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Entscheidungen

StPO

Beweisverwertungsverbot, EncroChat-Krypto-Handys

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Schleswig, Beschl. v. 29.04.2021 - 2 Ws 47/21

Leitsatz: 1. § 100e Abs. 6 StPO ist auch bei grenzüberschreitenden Ermittlungen geeignete Maßstabsnorm des deutschen Strafverfahrensrechts für die Verwertung aus dem Ausland erlangter Daten. Insoweit dürfen auch Zufallsfunde aus im Ausland geführten Ermittlungen verwertet werden, wenn im Zeitpunkt ihrer Verwendung die die sich aus § 100b oder § 100c StPO folgenden Anforderungen erfüllt sind.
2. An die von französischen Strafverfolgungsbehörden erfolgte Auswertung der Telekommunikation mit Krypto-Telefonen der Plattform EncroChat kann am ehesten der Maßstab für eine Onlinedurchsuchung gemäß § 100b StPO angelegt werden.
3. Soweit im europäischen Rechtsverkehr die gemäß Art. 31 Richtlinie 2014/41/EU vorgesehene Unterrichtung des anderen Mitgliedsstaates von der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs unterblieben ist, kann dies auf europäischer Ebene durch deren Verwendung geheilt werden.
4. Gleichwohl kann aus deutscher Sicht ein Verfahrensfehler darin bestehen, dass es nicht zur Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle gemäß §§ 92 b, 92 d IRG anhand der besonders aus §§ 59 Abs. 3, 91 b IRG folgenden Kriterien gekommen ist. Allerdings folgt hieraus bei vorzunehmender Abwägung zwischen den Strafverfolgungsbelangen und dem Interesse des Betroffenen nicht zwingend ein Verwertungsverbot.


In pp.

Die Beschwerde des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

Der Angeklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I.

Der Angeklagte befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts R. vom 1. November 2020 seit dem 5. November 2020 in ununterbrochener Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt N.. Ihm wird mit der am 11. Januar 2021 durch die Staatsanwaltschaft K. erhobenen Anklage vorgeworfen, in fünf Fällen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben (Tatzeitraum: 2. April bis 23. Mai 2020).

Der dringende Tatverdacht ist mit der Auswertung der Kommunikationsdaten des EucroChat-Mobiltelefons mit der Kennung „yyyyy.ncrochat.com“ begründet worden, welche zur Identifizierung des Angeklagten geführt habe. Bei dem genutzten Endgerät handelt es sich um ein sogenanntes Krypto-Handy, welches aufgrund einer besonderen Verschlüsselungssoftware als abhörsicher galt, einen hohen Anschaffungspreis hatte und dessen Nutzungsgebühren sich auf bis mehrere tausend Euro jährlich beliefen. Der Erwerb war ausschließlich von anonym agierenden „Resellern“ - nicht aber im Direkterwerb - möglich. Zudem waren weder Verantwortliche noch ein Firmensitz des Anbieters EncroChat bekannt, weshalb Strafverfolgungsbehörden länderübergreifend davon ausgingen und gehen, dass diese Telefone überwiegend von Beteiligten krimineller Handlungen - so auch zur kommunikationssicheren Abwicklung von Drogengeschäften - verwendet wurden.

Die deutschen Strafverfolgungsbehörden - so schließlich auch die Staatsanwaltschaft K. - gelangten in den Besitz der zur Ermittlung des Angeklagten als Tatverdächtigem führenden Daten, nachdem es der Staatsanwaltschaft Lille in Frankreich im Rahmen einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe mit den Niederlanden, die gegen die EncroChat-Betreiber u.a. wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung zur Begehung von Straftaten oder Verbrechen ermittelte, unter Beteiligung von Eurojust und Europol im Frühjahr 2020 gelungen war, mittels einer Datenabfanganlage auf den Server einzudringen und die Kommunikation zu entschlüsseln. Hierdurch wurde auf über 32.000 Nutzer-Accounts unter deren Nutzernamen - so auch des Angeklagten - in 121 Ländern zugegriffen. Die technische Vorgehensweise des Zugriffs auf den Server unterliegt in Frankreich der militärischen Geheimhaltung. Den Ermittlungsmaßnahmen - auch soweit sie sich auf das deutsche Hoheitsgebiet erstreckten - lagen ermittlungsrichterliche Anordnungen französischer Strafverfolgungsbehörden zugrunde.

