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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Unfähigkeit der Selbstverteidigung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Hamburg, Beschl. v. 21.05.2021 -601 Qs 18/21

Leitsatz: Von dem Grundsatz, dass eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers unzulässig ist, ist ausnahmsweise dann abzusehen, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1, 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.


Landgericht Hamburg

601 Qs 18/21

Beschluss

In der Strafsache
gegen pp.

Betreuer und Verteidiger:
Rechtsanwalt

hat das Landgericht Hamburg, Große Strafkammer 1, durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, den Richter .am Landgericht und die Richterin am 21. Mai 2021 beschlossen:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers vom 22. März 2021
wird der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 18. März 2021 (Az.: 168 Gs 485/21) aufgehoben.
2. Dem Beschwerdeführer wird rückwirkend ab dem 14. Juli 2020 Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe

1. Das Landeskriminalamt Hamburg (LKA 141) ermittelte wegen Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB gegen den ehemals Beschuldigten und jetzigen Beschwerdeführer. Er soll zwischen dem 25. und 26. Mai 2020 das Kleid einer Nachbarin aus dem Trockenkeller des von mehreren Parteien bewohnten Hauses entwendet und zerrissen haben. Der Beschwerdeführer erhielt Gelegenheit, sich bis zum 19. Juni 2020 zu diesem Vorwurf zu. äußern; das entsprechende polizeiliche Schreiben enthielt den Hinweis, dass er unter den Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO die Bestellung eines Verteidigers beanspruchen könne.

Am 12. Juni 2020 ging ein Schriftsatz des Betreuers und Wahlverteidigers des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt pp., am 10. Juni 2020 beim LKA 141 ein, mit dem er seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragte, auf die Betreuung seines Mandanten aufmerksam machte und unter weiteren Ausführungen seinen Betreuerausweis vom 20. April 2018 (BI. 11 d.A.) in Kopie überreichte.

Unter dem 14. Juli 2020 verfügte die Staatsanwaltschaft die Gewährung von Akteneinsicht für den Verteidiger und vermerkte, mit einem Fragezeichen versehen, dass das Verfahren möglicherweise eingestellt werden könne (BI. 14R d.A.).

Nachdem er am 12. Oktober 2020 Akteneinsicht erhalten hatte, beantragte der Verteidiger mit am 21. -Oktober 2020 bei der Staatsanwaltschaft eingegangenem weiterem Schriftsatz, das Ermittlungsverfahren einzustellen, wies auf. seinen vorangegangenen Beiordnungsantrag hin und beantragte richterliche Entscheidung über denselben. Die Staatsanwaltschaft Hamburg vermerkte nun am 23. Oktober 2020, eine Pflichtverteidigerbestellung sei bei dem einfach gelagerten Sachverhalt nicht erforderlich und sie werde mangels Augenzeugen das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO einstellen. Sie verfügte mit diesem Vermerk zwar, die Akte solle dem Amtsgericht Hamburg vorgelegt werden, dies geschah jedoch erst am 18. März 2021 (BI. 16 und 17 d.A.). Die Gründe für diese zeitliche Verzögerung finden sich in der Akte nicht.

Mit Beschluss vom selben Tage lehnte das Amtsgericht den Beiordnungsantrag ab. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde vom 22. März 2021, der das Amtsgericht Hamburg nach dortigem Eingang am 23. März 2021 mit Verfügung vom 12. Mai 2021 nicht abhalf und die es der Kammer nunmehr zur Entscheidung vorlegt.

Die Staatsanwaltschaft stellte zwischenzeitlich am 13. April 2021 das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer gemäß § 170 Abs. 2 StPO
ein.

II.

Die hier am 12. Mai 2021 eingegangene sofortige Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

1. Die sofortige Beschwerde ist nicht aufgrund prozessualer Überholung durch die-Verfahrenseinstellung gegenstandslos geworden.

An einer Beschwer im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts fehlt es nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens zwar, - wenn der Beschwerdeführer die Bestellung eines Pflichtverteidigers verfolgt (OLG Hamburg, Besohl. v. 16. September 2020. - 2 Ws 122/20, StraFo 2020, 486). Bei einer Einstellung gemäß § 170 Abs. 2 StPO kann das Ermittlungsverfahren aber jederzeit wiederaufgenommen werden, da sie nach allgemeiner Meinung nicht rechtskraftfähig ist und keinen Strafklageverbrauch bewirkt (MüKoStPO/Kölbel, 1. Aufl. 2016, StPO § 170 Rn. 26; KK-StP0/Moldenhauer, 8. Aufl. 2019 Rn. 23, StPO § 170 Rn. 23).

