Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Köln, Urt. v. 20.05.2020 5 U 137/19
Leitsatz: 1. In den Fällen des § 116 SGB X sind die Leistungen der Sozialversicherungsträger auf den persönlichen Schaden des Verletzten (hier Pflegegeld) nicht anrechenbar.
2. § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X nicht gegen Artikel 3 Abs. 1 GG verstößt
In pp.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 14.06.2019 - 4 O 126/18 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte.
Das vorliegende Urteil und die angefochtene Entscheidung sind vorläufig vollstreckbar. Dem Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der am xx.xx.2006 geborene Kläger wurde bei einem Verkehrsunfall am 21.07.2015 schwer verletzt, als sein Vater schuldhaft die Gewalt über das bei dem Beklagten haftpflichtversicherte Fahrzeug verlor, welches mit einem LKW kollidierte. Bei dem Unfallereignis zog sich der Kläger unter anderem ein schweres Schädelhirntrauma zu. Er leidet seitdem unter einer spastischen Tetraparese, epileptischen Anfällen und ausgeprägten neuropsychologischen Defiziten. Er ist in seiner Entwicklung verzögert und bedarf vielfältiger Hilfestellung im Alltag.
Der Kläger ist über die freiwillige gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung seines Vaters bei der A (im Folgenden: Pflegekasse) versichert. Die Kasse zahlt an ihn ein monatliches Pflegegeld in Höhe von 728 (Pflegegrad 4).
Die Einstandspflicht des Beklagten für die Folgen des Verkehrsunfalls ist zwischen den Parteien im Grundsatz unstreitig. Anlass für die Klage ist ein Schreiben des Beklagten vom 23.07.2018 an die Prozessbevollmächtigten des Klägers, in dem er mitteilte, dass er bei Zahlungen auf Pflege- und Betreuungskosten die Leistungen der Pflegegeldkasse in Abzug bringen werde.
Der Kläger hat unter Verweis auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17.10.2017 (VI ZR 423/16) die Auffassung vertreten, der Beklagte dürfe die Leistungen der Pflegekasse nicht in Abzug bringen.
Der Kläger hat beantragt,
1. festzustellen, dass der Beklagte nicht berechtigt ist, das von der Pflegekasse an den Kläger gezahlte Pflegegeld bei den Pflege- und Betreuungskosten in Abzug zu bringen;
2. den Beklagten zu verurteilen, ihn von den außergerichtlich angefallenen Anwaltskosten gegenüber der Anwaltskanzlei B & Coll. i.H.v. 1242,84 freizustellen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat die Auffassung vertreten, dass das von der Pflegekasse gezahlte Pflegegeld anzurechnen sei. Die Vorschrift des § 116 Abs. 6 SGB X, nach der ein Forderungsübergang auf den Versicherungsträger in Höhe der erbrachten Sozialleistungen bei nicht vorsätzlichen Schädigungen durch Familienangehörige, die im Zeitpunkt des Schadensereignisses mit dem Geschädigten in häuslicher Gemeinschaft lebten, ausgeschlossen sei, sei verfassungswidrig. Bei privat Versicherten sehe die entsprechende Vorschrift des § 86 Abs. 3 VVG keinen Ausschluss des Forderungsübergangs vor. Es liege damit eine Ungleichbehandlung von privat und gesetzlich Versicherten vor. Die Ungleichbehandlung verstoße gegen Art. 3 GG, denn sie sei sachlich nicht gerechtfertigt.
Wegen der Einzelheiten des streitigen Vorbringens der Parteien und der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil (Bl. 107 ff d.A.) Bezug genommen.