Zu einer Unterrichtung der Bundesrepublik Deutschland als „unterrichteter Mitgliedstaat“ durch die Republik Frankreich als „überwachender Mitgliedsstaat“ im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen darüber, dass sich die Zielperson der Überwachung auf deutschen Hoheitsgebiet befindet oder befunden hat, kam es nicht, so dass auch eine Mitteilung der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie, dass die Überwachung durchzuführen oder zu beenden sei, unterblieb.

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main - Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität - beauftragte am 23. März 2020 in dem Ermittlungsverfahren gegen „Unbekannt“ unter dem Aktenzeichen xxx wegen des Verdachts des Verbrechens nach § 30a BtMG - auch hinsichtlich etwaiger getrennt zu führender Folgeverfahren - die ihrer Behörde angehörenden Dezernentinnen und Dezernenten der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT), sowie in Rechtshilfesachen gemäß § 145 GVG zusätzlich mit der Wahrnehmung von Amtsverrichtungen der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main.

In der Folgezeit wurden die EncroChat-Daten dem Bundeskriminalamt in Deutschland in der Zeit von 3. April bis zum 28. Juni 2020 übermittelt und dort aufbereitet. Aus dem Unbekannt-Verfahren der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main wurden sodann getrennte Ermittlungsverfahren gegen die ermittelten Nutzer eingeleitet und den örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften über die jeweiligen Landeskriminalämter zugeleitet.

In dieser Zeit erließ die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main sodann am 2. Juni 2020 auf Grundlage der Art. 5ff. der erwähnten Richtlinie eine Europäische Ermittlungsanordnung (EEA), welche nach Art. 1 der Richtlinie auch auf die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, erlassen werden kann. Unter SECTION C, in welcher die erbetenen Maßnahmen mitgeteilt werden, heißt es: „Das Bundeskriminalamt wurde über Europol informiert, dass in Deutschland eine Vielzahl schwerster Straftaten (insbesondere Einfuhr und Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringen Mengen) unter Nutzung von Mobiltelefonen mit der Verschlüsselungssoftware „EncroChat“ begangen werden. In diesem Zusammenhang ersuchen wir die französischen Justizbehörden, die unbeschränkte Verwendung der betreffenden Daten bezüglich der über Encrochat ausgetauschten Kommunikation in Strafverfahren gegen die Täter zu genehmigen.“

Vorangegangen war eine Mitteilung Frankreichs über die gewonnenen Erkenntnisse nach Art. 7 des Rahmenbeschlusses 2006/960/JI des Rates vom 18. Dezember 2006 über die Vereinfachung des Austausches von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, wonach Strafverfolgungsbehörden den Strafverfolgungsbehörden anderer Mitgliedstaaten Informationen und Erkenntnissen unaufgefordert zur Verfügung stellen, wenn konkrete Gründe für die Annahme bestehen, dass diese dazu beitragen könnten, Straftaten nach Artikel 2 Absatz 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten aufzudecken, zu verhüten oder aufzuklären.

Die Europäische Ermittlungsanordnung ist am 13. Juni 2020 durch die zuständige Ermittlungsrichterin in Lille anerkannt und sodann die Fortsetzung der - zuvor ohne Ersuchen erfolgten - Übermittlung der nunmehr ersuchten Daten über Europol angeordnet worden. Die französischen Behörden haben einer Verwendung der Daten „im Rahmen eines jeden Ermittlungsverfahrens in im Hinblick auf jedwedes Gerichts-, Strafverfolgungs- oder Untersuchungsverfahren“ zugestimmt.

