde (weitergehend OLG Bamberg aaO: Das Gericht zieht für die Richtigkeit seiner Auffassung über die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers eine Parallele zur ausnahmsweise zulässigen rückwirkenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach den Vorschriften der StPO und ZPO). Die vom Hanseatischen Oberlandesgericht in seiner Entscheidung vom 16. September 2020 — 2 Ws 112/20 geführte Argumentation gegen diese die PKH-Richtlinie EU 2016/1919 heranziehende Ansicht verfängt zur Überzeugung der Kammer für den hier vorliegenden Fall einer offensichtlichen Verzögerung der Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung nicht. Dieser Entscheidung lag einerseits erkennbar kein Fall der verzögerten Pflichtverteidigerbestellung zugrunde. Das Argument, dass die Richtlinie keineswegs vorsieht, den Beschuldigten nachträglich in jedweder Phase des Verfahrens von den Kosten der Verteidigung frei zu halten, gar nach rechtskräftig erfolgter kostenpflichtiger Verurteilung noch eine Beiordnung eines Verteidigers vorzunehmen, kann andererseits schon deshalb nicht auf hiesigen Fall übertragen werden, weil hier keine kostenpflichtige Verurteilung als verfahrensabschließende Maßnahme ergangen ist.

Auch der Umstand, dass die im Zuge der gesetzlichen Neuregelung bisher statthafte einfache Beschwerde durch die sofortige Beschwerde nach § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO ersetzt worden ist, legt nahe, dass gesetzgeberische Intention eine schnelle Bestellungsentscheidung war, was überdies auch durch das neu gefasste Unverzüglichkeitsgebot in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO zum Ausdruck kommt (OLG Nürnberg aaO).

Der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung wurde hier rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO zum damaligen Zeitpunkt im Abschnitt des Ermittlungsverfahrens lagen vor und die Entscheidung über die Bestellung hat eine wesentliche Verzögerung allein aufgrund justizinterner Vorgänge erfahren. Das Amtsgericht Hamburg-St. Georg hat erst am 16. Juni 2021 entschieden.

Es lag zum maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung am 11. Dezember 2020 — auf den von der Staatsanwaltschaft Hamburg angeführten Zeitpunkt der Anklageerhebung ist mithin gerade nicht abzustellen — ein offensichtlicher Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor. Der vormals Beschuldigte befand sich zu diesem Zeitpunkt in anderer Sache in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Billwerder, sodass ihm gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ein Pflichtverteidiger zu bestellen gewesen wäre.

Bereits mit Schriftsatz vom 11. Dezember 2020, eingegangen bei der Polizei Hamburg, LKAHH171, am selben Tag per Fax, im Original spätestens am 14. Dezember 2020, eingegangen bei der Staatsanwaltschaft Hamburg mit Aktenübersendung am 7. Januar 2021, lag der Antrag auf Bestellung von Rechtsanwalt pp. vor. Aufgrund nicht gänzlich nachvollziehbarer zeitlich lang verzögerter justizinterner Vorgänge in der Sphäre der Staatsanwaltschaft unterblieb eine Entscheidung über den Antrag vom 11. Dezember 2020, da die Staatsanwaltschaft Hamburg davon abgesehen hat, dem Amtsgericht Hamburg den Beiordnungsantrag gemäß § 142 Abs. 1 Satz 2 StPO unverzüglich zur Entscheidung vorzulegen. Der Staatsanwaltschaft kommt hierbei allerdings kein Ermessensspielraum zu, vielmehr wäre sie unverzüglich zur Vorlage verpflichtet gewesen. Zwischen dem Eingang des Antrages bei der Polizei Hamburg und der Anklageerhebung sind vier Monate vergangen, ohne dass der Antrag beschieden wurde. Erst mit Anklageerhebung am 13. April 2021 erfolgte indirekt die Weiterleitung durch die Staatsanwaltschaft Hamburg. Gerade die monatelange Verzögerung bis zur Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung erst mit dem angefochtenen Beschluss vom 16. Juni 2021 zeigt, dass die Annahme der bislang vorherrschenden Rechtsauffassung einer Erledigung des Bedarfs für die Pflichtverteidigerbestellung durch Zeitablauf nicht mit der aufgezeigten Intention des Gesetzgerbers vereinbar ist (OLG Nürnberg aaO).

§ 141 Abs. 2 Satz 3 StPO steht der Beiordnung nicht entgegen. Nach dieser gesetzlichen Regelung kann die Bestellung unterbleiben, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünfte oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen. Diese Regelung bezieht sich nach ihrem eindeutigen Wortlaut und der systematischen Stellung jedoch nicht auf den vorliegenden Fall einer ausdrücklichen Antragstellung durch den vormals Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 StPO, sondern nur auf den vorliegend nicht einschlägigen Fall der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 StPO. Es sei am Rande bemerkt, dass der von der Staatsanwaltschaft Hamburg angeführte Gesichtspunkt der unterbliebenen weiteren prozessleitenden Maßnahmen nur dann verfängt, wenn dabei auch auf den maßgeblichen Zeitpunkt abgestellt wird. Entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft Hamburg ist dies — wie bereits oben erwähnt — nicht der Zeitpunkt der Anklageerhebung, sondern der der Antragstellung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1StPO.


Einsender: RA Dr. E. Nesbat, Hamburg

Anmerkung:


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