Das Landgericht hat der Klage mit Urteil vom 14.06.2019 stattgegeben. Die Klage sei zulässig und begründet. Der Beklagte sei nicht berechtigt, das von der Pflegekasse an den Kläger gezahlte Pflegegeld bei den von ihm erstatteten Pflege- und Betreuungskosten in Abzug zu bringen. Der Anspruch des Klägers auf Schadensersatz sei auch in Höhe des durch die Pflegekasse monatlich gezahlten Pflegegeldes wegen § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X bei ihm verblieben. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gelte der Ausschluss des Forderungsübergangs auch für den Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer, da dieser akzessorisch zum Haftungsanspruch gegen den Schädiger sei. Dass der Geschädigte eine "doppelte Entschädigung" erhalte, sei infolge des Familienprivilegs hinzunehmen. Eine Übertragung des Regelungsinhaltes des § 86 Abs. 3 VVG auf § 116 Abs. 6 SGB X sei in Anbetracht des eindeutigen Wortlauts dieser Norm ausgeschlossen. Eine Umwandlung des Familienprivilegs aus § 116 Abs. 6 SGB X von einem Anspruchsübergangs- in einen Regressausschluss im Wege der Auslegung würde eine nicht mehr zulässige Rechtsfortbildung darstellen. Eine entsprechende Anpassung sei Aufgabe des Gesetzgebers. Zudem liege keine Regelungslücke vor. Der Gesetzgeber habe in Kenntnis der Relevanz von einer Anpassung des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X abgesehen. Verfassungsrechtlich sei die sich hieraus ergebende Möglichkeit der doppelten Entschädigung des gesetzlich Versicherten und die infolgedessen eintretende Bevorzugung gegenüber privat Versicherten hinzunehmen. Eine gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Ungleichbehandlung von privat versicherten Geschädigten gegenüber gesetzlich versicherten Geschädigten liege nicht vor. Zur weiteren Begründung hat das Landgericht auf eine Entscheidung des Landgerichts Münster vom 03.05.2019 (Az. 8 O 307/16) Bezug genommen und sich den dortigen Ausführungen angeschlossen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
Der Beklagte macht mit der Berufung geltend, der Gesetzgeber habe sich bei der Novellierung des VVG dazu entschlossen, entsprechend der bis dahin geltenden Rechtsprechung klarzustellen, dass der geschützte Familienangehörige die Leistung nicht doppelt beanspruchen dürfe. § 86 Abs. 3 VVG sei dann so gestaltet worden, dass nach Leistungen immer ein Forderungsübergang erfolge, ein Regress unter den Voraussetzungen des Familienprivilegs aber ausgeschlossen sei. Der Gesetzgeber habe es anschließend versäumt, diese Regelung auch in § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X zu übernehmen. Dies sei kein Ausdruck des gesetzgeberischen Willens, sondern eine gesetzgeberische Unachtsamkeit gewesen, die auf unterschiedlichen Zuständigkeiten der Ministerien beruht habe. Der Bundesgerichtshof habe in seinem Urteil vom 17.10.2017 (VI ZR 423/16) hervorgehoben, dass das Familienprivileg nicht zu einer Bereicherung des Geschädigten führen dürfe. Er habe deutlich gemacht, dass er verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Ungleichbehandlung privat Versicherter und gesetzlich Versicherter bei der Anwendung des Familienprivilegs habe. § 116 SGB X sei verfassungskonform in Relation zu § 86 VVG dahingehend auszulegen, dass auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des Familienprivilegs eine Anrechnung der gesetzlichen Leistungen zu erfolgen habe. Der Wortlaut der Regelung hindere eine abweichende verfassungskonforme Auslegung grundsätzlich nicht, wie sich aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (NJW 2011, 1793) ergebe. Sollte der Senat eine verfassungskonforme Auslegung nicht vornehmen, sei er zu einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gehalten.
Der Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LG Aachen 4O 126/18 die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.
Er verteidigt die angefochtene Entscheidung und tritt dem Berufungsvorbringen im Einzelnen entgegen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
Die Berufung des Beklagten ist zulässig, aber unbegründet.
Zu Recht hat das Landgericht festgestellt, dass der Beklagte nicht berechtigt ist, das von der Pflegekasse an den Kläger gezahlte Pflegegeld bei den Pflege- und Betreuungskosten in Abzug zu bringen.
1. Die auf Feststellung eines Rechtsverhältnisses gemäß § 256 Abs. 1 ZPO gerichtete Klage ist zulässig. Ihr fehlt trotz der Möglichkeit des Klägers, den Beklagten auf Zahlung der von ihm in Abzug gebrachten Beträge gerichtlich in Anspruch zu nehmen, nicht das Feststellungsinteresse.
Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, lässt eine mögliche Leistungsklage das rechtliche Interesse an der Feststellung nicht entfallen, wenn die Durchführung einer Feststellungsklage unter dem Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit zu einer sinnvollen und sachgemäßen Erledigung der Streitpunkte führt. Davon ist vorliegend auszugehen. Die grundsätzliche Einstandspflicht der Beklagten für die unfallbedingten materiellen Schäden des Klägers ist zwischen den Parteien unstreitig. Streit besteht lediglich darüber, ob der Beklagte bei der Berechnung der von ihm zu erstattenden Pflege- und Betreuungskosten die von der Pflegekasse geleisteten Zahlungen in Abzug bringen darf. Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte im Falle seines Unterliegens nach rechtskräftiger Beendigung des Verfahrens weiter einen Abzug vornehmen wird und die zu Unrecht einbehaltenen Beträge nicht an den Kläger auszahlt und deswegen von dem Kläger auf Leistung gerichtlich in Anspruch genommen werden muss, bestehen nicht. Der Beklagte ist ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit. Bei Klagen gegen Versicherungsunternehmen ist davon auszugehen, dass sie sich in der Regel einem Feststellungsurteil beugen werden und es nicht eines auf Zahlung gerichteten Vollstreckungstitels gegen sie bedarf (vgl. BGH, Urteil vom 09.03.2004 - VI ZR 439/02 -, juris Rn. 6; Urteil vom 25.10.2004 - II ZR 413/02 -, juris Rn. 1).
2. Die Feststellungsklage ist auch begründet.
Der Kläger hat gegen den Beklagten Anspruch auf Erstattung von unfallbedingt entstandenen Pflege- und Betreuungskosten aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1, 11 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVersG. Seine Ansprüche waren und sind auch insoweit gegeben, als er durch die Pflegekasse kongruente Leistungen erhalten hat und in Zukunft erhalten wird. Der Kläger verliert seine Anspruchsberechtigung nicht durch Zahlungen der Pflegekasse. Ein Verlust seiner Aktivlegitimation durch Übergang seiner Forderungen auf die Pflegekasse als Sozialversicherungsträger gemäß § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X ist aufgrund des Familienprivilegs aus § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X ausgeschlossen.
a) Gemäß § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X geht ein Schadensersatzanspruch auf den Sozialversicherungsträger über, soweit dieser aufgrund des Schadensereignisses Sozialleistungen zu erbringen hat, die der Behebung eines Schadens der gleichen Art dienen und sich auf denselben Zeitraum wie der vom Schädiger zu leistende Schadensersatz beziehen. Die Zession soll bewirken, dass der Sozialversicherungsträger, durch dessen Leistungen der Geschädigte schadensfrei gestellt wird, Rückgriff nehmen kann. Der Schädiger soll durch die Versicherungsleistungen nicht unverdient entlastet werden, zugleich soll eine doppelte Entschädigung des Geschädigten vermieden werden (BGH, Urteil vom 17.10.2017 - VI ZR 423/16 -, juris Rn. 12 mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung).
b) Sinn und Zweck des in § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X geregelten sogenannten "Familienprivilegs" ist es hingegen, zu verhindern, dass der Geschädigte, der Sozialleistungen bezieht, durch einen Rückgriff des Sozialversicherungsträgers gegen den in seiner häuslichen Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen selbst in Mitleidenschaft gezogen wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass die in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebenden Familienangehörigen meist eine gewisse wirtschaftliche Einheit bilden und dass bei der Durchführung des Rückgriffs der Geschädigte im Ergebnis das, was er mit der einen Hand vom Sozialversicherungsträger erhalten hat, mit der anderen wieder herausgeben müsste. Zugleich soll im Interesse der Erhaltung des häuslichen Familienfriedens verhindert werden, dass Streitigkeiten über die Verantwortung für Schadenszufügungen gegen Familienangehörige ausgetragen werden (BGH aaO, Rn. 14).
c) Nach gefestigter und mit Urteil vom 17.10.2017 erneut bestätigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt der Forderungsausschluss nach § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X nicht nur für den gegen den Familienangehörigen gerichteten Schadensersatzanspruch, sondern auch für den Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer (BGH, Urteil vom 17.10.2017 - VI ZR 423/16 -, juris Rn. 15, mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung). Zwar erscheine, so der Bundesgerichtshof, bei einer Inanspruchnahme des Haftpflichtversicherers weder der Familienfrieden gefährdet noch die Familie als Wirtschaftseinheit unmittelbar belastet. Einem getrennten, vom Haftpflichtanspruch losgelösten Übergang des Direktanspruchs auf den Sozialversicherungsträger stehe aber die Rechtsnatur des Direktanspruchs als akzessorisches Recht entgegen (BGH aaO, Rn. 15).
