Gericht / Entscheidungsdatum: LG Görlitz, Beschl. v. 19.07.2021 - 3 Qs 125/21
Leitsatz: Wenn die öffentlich-rechtliche Pflicht der Angeklagten zum Erscheinen vor Gericht mit der durch Ausweisung und Abschiebung begründeten strafbewehrten Pflicht, sich von dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fernzuhalten, kollidiert und die Angeklagte für die Teilnahme an der Hauptverhandlung eine besondere Betretenserlaubnis durch die Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 8 AufenthG und zudem die Verteidigungsmöglichkeiten wegen fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache, aber auch wegen der nicht vorhandenen Kenntnis des deutschen Ausländerrechts eingeschränkt sind, ist die Sach und Rechtslage schwierig i.S. des § 140 Abs. 2 StPO.
3 Qs 125/21
BESCHLUSS
In dem Strafverfahren gegen
Verteidiger:
Rechtsanwalt Lars Dippel, Frohnhauser Straße 232, 45144 Essen
wegen unerlaubter Einreise
ergeht am 19.07.2021
durch das Landgericht Görlitz - Strafkammer als Beschwerdekammer -
nachfolgende Entscheidung:
1. Auf die sofortige Beschwerde der Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Bautzen vom 25. 5. 2021 aufgehoben
2. Der Angeklagten wird Herr Rechtsanwalt PP. als Pflichtverteidiger beigeordnet
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die hier entstandenen notwendigen Auslaget Angeklagten werden der Staatskasse auferlegt
Gründe:
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Görlitz, Zweigstelle Bautzen, erließ das Amtsgericht Baut-zen am 15. 2. 2021 gegen die Angeklagte einen Strafbefehl. Darin wurde ihr wegen unerlaubten Aufenthalts eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 25,- auferlegt.
Der Strafbefehl wurde übersetzt und am 27. 3. 2021 per Einschreiben/Rückschein an die Angeklagte in pp. zugestellt.
Für die Angeklagte bestellte sich Herr Rechtsanwalt pp. und legte am 1. 4. 2021 beim Amtsgericht Bautzen Einspruch gegen den Strafbefehl ein. Er beantragte wegen einer schwierigen Sach- und Rechtslage im Migrationsrecht seine Beiordnung als Pflichtverteidiger.
Mit Beschluss vom 25. 5. 2021 lehnte das Amtsgericht Bautzen den Beiordnungsantrag ab.
Dieser Beschluss wurde am 9. 6. 2021 an den Verteidiger zugestellt. Er legte hiergegen am 14. 6. 2021 beim Amtsgericht Bautzen sofortige Beschwerde ein.
Die Akte wurde dem Landgericht Görlitz am 24. 6. 2021 zugeleitet.
II.
Die gemäß § 142 Abs. 7 StPO zulässige sofortige Beschwerde ist begründet.
Der Angeklagten muss gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwierigkeit der Sach- und
Rechtslage ein Verteidiger beigeordnet werden.
Zwar war die Sach- und Rechtslage zunächst einfach gelagert und auch für die Angeklagte überschaubar.
Dies änderte sich aber durch den Ausweisungsbescheid des Landkreises Bautzen, Ausländeramt, vom 10. 11. 2020. Mit diesem Bescheid wurde die Angeklagte aus der Bundesrepublik Deutschland und den Schengen-Staaten ausgewiesen und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG für die Dauer von 2 Jahren verhängt. Der Landkreis Bautzen ordnete gleichzeitig die sofortige Vollziehung der Ausweisungsverfügung an. Im Fall eines Verstoßes gegen diese Pflicht kann der Angeklagten gemäß § 95 Abs. 2 AufenthG eine Geldstrafe bis zu einer Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren auferlegt werden. Die öffentlich-rechtliche Pflicht der Angeklagten zum Erscheinen vor Gericht kollidiert demnach mit der durch Ausweisung und Abschiebung begründeten strafbewehrten Pflicht, sich von dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fernzuhalten. Für die Teilnahme an der noch anzuberaumenden Hauptverhandlung des Amtsgerichts Bautzen benötigt die Angeklagte daher eine besondere Betretens-erlaubnis durch die Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 8 AufenthG. Dies schränkt ihre Verteidigungsmöglichkeiten ein, denn wegen ihrer fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache ( die Beschuldigtenvernehmung erfolgte mit Hilfe eines Dolmetschers ) , aber auch wegen der nicht vorhandenen Kenntnis des deutschen Ausländerrechts, wäre die Angeklagte wohl kaum dazu in der Lage, diese Problematik gegenüber dem Gericht selber geltend zu machen ( OLG Stuttgart, NStZ-RR 2004, 338, zitiert nach juris, dort Rz. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 140, Rz. 30 ). Zur Sicherstellung ihrer Verteidigungsinteressen und eines fairen Verfahrens ist daher die Beiordnung eines Verteidigers notwendig ( OLG Stuttgart, a. a. O., Rz. 9 bei juris ).
Die Angeklagte kann nicht darauf verwiesen werden, sich als ausgewiesene Ausländerin selbst um eine Betretenserlaubnis zum Zwecke der Durchführung des gegen sie gerichteten Strafverfahrens zu bemühen. Denn als Angeklagte hat sie keine prozessuale Mitwirkungspflicht. Vielmehr ist es Sache der Strafverfolgungsbehörden, in Absprache mit der Ausländerbehörde zu klären, ob der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs oder dem öffentlichen Interesse an einem Aufenthalt des Ausländers außerhalb des Bundesgebiets der Vorrang einzuräumen ist ( BayObLG, StV 2001, 339, zitiert nach juris, dort Rz. 8; OLG Stuttgart, a. a. O. bei juris Rz. 20 und Rz. 23 ).
Die Angeklagte ist auch nicht dazu verpflichtet, gemäß § 411 Abs. 2 StPO einen Verteidiger mit ihrer Vertretung in der Hauptverhandlung zu betrauen. Sie hat vielmehr das Recht, in der Hauptverhandlung selbst anwesend zu sein und sich dort selbst zu verteidigen ( BayObLG, a. a. O., bei juris Rz. 8; OLG Stuttgart, a. a. O., bei juris Rz. 23 ).
Die Kostenentscheidung folgt aus einer analogen Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.
Einsender: RA L. Dippel, Essen
Anmerkung:
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