Nachdem die Verteidiger des Angeklagten gegen die Haftfortdauerentscheidung des Amtsgerichts K. vom 9. Dezember 2020 Beschwerde eingelegt hatten, hat die - nach Anklageerhebung selbst für die Entscheidung über die Haftfortdauer zuständig gewordene - große Strafkammer mit der angefochtenen Entscheidung den Haftbefehl des Amtsgerichts R. vom 1./5. November 2020 aufrechterhalten und Haftfortdauer angeordnet.

Die Kammer hat sowohl den dringenden Tatverdacht als auch einen Haftgrund im Sinne von
§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO angenommen. Dabei ist sie davon ausgegangen, dass dem dringenden Tatverdacht ein von der Verteidigung umfassend begründetes Beweisverwertungsverbot nicht entgegenstehe.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit erneut erhobener Beschwerde, weil er der Auffassung ist, die in Frankreich gewonnenen und nach Deutschland übermittelten Erkenntnisse seien in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren nicht verwertbar.

II.

Die gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Angeklagten hat in der Sache keinen Erfolg.

Die angefochtene Haftfortdauerentscheidung hält einer rechtlichen Überprüfung stand, denn zu Recht hat die Kammer die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft nach § 112 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StPO bejaht (hierzu unter 1.) und ein dieser Beurteilung entgegenstehendes Beweiserhebungs- bzw. Verwertungsverbot verneint (hierzu unter 2.).

1. Soweit sie aufgrund der Ermittlungsergebnisse und der in der Anklageschrift aufgeführten Beweismittel angenommen hat, der Angeklagte sei Nutzer des EncroChat-Mobiltelefons mit der Kennung „... encrochat.com“ und aus den ausgewerteten Daten ergäben sich dringende Gründe für den Anklagevorwurf des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a BtMG, begegnet dies keinen Bedenken. Gleiches gilt für die hieraus folgende Annahme der Kammer, es sei bei dem vorbestraften und unter Bewährung stehenden Angeklagten, der über Auslandskontakte verfüge, aufgrund der erheblichen Straferwartung von einer Fluchtgefahr auszugehen und die Anordnung der Untersuchungshaft deshalb auch verhältnismäßig.

Diesbezüglich sieht der Senat angesichts der objektiven und umfassend dokumentierten Beweislage sowie der Schwere der Tatvorwürfe zu weiteren Ausführungen keine Veranlassung.

2. Ebenso ist die Kammer mit zutreffenden rechtlichen Erwägungen davon ausgegangen, dass der Annahme des dringenden Tatverdachts nicht entgegen gehalten werden kann, die vorhandenen Erkenntnisse unterlägen einem Beweisverwertungsverbot.

Die Beweiserhebung der französischen Strafverfolgungsbehörden in dem dort geführten (nationalen) Ermittlungsverfahren unterliegt aufgrund des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nur einer eingeschränkten Überprüfung (hierzu unter a)). Die einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle unterliegende Beweiserhebung der deutschen Strafverfolgungsbehörden erfolgte überwiegend in Übereinstimmung mit den diesbezüglichen Rechtsvorschriften sowie europarechtlichen Richtlinien und Beschlüssen (hierzu unter b)). Schließlich konnten die so zunächst in einer Unbekannt-Sache gewonnenen Erkenntnisse in den hieraus eingeleiteten individuellen Strafverfahren auch unter Berücksichtigung der sodann geltenden nationalen Vorschriften der Strafprozessordnung gleichermaßen erhoben und verwertet werden (hierzu unter c)).