d) Nimmt der Geschädigte den in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebenden Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer in Anspruch, so findet eine Vorteilsausgleichung im Hinblick auf kongruente Leistungen des Sozialversicherungsträgers nicht statt. Leistungen eines Sozialversicherungsträgers, die gerade im Hinblick auf eine besondere Situation des Geschädigten erbracht werden, in die er durch das schädigende Ereignis geraten ist, sollen nach ihrem Sinn und Zweck nicht dem Schädiger, sondern dem Geschädigten zugutekommen.
e) Dass der Geschädigte kongruente Leistungen sowohl von dem Sozialversicherungsträger als auch von dem angehörigen Schädiger bzw. dessen Versicherer erhält, er also doppelt entschädigt wird, ist Folge und Konsequenz des Familienprivilegs, wie es in § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X ausgestaltet ist (BGH aaO, Rn. 17 f, m. W. N.).
f) Aus der Vorschrift des § 86 Abs. 3 VVG ergibt sich im vorliegenden Fall nichts anderes. Nach dieser durch das Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsgesetzes vom 23.11.2007 (Bundesgesetzblatt I 2007, 2631 ff.) neu gefassten Vorschrift kann der sich nach § 86 Abs. 1 VVG vollziehende Forderungsübergang auf den Versicherer nicht geltend gemacht werden, wenn sich der Ersatzanspruch des Versicherungsnehmers gegen eine Person richtet, mit der er bei Eintritt des Schadens in häuslicher Gemeinschaft lebt, es sei denn, diese Person hat den Schaden vorsätzlich verursacht. § 86 Abs. 3 VVG enthält damit wie § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X ein Familienprivileg. Anders als es in § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X geregelt ist, geht in den Anwendungsfällen des § 86 VVG die Forderung des Versicherungsnehmers jedoch auf den Versicherer über, der den Übergang, außer in Fällen der vorsätzlichen Schadensverursachung, nicht geltend machen kann. Sinn und Zweck des Familienprivilegs werden nach wie vor dadurch entsprochen, dass zum Schutz des Geschädigten der Versicherer bei dem Schädiger, der mit dem Geschädigten in häuslicher Gemeinschaft lebt, keinen Rückgriff nehmen kann.
Diese für das Versicherungsvertragsgesetz erfolgte Änderung von einem Ausschluss des Forderungsübergangs hin zu einem Ausschluss des Regresses hat der Gesetzgeber bislang nicht auf § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X erstreckt (siehe aber den Regierungsentwurf vom 13.12.2019 "7. SGB IV-ÄndG", veröffentlicht unter Internetadresse 1). Der Bundesgerichtshof hat in seiner wegweisenden Entscheidung vom 17.10.2017 - VI ZR 423/16 - ausdrücklich klargestellt, dass eine Auslegung des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X entgegen seines Wortlautes, wonach ein solcher Übergang ausdrücklich "ausgeschlossen" ist, nicht möglich sei und dass sich die Gerichte mit der Annahme eines Forderungsübergangs im Anwendungsbereich des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X entgegen dem Wortlaut der Regelung und entgegen den unterschiedlichen gesetzgeberischen Entwicklungen im Versicherungsvertragsrechts einerseits und dem Sozialversicherungsrecht andererseits die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschreiten würden. Dieser Auffassung schließt sich der Berufungssenat an.
g) Soweit der Beklagte die Auffassung vertritt, die unterschiedlichen Ausgestaltungen des Familienprivilegs in § 86 Abs. 3 VVG und § 116 Abs. 6 SGB X stellten eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von privat versicherten und gesetzlich versicherten Personen dar, hat auch der Senat Zweifel, ob eine unterschiedliche Ausgestaltung des Familienprivilegs für gesetzlich und privat Versicherte, die im Ergebnis dazu führt, dass gesetzlich Pflegeversicherte eine doppelte Entschädigung erhalten, sachlich gerechtfertigt ist.
