Gericht / Entscheidungsdatum: LG Stralsund, Beschl. v. 02.02.2021 - 26 Qs 4/21
Leitsatz: Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ist in der Regel bei einer Straferwartung von einem (nicht über einem) Jahr und mehr anzunehmen. Diese Grenze gilt auch, wenn sie nur durch eine Gesamtstrafenbildung erreicht wird.
26 Qs 4/21
Landgericht Stralsund
Beschluss
In dem Strafverfahren
gegen pp.
Verteidiger;
Rechtsanwalt
wegen Vorenthaltens/veruntreuen von Arbeitsentgelt
hier: sofortige Beschwerde des Angeklagten pp.
hat das Landgericht Stralsund - 26. Kammer (Große Strafkammer und Strafbeschwerdekammer) - durch die unterzeichnenden Richter am 2. Februar 2021 beschlossen:
1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten vom 17.12.2020 wird der Beschluss des Amtsgerichts Stralsund vom 10.12.2020, Az. 315 Cs 1103/20, aufgehoben.
2. Dem Angeklagten wird gem. § 140 Abs. 2 StPO Rechtsanwalt pp. als notwendiger Verteidiger beigeordnet.
3. Die dem Angeklagten durch das Beschwerdeverfahren entstandenen notwenigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe:
Mit seiner sofortigen Beschwerde (BI. 107 ff. d.A. Bd. III) wendet sich der Angeklagte gegen den o.g. Beschluss (BI. 104 f. d.A. Bd. III), in dem sein Antrag, ihm seinen o.g. Verteidiger als Pflichtverteidiger zu bestellen, abgelehnt wurde.
Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Stralsund vom 11.12.2020 (BI. 84 ff. d.A. Bd. III) erging gegen den Angeklagten eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, wegen Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt. Gegen diesen legte der Angeklagte Einspruch ein.
Das Amtsgericht führt zur Begründung aus, ein Fall der notwendigen Verteidigung liege nicht vor. Die Mitwirkung eines Verteidigers sei auch nicht wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten. Das Gericht folge nicht der Ansicht der Verteidigung, dass schon bei einer Freiheitsstrafe von einem Jahr ein notwendiger Verteidiger zu bestellen sei. Das Gericht habe die entsprechende Rechtsprechung so verstanden, dass diese bei Freiheitsstrafen von über einem Jahr die Schwere der Tat gegeben sehe. Das Gericht halte diese Auslegung aber nicht für zutreffend, sondern sehe die schwere insbesondere bei Gesamtstrafen erst bei höheren Strafen als gegeben an. Es sei nicht ersichtlich, dass der Angeklagte sich nicht selbst verteidigen könne.
Mit anwaltlichen Schreiben führt der Angeklagte zur Beschwerdebegründung aus, es liege ein Fall der notwendigen Beteiligung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor. Das Amtsgericht habe zunächst verkannt, dass die Schwere der Tat ebenso wie die Unfähigkeit, sich selbst zu verteidigen, ein Fall der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO sei. Anders als das Amtsgericht annehme, sei nach ganz h.M. die Erwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe die Grenze, ab der ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben sei. Die Schwelle von einem Jahr Freiheitsstrafe gelte auch bei Gesamtstrafenbildung, denn maßgeblich sei der Umfang der Rechtsfolgen, die insgesamt an den Verfahrensgegenstand geknüpft seien, nicht die Höhe der Einzelstrafen. Dies bedeute, dass nur die Straferwartung unter einem Jahr Freiheitsstrafe keinen Fall der notwendigen Verteidigung darstelle. Werde wie hier gegen den Strafbefehl Einspruch eingelegt, sei das Gericht nicht an den dort enthaltenen Strafausspruch gebunden. Das Urteil ergehe vielmehr unabhängig vom Strafbefehl. Da insbesondere Amtsgerichte dazu neigten, bei einem Einspruch gegen einen Strafbefehl den Wegfall einer Geständnisfiktion anzunehmen, bestehe zumindest auch die theoretische Möglichkeit einer geringfügig höheren Strafe.
Mit Verfügung vom 21.12.2020 half das Gericht der Beschwerde nicht ab (BI. 110 d.A. Bd. III). Die Staatsanwaltschaft legte mit Verfügung vom 7.1.2021 die Sache der Beschwerdekammer vor.
Die gem. §§ 142 Abs. 7, 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde ist begründet.
Die sofortige Beschwerde wird dahingehend ausgelegt, dass sie im Namen des Angeklagten eingelegt wurde. In einem vorangegangenen Schriftsatz bevollmächtigte sich der o.g. Verteidiger für den Angeklagten, so dass davon ausgegangen wird, dass die Beschwerde in seinem Namen eingelegt wurde.
Ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 StPO liegt, wie das Amtsgericht zutreffend ausführt, nicht vor.
Die notwendige Verteidigung ist jedoch gem. § 140 Abs. 2 StPO erforderlich.
Zwar liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, wie das Amtsgericht zutreffend ausführt, dass der Angeklagte sich nicht selbst verteidigen kann. Diese sind auch für die Kammer nicht ersichtlich und werden im Übrigen auch nicht geltend gemacht.
Allerdings ist der Beschwerdebegründung zuzustimmen, dass die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge in der obergerichtlichen Rechtsprechung, der sich die Kammer anschließt, in der Regel bei einer Straferwartung von einem (nicht über einem) Jahr und mehr angenommen wird (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 06.01.2017, Az. 4 Ws 212/16, juris; KG Berlin, Beschluss vom 25.09.2012, Az.: 4 Ws 102/12, juris; NStZ 90, 142; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18.06.1998, Az.: 1 Ws 351/98, juris; Frankfurt StV 95, 628 m.w.N.; OLG Hamm, Beschluss vom 14.11.2000, Az. 2 Ss 1013/2000, juris). Diese Grenze gilt auch, wenn sie nur durch eine Gesamtstrafenbildung erreicht wird. Dabei handelt es sich nicht um eine starre Grenze. In einfachen Fällen kann zwar die Mitwirkung eines Verteidigers auch bei einer Straferwartung von einem Jahr entbehrlich erscheinen. Hier ist jedoch zu beachten, dass auch alle sonstigen Rechtsfolgen, die in dem betreffenden Strafverfahren angeordnet werden können, zu berücksichtigen sind. Dazu gehört u.a. auch die Einziehung (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., 2020, § 140, Rn. 23a, 23b).
Vorliegend hat das Amtsgericht in dem vorausgegangenen Strafbefehl eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verhängt. Diese wurde zur Bewährung ausgesetzt. Darüber hinaus ist auch zu berücksichtigen, dass dem Angeklagten eine - nicht ganz unerhebliche - Einziehung in Höhe von 45.528,94 Euro droht. Zudem weist der Verteidiger zu Recht daraufhin, dass das Gericht gem. § 411 Abs. 4 StPO bei einem Einspruch gegen einen Strafbefehl nicht an den dort enthaltenen Strafausspruch gebunden ist.
Einsender: F. S. Fülscher, Kiel
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