a) Ein Beweisverwertungsverbot folgt zunächst nicht aus einem etwaigen Beweiserhebungsverbot der französischen Strafverfolgungsbehörden. Insoweit ist schon überhaupt nicht ersichtlich, dass der technisch mögliche Zugriff auf den EncroChat-Server in dem gegen dessen Betreiber gerichteten Verfahren in rechtlicher Hinsicht französischem Strafverfahrensrecht widersprach. Vielmehr steht nach Aktenlage fest, dass die dortigen Maßnahmen in grundsätzlich rechtsstaatlicher Weise - insbesondere unter wiederholter, dem Fortgang der Ermittlungen Rechnung tragender Beteiligung einer Ermittlungsrichterin - angeordnet und überprüft worden sind.

Zudem beruht die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nach Art. 82 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen. Mangels gegenteiliger - und seitens des Angeklagten so auch konkret nicht vorgebrachter - Anhaltspunkte ist aufgrund dieses den innereuropäischen Rechtshilfeverkehr prägenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung von der Rechtsstaatlichkeit der französischen Ermittlungsmaßnahmen auszugehen. Anderes folgt auch nicht etwa daraus, dass es sich vorliegend um überaus umfassende und grundrechtsintensive Maßnahmen gehandelt hat. Dem Verfahren lag nämlich ein gleichermaßen komplexer und schwerwiegender Tatvorwurf zugrunde, denn das Angebot abhörsicherer - zum Begehen von Straftaten nicht nur geeigneter, sondern annehmbar auch bestimmter - Krypto-Telefone stellt einen ungewöhnlich schweren Angriff auf die Rechtsordnung dar. Auch unter Anwendung des deutschen Strafverfahrensrechts wären daher strafprozessuale Maßnahmen mit hoher Eingriffsqualität durchaus denkbar gewesen (hierzu noch unter c)).

b) In einem Europa der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sind bei der justiziellen Zusammenarbeit zweifelsohne auch Regeln einzuhalten, die sich aus den bereits erwähnten Unionsakten ergeben, namentlich der erwähnten Richtlinie 2014/41/EU, dem erwähnten Rahmenbeschluss 2006/960/JI, aber auch den Kerngewährleistungen des Rechtsstaatsprinzips und des - auch europäischen - Grundrechtskatalogs. Auch insoweit sieht aber der Senat die zu beachtenden Anforderungen als im Ergebnis gewahrt an:

Fehl geht zunächst der Einwand, der Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnung am 2. Juni 2020 sei rechtsstaatswidrig verzögert worden, um den bereits zuvor eingeleiteten Datentransfer unkontrolliert und ungehemmt weiter laufen lassen zu können. Denn nicht nur erlaubt Art. 1 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2014/41/EU ausdrücklich auch den - nachgängigen - Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung in Bezug auf die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaates befinden. Vielmehr erklärt sich die Zeitverschiebung nach Übermittlung der ersten Daten auch unschwer damit, dass diese Daten ohne weitere Ermittlungshandlungen allein noch keine präzisen Ermittlungsansätze liefern konnten. Umgekehrt spricht es vielmehr für eine gewisse Vorsicht der deutschen Behörden, den zunächst im Sinne des Art. 7 des Rahmenbeschlusses ohne Ersuchen - mithin „spontan“ - verlaufenden Datenzulauf zunächst noch weiter zu sichten. Anhaltspunkte für systemwidrige und gar absichtliche Verzögerungen liegen damit fern.

Insoweit war gerade vor dem Aspekt des Schutzes der Privatsphäre auch zu beobachten, auf welche Inhalte die Daten über die Kommunikation mittels der Krypto-Telefone sich wirklich bezogen. Wichtig und richtig war es daher festzustellen, dass - wie das Landeskriminalamt in seinem Bericht vom 21. Oktober 2020 mitgeteilt - hat „es in den Chats nur um Deliktisches“ gegangen sei - insbesondere um Drogengeschäfte - und „private Dinge so gut wie nicht besprochen“ worden seien. Wäre es anders gewesen, hätte ggf. der Datentransfer beendet werden müssen.

