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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, JGG-Verfahren, Sachverständigengutachten

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Hechingen, Beschl. v. 21.05.2021 - 3 Qs 21/21 jug.

Leitsatz: Zur (verneinten) Bestellung eines Pflichtverteidigers im JGG-Verfahren.



Landgericht Hechingen

Beschluss

In dem Strafverfahren
gegen pp.

Verteidiger:
Rechtsanwalt

wegen Trunkenheit im Verkehr

hat das Landgericht Hechingen - 3. große Jugendkammer - durch die unterzeichnenden Richter am 21. Mai 2021 beschlossen:

1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hechingen wird der Beschluss des Amtsgerichts Sigmaringen vom 4. März 2021 aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der vormalige Angeklagte.

Gründe:

Dem vormaligen 16-jährigen Angeklagten wurde von der Staatsanwaltschaft Hechingen vorgeworfen, am 14. September 2020 um 19:00 Uhr mit seinem Roller auf öffentlichen Straßen gefahren zu sein, obwohl er infolge des vorangegangenen Konsums von Cannabisprodukten fahruntüchtig gewesen sei. Dies habe sich darin gezeigt, dass er auf einen am rechten Fahrbahnrand abgestellten Sattelzug aufgefahren sei. Eine bei ihm um 21:37 Uhr entnommene Blutprobe habe 1,9 ng/m1 THC ergeben. Bei kritischer Selbstprüfung hätte er seine Fahruntüchtigkeit erkennen können, weshalb er sich der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr strafbar gemacht habe. Die Staatsanwaltschaft erhob am 26. November 2020 die öffentliche Klage und beantragte die Durch-führung eines vereinfachten Jugendverfahrens beim Amtsgericht Sigmaringen - Jugendrichter-gemäß §§ 76 ff JGG.

Nach Zustellung der Anklage nahm der vormalige Angeklagte in einem zweiseitigen handschriftlich verfassten Schreiben ausführlich zum Tatvorwurf Stellung, wobei er im Wesentlichen geltend machte, es sei ihm nicht bewusst gewesen, dass das am Wochenende konsumierte THC noch nachgewirkt habe. Die am 18. Februar 2021 durchgeführte Hauptverhandlung, in der der vormalige Angeklagte ausführliche Angaben machte, wurde zur Einholung eines rechtsmedizinischen Sachverständigengutachtens zur Frage der Fahruntüchigkeit des vormaligen Angeklagten zum Tatzeitpunkt „unterbrochen", tatsächlich ausgesetzt. Am 24. Februar 2021 meldete sich der Verteidiger des vormaligen Angeklagten und beantragte Akteneinsicht. Mit Schreiben vom 3. März 2021 beantragte er seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Dies sei aufgrund der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten, zumal ein medizinischer Sachverständiger vernommen werden solle.

Diesem Antrag kam das Amtsgericht - Jugendrichter - im Fortsetzungstermin mit Beschluss vom 4. März 2021 ohne vorherige Anhörung der Staatanwaltschaft nach und ordnete den Verteidiger des vormaligen Angeklagten als Pflichtverteidiger bei. Zur Begründung führte es aus, die Voraus-setzungen von § 68 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 StPO lägen vor. Wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage sei die Mitwirkung eines Verteidigers geboten. Die Sache könne für den Angeklagten als schwierig zu beurteilen sein, wenn ein Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel gegen den Angeklagten darstelle. Dies sei hier der Fall. Beim erst 16-jährigen Angeklagten sei nicht zu erwarten, dass er in der Lage sei, die Qualifikation des Sachverständigen oder die diesem zur Verfügung stehenden Untersuchungsmethoden zu beurteilen und sich insoweit sachgerecht zu verteidigen. Nach Durchführung der Beweisaufnahme, in der der Sachverständige und zwei Zeugen vernommen wurden, hat das Amtsgericht - Jugendrichter - das Verfahren gemäß § 47 JGG vorläufig eingestellt und den vormaligen Angeklagten angewiesen, an einem Verkehrserziehungskurs teilzunehmen. Außerdem hat es ihm die Zahlung von 400 € an die pp.-Schule in Bad Saulgau auferlegt.

Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Beschluss vom 4. März 2021 zur Zustellung bei der Staatsanwaltschaft eingegangen am 30. März 2021, mit Schreiben vom 30. März 2021 Beschwerde eingelegt. Die gesetzlichen Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung lägen nicht vor. Es handle sich um ein vereinfachtes Jugendverfahren. Eine schwierige Sach- und Rechtslage liege angesichts eines THC-Wertes von 1,9 ng/ml (Grenzwert 1,0 ng/ml) nicht vor, auch wenn das Gericht die Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen für erforderlich gehalten habe. Zudem sei nicht ersichtlich, dass sich der vormalige Angeklagte nicht habe selbst verteidigen können. Die Beschwerdeschrift ist am 6. April beim Amtsgericht Sigmaringen eingegangen.

Der Verteidiger beantragt, die Beschwerde zu verwerfen, da seine Bestellung wegen der Schwierigkeit der Sachlage erforderlich gewesen sei. Es stellten sich Probleme der Beweisverwertung. Zudem habe die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis nicht umfassend vorbereitet werden können.

II.

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig und begründet.

1. Die gemäß § 142 Abs. 7 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig. Die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO wurde eingehalten. Die Beschwerde gegen den am 30. März 2021 zugestellten Beschluss ging am 6. April beim Amtsgericht Sigmaringen ein.

2. Die Beschwerde ist begründet.

Die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO, § 69 JGG lagen nicht vor.

a) Eine schwierige Sachlage lag nicht vor.

Die Sachlage ist schwierig, wenn die Feststellungen zur Täterschaft oder Schuld — namentlich bei Aussage gegen Aussage (OLG Celle NStZ 2009, 175) — eine umfangreiche, voraussichtlich länger dauernde Beweisaufnahme erfordern (OLG Stuttgart StV 1987, 8) oder wenn — bei voraus-sichtlich kurzer Beweisaufnahme — besondere Probleme auftreten, beispielsweise die Notwendigkeit der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Kindes (OLG Koblenz MDR 1976, 776), die Würdigung sich möglicherweise widersprechender Zeugenaussagen (OLG Hamm StV 1985, 447), der Vorhalt erstinstanzlicher Protokolle in der Berufung (LG Hamburg StV 1997, 578) oder die Beachtung von Interessengegensätzen verschiedener Angeklagter. All dies war hier nicht der Fall.

Die Schwierigkeit der Sachlage ist auch dann gegeben, wenn die Hauptverhandlung ohne Akten-kenntnis nicht umfassend vorbereitet werden kann (OLG Jena StV 2006, 71; StV 2004, 585; OLG Karlsruhe StV 1987, 518; 1991, 199; OLG Köln StV 1991, 294; BayObLG StV 1991, 294; OLG Koblenz StV 1993, 461; NStZ-RR 2000, 176). Das ist bei Verfahren vor dem erweiterten Schöffengericht (LG Hagen StV 1987, 193), bei Wirtschaftsstrafsachen vor dem Amtsgericht (LG Kaiserslautern StV 1988, 521) oder in Verfahren mit einer Vielzahl von Taten (LG Frankfurt a. M. StV 1983, 69) oder Zeugen (LG Berlin NStZ 2010, 536; OLG Stuttgart StV 1987, 8; LG Osnabrück StV 1999, 249) die Regel. Da nur ein Verteidiger Akteneinsicht erhält (§ 147 StPO) widerspräche die Nicht-beiordnung eines Verteidigers in solchen Fällen dem Gebot eines fairen Verfahrens (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019, StPO § 140 Rn. 22). Ein solcher Fall lag ebenfalls nicht vor. Es handelte sich um ein vereinfachtes Jugendverfahren mit einem äußert überschaubaren Akteninhalt (39 Seiten bis zur Anzeige der anwaltlichen Vertretung durch den Verteidiger), der mit den oben aufgeführten Beispielen keineswegs vergleichbar ist. Das Gebot des fairen Verfahrens ist schon deshalb nicht verletzt, weil sich der Angeklagte beim vereinfachten Jugendverfahren keinem über Aktenkenntnis verfügenden Staatsanwalt gegenüber sieht.