2.
Die rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist hier ausnahmsweise gerechtfertigt:‘ Die Voraussetzungen für eine Beiordnung lagen schon zum Zeitpunkt des vor der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gestellten Antrags vor. Dieser wurde aus weder. vom Beschwerdeführer, noch von seinem Verteidiger zu vertretenden Gründen nicht unverzüglich antragsgemäß beschieden.

Dazu im Einzelnen:

a) Grundsätzlich - kommt die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht in Betracht. Die gerichtliche Bestellung eines Verteidigers kann nur für die Zeit ab dem Beiordnungsakt erfolgen, da dieser Akt keinen Einfluss darauf hat, ob in zurückliegenden Verfahrensabschnitten ein Verteidiger tatsächlich mitgewirkt hat oder nicht. Für die erfolgte Verteidigermitwirkung nachträglich eine Bestellung anzuordnen, würde nur noch das Kosteninteresse des Beschwerdeführers oder des Verteidigers befriedigen, aber nicht dem Zweck der Sicherung einer Verteidigung dienen (OLG Hamburg, a.a.O.). Dies gilt nach bislang überwiegender obergerichtlicher Rechtsprechung (Übersicht bei BeckOK StPO/Krawczyk,. 39. Ed. 1.1.2021, StPO § 142 Rn. 30) auch dann, wenn der Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt wurde, und zwar ungeachtet der Änderung der §§ 140 ff. StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung. vom 10. Oktober 2019. Der von Artikel 4 der PKH-Richtlinie (Richtlinie EU 2016/1919) verursachte. Umsetzungsbedarf hat nichts daran geändert, dass das deutsche System der notwendigen Verteidigung, auf dem die Pflichtverteidigerbestellung aufbaut, allein an die Prüfung des Rechtspflegeinteresses -anknüpft (BT-Drucks19/13829, S. 22).

Auch Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK, mit dem von Teilen der instanzgerichtlichen Rechtsprechung eine rückwirkende Bestellung gerechtfertigt wird (LG Bremen, Beschl. v. 17. August 2020 - Qs 221/20, StraFo 2020, 454; LG Frankenthal, Beschl. v. 16. Juni 2020 - 7 Qs 114/20 Rn. 3, juris), erfordert dabei im Grundsatz kein anderes Ergebnis, statuiert dieser doch das Recht des Beschuldigten, falls ihm die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Der letzte Halbsatz verdeutlicht, dass eine „nunmehr eindeutige Verknüpfung des Kosteninteresses des Beschuldigten mit seinem Recht auf notwendige Verteidigung" (so LG Bremen, a.a.O.) gerade nicht losgelöst von dem gesetzgeberischen Zweck der Sicherung des Strafverfahrens erfolgt. Diesem Zweck kann eine rückwirkende Bestellung aber auch nach Auffassung der Kammer grundsätzlich nicht mehr dienen.

b) Anders ist dies nach Überzeugung der Kämmer jedoch ausnahmsweise dann zu beurteilen, wenn die Umstände.des Einzelfalles ergeben, dass die Bestellung schon zum Zeitpunkt der Antragstellurig dem Zweck der Sicherung des Strafverfahrens gedient hätte, sie aber aus Gründen unterblieben ist, die weder vom Beschuldigten noch von seinem Verteidiger zu vertreten sind (vgl. zu ähnlichen Ausnahmekonstellationen einer unterbliebenen Bestellung aus „justizinternen Gründen" LG Hamburg Beschl. v. 28. März 2018 — 632 Qs 9/18, BeckRS 2018, 15059 Rn. 12; LG Mannheim Beschl. v. 26. März 2020 — 7 Qs 11/20, BeckRS 2020, 4792). So liegt der Fall hier.

Der an das LKA 141 und damit eine Behörde des Polizeidienstes im Sinne des § 142 Abs. 1 S. 1 StPO (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 142. Rn. 3) gerichtete Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung vom 12. Juni 2020 ist von der Staatsanwaltschaft nicht gemäß § .142 Abs.1 S. 2 StPO unverzüglich, d.h. spätestens zum Zeitpunkt der Verfügung vom 14. Juli 2020, dem Gericht zur Entscheidung vorgelegt worden. Nachvollziehbare, nicht in der Sphäre der Behörden liegende Gründe für diese Verzögerung sind aus der Akte nicht ersichtlich.