Weiter fern liegt auch die Annahme eines dahin gerichteten „Befugnis-Shopping“, der Ermittlungsweg über französische Behörden sei bewusst gewählt worden, um die möglicherweise rigideren Vorschriften des deutschen Strafverfahrensrechts umgehen zu können. Zwar trifft es zu, dass im Falle etwa einer nach Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41/EU möglichen Überwachung des Telekommunikationsverkehrs mit technischer Hilfe eines anderen Mitgliedsstaates gemäß Art. 6 Abs. 1 lit b die strengen Voraussetzungen der §§ 100a f. StPO zu beachten gewesen wären. Jedoch liegt ein solcher Fall nicht vor, weil sich die französischen Ermittlungen zunächst gegen die mutmaßlich in Frankreich ansässigen Betreiber der Plattform EncroChat richteten, die Ermittlungen also dort aus tatsächlichen und nicht nur aus taktischen Gründen ihren Ursprung hatten. Ein kollusives Zusammenwirken deutscher und französischer Behörden ist damit nicht zu erkennen.

Somit verbleibt allein, dass entgegen Art. 31 Abs. 1 lit b) der Richtlinie 2014/41/EU Frankreich als überwachender Mitgliedstaat die zuständigen Behörden in Deutschland nicht förmlich von der Überwachung unterrichtet hatte, nachdem die französischen Behörden Kenntnis vom Aufenthalt von Zielpersonen in Deutschland erhalten hatten. Dies betrifft zwar nicht den Beginn der Ermittlungen, da - wie erwähnt - Zielpersonen zunächst die Betreiber von EncroChat selbst waren. Je mehr aber die Nutzer in den Fokus rückten, hätte sich eine Unterrichtung angeboten, um eine Überprüfung nach den §§ 91 b Abs. 1 Nr. 1 bzw. § 59 Abs. 3 IRG mit § 100a ff. StPO zu ermöglichen (ebenso OLG Bremen, Beschluss vom 18. Dezember 2020 - 1 Ws 166/20 -, bei juris Rn. 24 ff.; OLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 - 1 Ws 2/21 -, bei juris Rn. 100 ff.). Allerdings sieht das europäische Recht für einen derartigen Fall schon kein Verwertungsverbot vor. Insbesondere aber haben die deutschen Behörden die Daten verwendet, was - aus der Perspektive des europäischen Rechts - einer Heilung des europarechtlichen Verfahrensverstoßes gleichkommt.

Umgekehrt hat auch Frankreich der Umwidmung des Verwendungszwecks der übermittelten Daten für das hier konkrete Verfahren auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt zugestimmt, so dass auch kein Verstoß gegen eine von den französischen Behörden gesetzte Zweckbestimmung oder die Vorschrift des § 92b IRG des deutschen Rechtshilferechts in Betracht kommt.

c) Die so unter Einhaltung der europa- und rechtshilferechtlichen Bestimmungen gewonnen Ermittlungsergebnisse sind in dem hieraus gegen den Angeklagten in Deutschland eingeleiteten Verfahren auch konkret verwertbar.

aa) Die Verwertbarkeit mittels Rechtshilfe eines ausländischen Staates gewonnener Beweise richtet sich nach der Rechtsordnung des um diese Rechtshilfe ersuchenden Staates (BGH, Beschluss vom 21. November 2012 - 1 StR 310/12 -, Rn. 21ff. m.w.N., juris). Dieser für die Rechtshilfe entwickelte Grundsatz gilt nach Auffassung des Senats auch für Erkenntnisse, die schon vor einem förmlichen Rechtshilfeersuchen in dem ersuchten Staat vorhanden waren, wenn sie - wie vorliegend unter b) festgestellt - aufgrund europarechtlicher Vereinbarungen unter Einhaltung der dortigen Bestimmungen im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union spontan übermittelt wurden. Mithin sind auch für die Verwertung der vor der am 13. Juni 2020 genehmigten Europäischen Ermittlungsanordnung gewonnenen und den deutschen Polizeibehörden übermittelten Daten die Beweiserhebungs- und Verwertungsvorschriften der Strafprozessordnung maßgeblich. Diese sind insoweit dahin auszulegen, dass sie auch grenzüberschreitende Sachverhalte erfassen (so auch Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 -1 Ws 2/21 - Rn.59, juris).

