Gericht / Entscheidungsdatum: AG Magdeburg, Beschl. v. 08.03.2021 - 5 Gs 262 Js 44534/20 (384/21)
Leitsatz: Wenn im Zeitpunkt der Antragstellung die Bestellungsvoraussetzungen vorgelegen haben, ist eine Bestellung des Pflichtverteidigers auch nach Abschluss des Verfahrens zulässig.
Amtsgericht Magdeburg
Beschluss
5 Gs 262 Js 44534/20 (384/21)
In dem ehemaligen Ermittlungsverfahren
gegen pp.
Verteidiger: Rechtsanwalt pp. wegen Verdachts des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz
wird dem Beschuldigten Rechtsanwalt pp. aus Braunschweig als Pflichtverteidiger beigeordnet (§§ 140 Abs. 1 Nr. 2, 141 Abs. 1, 142 StPO).
Gründe:
Gegen den Beschuldigten wurde zunächst, seit dem 20.06.2020, wegen des Verdachts des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln In nicht geringen Mengen ermittelt.
In diesem Zusammenhang erfolgte am 20.06.2020 um 07,55 Uhr die Festnahme des Beschuldigten. Während der Beschuldigtenvernehmung am selben Tag um 14:25 Uhr meldet sich Rechtsanwalt Pp. und teilt u. a. mit, im Fall eines Haftantrages telefonisch benachrichtigt werden zu wollen (Blatt 19 der Akte). Um 15:00 Uhr wurde der Beschuldigte aus der polizeilichen Maßnahme entlassen. Danach erfolgte noch am selben Tag auf freiwilliger Basis die Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten. Dort wurden 2,5 g Cannabisprodukte aufgefunden und sichergestellt.
Mit Schreiben seines Verteidigers vom 08.07.2020, gerichtet an die Polizei Magdeburg, beantragt der Beschuldigte, dass ihm Rechtsanwalt Pp. als Pflichtverteidiger gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 140 Abs. 2, 142 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO beigeordnet wird und bittet um die zeitnahe Weiterleitung des Gesuches an die zuständige Staatsanwaltschaft und die Vorlage an das Gericht. Gleichzeitig hat der Verteidiger erklärt, für den Fall seiner Beiordnung das Wahlmandat niederzulegen.
Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Magdeburg vom 03.12.2020 wurde das Verfahren gegen den Beschuldigten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringen Mengen gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, bezüglich der in der Wohnung aufgefundenen geringen Menge Cannabis wurde das Verfahren gemäß § 31 a Abs. 1 BtMG eingestellt.
Der Antrag des Beschuldigten auf Beiordnung des Pflichtverteidigers ist erst nach Aktenanforderung durch das Gericht mit Verfügung vom 18.02.2021 auf den durch den Beschuldigten hier gestellten Antrag vom 17.02.2021 auf gerichtliche Entscheidung Ober den Beiordnungsantrag vom 08.07.2020 am 02.03.2021 eingegangen.
Zum Zeitpunkt der Antragstellung wurde wegen des Tatverdachts des Verstoßes gegen § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG noch ermittelt. Mithin lag zu diesem Zeitpunkt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr, 2 StPO vor. Der Beschuldigte, dem der Tatvorwurf bereits eröffnet worden war, hat einen Antrag auf Beiordnung gestellt, so dass die Voraussetzungen der Beiordnung gemäß § 141 Abs. 1 In Verbindung mit § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO grundsätzlich gegeben waren und bei rechtzeitiger Weiterleitung des Antrages eine Beiordnung erfolgt wäre (möglicherweise stand der Beschuldigte zur Tatzeit auch noch unter Bewährung aus dem Verfahren der Staatsanwaltschaft Halberstadt, Aktenzeichen 807 Js 89410/16 (vgl. Blatt 61 d. A.)).