Die Frage der Verfassungsgemäßheit von § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X muss jedoch im vorliegenden Rechtsstreit offenbleiben. Aufgrund des klaren Wortlautes der Vorschrift ist der Senat an einer vom Beklagten geforderten "verfassungskonformen Auslegung" gehindert. Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie zum Wortlaut der Norm und zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde. Das Argument des Beklagten, schon einmal habe das Bundesverfassungsgericht im Interesse der Einheitlichkeit des Familienprivilegs eine nicht dem Wortlaut entsprechende verfassungskonforme Auslegung des § 116 SGB X vorgenommen, verfängt nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 12.10.2010 (BVerfGE 127, 263 ff.) die Vorschrift des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X verfassungskonform dahingehend ausgelegt, dass bei getrennt lebenden Eltern auch derjenige Elternteil die Tatbestandsvoraussetzungen eines Lebens in häuslicher Gemeinschaft erfülle, der mit seinem Kind zwar nicht ständig zusammenlebe, aber seine Elternverantwortung in dem ihm rechtlich möglichen Maße tatsächlich nachkomme und regelmäßig längeren Umgang mit seinem Kind pflege, so dass das Kind zeitweise auch in seinen Haushalt integriert sei und damit bei ihm ein Zuhause habe. Eine Auslegung der Vorschrift entgegen ihres Wortlautes hat das Bundesverfassungsgericht nicht vorgenommen. Der Begriff der häuslichen Gemeinschaft ist im Hinblick auf getrennt lebende Eltern, die zeitweise aber in unterschiedlichen Zeitumfang mit dem gemeinsamen Kind zusammenleben auslegungsfähig. Hingegen ist die Formulierung in § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X "Ein Übergang nach Abs. 1 ist ... ausgeschlossen" der Auslegung nicht fähig. Sie kann insbesondere nicht dahingehend ausgelegt werden, dass ein Übergang zwar stattfinden, gegenüber dem Familienangehörigen aber nicht geltend gemacht werden könne.
h) Schließlich kommt auch eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG nicht n Betracht.
Der Beklagte vertritt die Auffassung, dass durch die Gestaltung von § 86 Abs. 3 VVG einerseits und § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X andererseits privatversicherte Personen im Vergleich zu gesetzlich versicherten Personen benachteiligt seien. Dies stelle eine sachlich ungerechtfertigte Ungleichbehandlung und damit einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar. Für die Zulässigkeit einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht wäre indes Voraussetzung, dass im vorliegenden Verfahren Ansprüche der benachteiligten Personengruppe strittig wären. Das ist hier nicht der Fall. Es steht die Verfassungsgemäßheit einer Vorschrift in Frage, die den Kläger begünstigt. Solange der Gesetzgeber einer Personengruppe Begünstigung gewährt, haben die Angehörigen dieser Gruppe einen gesetzlichen Anspruch, den sie nicht dadurch verlieren könnten, dass einer anderen Gruppe die Vergünstigungen nicht gewährt worden sind (BVerfG, Beschluss vom 18.07.1984 - 1 BvL 3/81, abgedruckt in NVwZ 1985, 481). Mit anderen Worten: Da der Kläger gesetzlich versichert ist und er durch die auf ihn anwendbare Vorschrift des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X begünstigt wird, hingegen privat Versicherte, die möglicherweise durch die Vorschrift des § 86 Abs. 3 VVG in ihren Grundrechten beeinträchtigt werden, an dem Verfahren nicht beteiligt sind, ist eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht unzulässig.
3. Die Klage ist auch nach dem Klageantrag zu 2) begründet.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in geltend gemachter Höhe aus § 280 Abs. 1 BGB. Nachdem der Beklagte mit Schreiben vom 23.07.2018 unmissverständlich erklärt hat, er werde das durch die Pflegekasse gezahlte Pflegegeld zur Anrechnung bringen, durfte sich der Kläger anwaltlicher Hilfe bedienen. Der Anspruch ist auch der Höhe nach berechtigt. Auf die Berechnung des Klägers im Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 23.08.2018 wird Bezug genommen.
Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 543 Abs. 2 ZPO). Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Die streitentscheidenden Fragen hat der Bundesgerichtshof bereits entschieden.
Berufungsstreitwert: 25.000
Einsender:
Anmerkung:
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