Der aus der Verwertung der Daten zulasten des Angeklagten sich ergebende Grundrechtseingriff in Artikel 10 und 2 GG verletzt ihn auch bei Anlegung dieses Maßstabs nicht in diesen Rechten; denn entgegen der Auffassung der Verteidigung findet er eine hinreichende grundrechtseinschränkende Rechtsgrundlage in § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO. Danach dürfen gemäß §§ 100b und 100c StPO erlangte und verwertbare personenbezogene Daten in anderen Strafverfahren ohne Einwilligung der insoweit überwachten Personen „nur zur Aufklärung einer Straftat, aufgrund derer Maßnahmen nach §§ 100b und 100c StPO angeordnet werden könnten“, verwendet werden. Soweit der Wortlaut der Vorschrift an eine Datengewinnung schon auf Grundlage der §§ 100b und 100c StPO anknüpft, bedeutet dies allerdings nicht, dass eine Gewinnung bereits auf der Grundlage entsprechender Anordnungen erfolgt sein muss oder im Sinne eines hypothetischen Ersatzeingriffs hätten erfolgen können.

Mit dem Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG Hamburg a.a.O., Rn. 63) ist der Senat vielmehr der Auffassung, dass auch Zufallsfunde verwendet werden dürfen, wenn sie - was insbesondere die Deliktsschwere des Tatverdachts anbelangt - die Anordnung entsprechender Maßnahmen erlauben „könnten“. Hierfür streitet nicht nur - wie gezeigt - der Normwortlaut, sondern auch der in § 108 Abs. 1 Satz 2 StPO zum Ausdruck kommende Grundgedanke der Berücksichtigungsfähigkeit von Zufallsfunden und die Notwendigkeit eines grundrechtskonformen Ausgleichs zwischen einer effektiven Strafrechtspflege einerseits und dem Schutz des Einzelnen vor rechtsstaatlich nicht mehr tolerierbaren Grundrechtseingriffen andererseits.

Sinn und Zweck des § 100e Abs. 6 StPO ist es nämlich nicht, eine Verwertung solcher über den grenzübergreifenden Datenaustausch gewonnenen Zufallsfunde generell zu verhindern, wohl aber, sie im Sinne einer Abwehr einer uferlosen Weiterverwertung zu beschränken. Eine andere Betrachtungsweise liefe einer effektiven Strafrechtspflege zuwider, die nur dann gewährleistet ist, wenn Straftaten grundsätzlich auch grenzüberschreitend verfolgt werden können. Ein rechtsstaatswidriger Missbrauch wird durch die Regelungen des IRG, die europarechtlichen Vorschriften und Abkommen und das förmlich ausgestaltete Rechtshilfeverfahren verhindert, deren auf eine gemeinsame Strafverfolgung und wechselseitige Unterstützung der Beitrittsstaaten ausgerichteten Regelungen auch die Beachtung der Individualrechte gewährleisten. Diese zwischenstaatlichen Vereinbarungen liefen aber ins Leere, würde ein Staat allein auf Zufallsfunde innerhalb seiner eigenen Strafverfahren beschränkt werden.