Nach überwiegender Rechtsprechung zur früheren Rechtslage soll die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich unzulässig sein, auch dann, wenn der Antrag rechtzeitig gestellt, aber versehentlich nicht über ihn entschieden worden Ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage, § 142, Rdnr. 19 mit weiteren Nachweisen).
Mit der Neuregelung der §§ 140 ff. StPO kann dieses Rückwirkungsverbot nicht ausnahmslos gelten.
Das in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO normierte Antragsrecht des Beschuldigten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers dient der Umsetzung der Vorgaben der PKH-Richtlinie, die, ausgehend von einem System der Prozesskostenhilfe, voraussetzt, dass der Beschuldigte auch zur effektiven Ausübung seines Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand das Recht haben muss, die Beiordnung eines Verteidigers durch einen eigenen Antrag herbeizuführen (BT-Drucksache 19/13829 Seite 36),
Die PKH-Richtlinie flankiert das Recht auf Zugang zum Rechtsbeistand, da sie der Gewährleistung von dessen Effektivität dient, indem Beschuldigten und gesuchten Personen die Unterstützung eines jedenfalls vorläufig durch die Mitgliedstaaten finanzierten Rechtsbeistandes zur Verfügung gestellt wird. Dabei geht sie ihrem Grundgedanken nach allerdings wie schon ihr Name zum Ausdruck bringt von einem System der Prozesskostenhilfe aus (BT-Drucksache 19/13829 Seite 21). Intension des Gesetzgebers ist es daher nicht nur, eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten, sondern gleichzeitig mittellose Beschuldigte von den Kosten ihrer Verteidigung freizustellen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage, § 142, Rdnr. 20). Dem stünde es entgegen, wenn ein Beschuldigter, der sich auf sein Recht auf Pflichtverteidigerbestellung beruft und einen Verteidiger konsultiert, unter Umständen damit rechnen muss, unverschuldet mit den Kosten seines Rechtsbeistandes belastet zu werden, gerade einkommensschwache Beschuldigten, deren Schutz der Gesetzgeber mit der Umsetzung der PKH-Richtlinie primär im Blick hatte, würden sich zudem ganz allgemein schwer tun, bereits frühzeitig sachkundigen Rat von einem Verteidiger zu erhalten, da dieser im Fall unsicherer Vergütung kaum für sie tätig werden wird (vgl. LG Bochum, Beschluss vom 18.09.2020, 11-10 Qs 6/20 mit weiterem Nachweis).
Die Gesetzesintuition spricht dafür, ausnahmsweise die nachträgliche Beiordnung auch nach Einstellung des Verfahrens zuzulassen, wenn der Beiordnungsantrag rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt war und die Voraussetzungen der Beiordnung vorlagen und die Entscheidung durch gerichtsinterne Vorgänge unterblieben ist (vgl. LG Magdeburg, Entscheidung vom 10.02.2021, 22 Qs 5/21 mit weiteren Nachweisen, vgl. auch OLG Nürnberg, 06.11.2020, Ws 962/20).
Nach Ansicht des Gerichts Ist auch eine nachträgliche rückwirkende Beiordnung vorzunehmen, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlag, der Antrag gestellt wurde, nachdem dem Beschuldigten der Tatvorwurf eröffnet worden ist, der Beiordnungsantrag vor Einstellung des Verfahrens erfolgt ist, der Beschuldigte zu dem Zeitpunkt unverteidigt war (wobei eine Erklärung des Verteidigers, das Wahlmandat niederzulegen für den Fall der Beiordnung genügt), über den Beiordnungsantrag nicht unverzüglich im Sinn des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO entschieden worden ist und die Entscheidung allein aufgrund Justizinterner Vorgänge, auf die der Beschuldigte keinen Einfluss hatte, unterblieben ist (vgl. hierzu auch LG Flensburg, Entscheidung vom 09.12.2020, II Qs 43/20). Diese Voraussetzungen sind vorliegend alle erfüllt. Daher war die Beiordnung nachträglich und rückwirkend vorzunehmen.
Einsender: RA J. R. Funck, Braunschweig
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