Die Schwierigkeit der Sachlage kann auch die Auseinandersetzung mit Sachverständigengutachten (OLG Hamm StV 1987, 192; LG Bochum StV 1987, 383; OLG Karlsruhe StV 1991, 199) be-gründen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass nicht jedes in einer Hauptverhandlung zu erörternde Sachverständigengutachten zu einer Pflichtverteidigerbestellung führen kann. Erforderlich ist hier, dass das Gutachten inhaltlich so komplex ist, dass es besonderer Sachkunde oder Einarbeitung bedarf, um sich sachgerecht und gegebenenfalls kritisch mit ihm auseinander zu setzen. Ein solcher komplexer Fall lag jedoch nicht vor. Hier ging es nur um die Frage, wann der vormalige An-geklagte zuletzt vor der Tat Cannabisprodukte konsumiert hat. Die diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen sind auch ohne Kenntnis der entsprechenden Grenzwerte verständlich und können auch von einem Laien kritisch hinterfragt werden. Die Vernehmung des Sachverständigen dauerte 15 Minuten. Eine ausführliche, nur von einem Verteidiger zu bewerkstelligende Auseinandersetzung mit dem Gutachten war nicht erforderlich.

Daran ändert auch der Umstand nichts, dass es sich beim vormaligen Angeklagten um einen Jugendlichen handelte. Im Jugendstrafverfahren gelten für die Beurteilung der Pflichtverteidigerbestellung dieselben Grundsätze wie im Strafverfahren gegen Erwachsene (vgl. § 68 Nr. 1 JGG). Allerdings sind insoweit die Voraussetzungen des § 140 StPO extensiv auszulegen (MüKoStPO/Thomas/Kämpfer § 140 Rn. 54). Die Beiordnung kommt demnach z.B. in Betracht, wenn eine umfangreiche Beweiswürdigung notwendig oder einem Mitangeklagten ein Pflichtverteidiger beigeordnet worden ist (LG Düsseldorf BeckRS 2015, 12306). Daneben können im Jugendstrafverfahren auch andere Gesichtspunkte eine Rolle spielen, wie z.B. die geringere Lebenserfahrung des jugendlichen oder heranwachsenden Beschuldigten und eine daraus folgende größere Schutzbedürftigkeit. Aufgrund des durch Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren neu gefassten § 68 Nr. 5 JGG liegt notwendige Verteidigung ferner vor, wenn die Verhängung einer Jugendstrafe zu erwarten ist (BeckOK StPO/Krawczyk, 39. Ed. 1.1.2021, StPO § 140 Rn. 62). All dies war, zumal es sich um ein verein-fachtes Jugendverfahren handelte, nicht der Fall.

b) Ein schwierige Rechtslage lag ebenfalls nicht vor.

Die Rechtslage ist schwierig, wenn es bei Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt oder die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019, StPO § 140 Rn. 23). Dies war ersichtlich nicht der Fall.

c) Der vormalige Angeklagte war auch nicht unfähig, sich selbst zu verteidigen.

Hierfür bestehen überhaupt keine Anhaltspunkte. Insbesondere war der vormalige Angeklagte da-zu in der Lage, in einem handschriftlich verfassten Schreiben sinnvoll zum Tatvorwurf Stellung zu nehmen. Im Jugendstrafverfahren ist zudem auch keine extensive Auslegung dieser Variante des § 140 Abs. 2 StPO geboten (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 24, StPO § 140 Rn. 24).
3.

Aus gegebenem Anlass weist die Kammer darauf hin, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers bei gleichzeitiger Durchführung eines vereinfachten Jugendverfahrens verfahrensfehlerhaft erscheint. Sofern ein Verfahren tatsächlich die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordert, ist zur Gewährleistung der Durchführung eines fairen Verfahrens auch die Staatsanwaltschaft am Verfahren zu beteiligen, zumindest aber vor Bestellung anzuhören. Denn es ist davon auszugehen, dass die Staatsanwaltschaft nicht auf ihre Beteiligung am Verfahren verzichtet hätte, wenn sie gewusst hätte, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 465 Abs. 1 StPO analog.

Aus erzieherischen Gründen musste nicht gemäß § 74 JGG von der Auferlegung der Kosten dieses Verfahrens abgesehen werden.


Einsender: RA S. Kabus, Bad Saulgau

Anmerkung:


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