Ebenso berührt es die Anwendung von § 100e Abs. 6 StPO nicht, dass nach derzeitiger Sachlage nicht genau feststeht, mit welchen technischen Maßnahmen die französischen Behörden genau gearbeitet haben, ob also Telekommunikationsüberwachungen nach § 100a StPO, eine Online-Durchsuchung nach § 100b StPO, eine Kombination beider Maßnahmen oder eine Maßnahme eigener Art vorgenommen worden ist. Denn der Grundrechtsschutz wird dadurch am besten gewahrt, wenn die Regelungen für den potentiell intensivsten Eingriff angewandt werden, dies ist die in § 100e Abs. 6 StPO gerade auch erwähnte Online-Überwachung.

bb) Die Voraussetzungen des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO sind auch erfüllt.

Zunächst liegt der Verwendung der Daten der Verdacht eines unerlaubtes Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen gemäß §§ 29a Abs. 1 Nr. 2, 53 BtMG zugrunde. Es handelt sich dabei um Katalogtaten nach § 100b Abs. 2 Nr. 4 lit b) StPO.

Auch von einer hinreichend konkreten Verdachtslage ist auszugehen. Zwar bestimmen sich die Anforderungen insoweit insbesondere nach § 100b Abs. 1 Nr. 1 StPO, welcher Vorschrift zufolge nur „bestimmte Tatsachen“ den Verdacht der Täterschaft oder Teilnahme an einer in Abs. 2 angeführten Katalogtat begründen können. Damit notwendig, aber auch ausreichend ist ein „qualifizierter Tatverdacht“, der bereits ein gewisses Maß an Konkretisierung erreicht haben muss und nicht nur unerheblich sein darf (Gercke in Gercke/Julius/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2019, § 100b m.w.N.). Vage Anhaltspunkte oder gar bloße Vermutungen reichen nicht (BVerfG NJW 2007, 2752 f.; BGH StV 2017, 434; Kinzig StV 2004, 563). Diese Anforderungen sind spätestens durch die aus dem Datenbestand ausgelesenen Textnachrichten gewahrt. Dass diese erst durch die Durchsuchungsmaßnahmen gewonnen wurden, ändert hieran nichts. Denn im Rahmen einer Anwendung des § 100e Abs. 6 StPO geht es allein um die Verwendung anderweitig gewonnener Erkenntnisse, so dass es auf eine hinreichende Konkretisierung zu diesem - und nicht zu einem früheren - Zeitpunkt ankommt.

Weiter wurde die Subsidiaritätsklausel der § 100b Abs. 1 Nr. 3 StPO beachtet. Die Erforschung des Sachverhaltes war erkennbar nur durch die gewählte Art der Durchsuchung möglich.

Schließlich wäre eine Maßnahme gemäß § 100b Abs. 1 StPO auch nicht unverhältnismäßig gewesen. Hierbei ist nicht auf die Gesamtmaßnahme, also die Überwachung sämtlicher EncroChat-Mobiltelefone, abzustellen. Vielmehr kommt es allein darauf an, ob unter Berücksichtigung der gegebenen Verdachtslage eine Einzelmaßnahme gegen den jeweiligen Nutzer möglich gewesen wäre.

cc) Soweit über die Erfüllung der Voraussetzungen des § 100e Abs. 6 StPO hinaus noch Verwertungsverbote zu diskutieren wären, liegen diese - wie bereits gezeigt worden ist - schon der Sache nach weit überwiegend nicht vor. Einzig in der unterlassenen Unterrichtung nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41/EU könnte ein auch für das nationale Recht bedeutsamer Verfahrensverstoß liegen. Insoweit maßgeblich ist aber eine Abwägung zwischen dem Interesse eines Betroffenen an der Einhaltung von Verfahrensvorschriften und dem Interesse der Allgemeinheit an der wirksamen Strafverfolgung der dem Angeklagten vorgeworfenen Delikte (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 2016 - 2 StR 25/15 -, bei juris). Angesichts des Vorwurfs gravierender Betäubungsmitteldelikte scheidet aber auch nach Auffassung des Senats die Annahme eines Verwertungsverbots aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.


Einsender: RA S. Fülscher, Kiel

Anmerkung:


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