Der Antrag auf Beiordnung wäre zu diesem Zeitpunkt auch positiv zu bescheiden gewesen. Zwar genügt die bloße Bestellung eines Betreuers nicht, um auch eine Verteidigerbestellung auszusprechen. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt aber dann ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn der Beschuldigte aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten oder seines Gesundheitszustandes in seiner Verteidigungsfähigkeit eingeschränkt ist. Eine Pflichtverteidigerbestellung ist mithin schon dann notwendig, wenn an der Fähigkeit der Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen (Schmitt in: Meyer-Go ßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 140 Rn.-30a).
Dies ist hier der Fall.

Dem Betreuerausweis und den Angaben des Betreuers ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer für die Bereiche Gesundheitsfürsorge, Organisation der ambulanten Versorgung, Vermögenssorge mit Einwilligungsvorbehalt, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern sowie für Wohnungsangelegenheiten unter Betreuung steht; wobei der Aufgabenkreis des Betreuers auch die Entgegennahme, das Öffnen und das Anhalten der Post im Rahmen der übertragenen Aufgabenkreise umfasst. Der damalige Beschuldigte leide nach den schlüssigen Angaben seines Betreuers in dem Beiordnungsantrag vom 12. Juni 2020 unter einer auffällig geringen geistigen Flexibilität Lind einer Einfachheit in der Struktur des formalen Denkens. Zudem liege bei ihm eine Lese-Sinn-Verständnisstörung mit spezifischem Leistungsdefizit vor und er habe Konzentrationsstörungen.

Vor diesem Hintergrund bestehen erhebliche Zweifel daran, dass er sich — auch in einem einfach gelagerten Fall wie hier — mit den gegen ihn gerichteten Vorwürfen in einem Strafverfahren auseinandersetzen und sich im Hinblick auf die Rechtsfolgen allein ausreichend verteidigen kann. Insbesondere die Betreuung in Bezug auf die Vermögenssorge und die Vertretung gegenüber Behörden sowie für Wohnungsangelegenheiten belegt eine die erheblichen Zweifel begründende umfassende Betreuung. Dies gilt schon dann, wenn nur die Verurteilung zu einer geringfügigen Geldstrafe droht (so auch OLG Hamm, Beschluss vom 14.8.2003 - 2 Ss 439/03, NJW 2003, 3286; LG Berlin, Beschluss vom 19.9.2018 — 502 Qs 102/18, BeckRS 2018, 39322). Vor dem Hintergrund der beiden Vorstrafen des Beschwerdeführers, der im Jahr 2016 einschlägig u.a. wegen Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen und im Jahr 2019 wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt worden war, lag es nicht fern, dass er sich angesichts der Rechtsfolgen seiner Tat, insbesondere der Tagessatzhöhe, in einer Hauptverhandlung verteidigen müsste. Dies hätte Kenntnisse über seine Einkunft- und Vermögenslage vorausgesetzt. Hierbei hätte es sich um einen von dem Aufgabenkreis des Betreuers ausdrücklich umfassten Bereich gehandelt. Eine notwendige Verteidigung des Betreuten hätte daher dem Zweck der Sicherung des Strafverfahrens gedient.

Der Voraussetzung, dass der Beschuldigte gemäß §§ 140, 141 StPO noch keinen Verteidigerhaben darf, um einen Pflichtverteidiger bestellt zu bekommen, steht dabei der Fall gleich, dass der Wahlverteidiger ankündigt, mit der Bestellung sein Wahlmandat niederzulegen (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Aufl. 2021, § 141 Rn. 4). Eine solche Ankündigung besteht hier konkludent in der Anzeige als Wahl- und dem Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung in demselben Schreiben vorn 10. Juni 2020, denn in dem Antrag auf Beiordnung ist in der Regel die Ankündigung der Niederlegung des Wahlmandats für den Fall der Beiordnung zu sehen (MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, 1. Aufl. 2014, StPO § 141 Rn. 4). Dass der Betreuer zugleich ein Rechtsanwalt ist, ändert wegen der unterschiedlichen Aufgaben- und Pflichtenkreise beider nichts.

Auf die vom Amtsgericht in dem Beschluss vom 18. März 2021 genannten Voraussetzungen des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO, demzufolge eine Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen, kam es dabei nicht an. Dieser bezieht sich auf eine Bestellung von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 StPO. Hier handelte es sich wegen des vorangegangenen Antrags aber um einen Fall des § 141 Abs. 1 StPO. Zudem war zu dem Zeitpunkt der erstmaligen Stellung des Beiordnungsantrags am 12. Juni 020 noch nicht absehbar, ob das Ermittlungsverfahren eingestellt werden würde. Einen entsprechenden, mit einem Fragezeichen versehenen Vermerk notierte die Staatsanwaltschaft erstmals mit der Verfügung vom 14. Juli 2020.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen' Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.


Einsender: RA D. Ketelsen, Hamburg

Anmerkung:


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