Gericht / Entscheidungsdatum: BayObLG, Beschl. v. 16.11.2020 - 201 ObOWi 1375/20
Leitsatz: 1. § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG hindert die Verwertung der vor einer Neuerteilung der Fahrerlaubnis begangenen Ordnungswidrigkeiten im Bußgeldverfahren nicht. Eintragungen im Fahreignungsregister, die zu einer Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 StVG führen können, ge-hören nicht zu den Sanktionen, die das Gesetz als Folge der Begehung einer Ordnungswidrigkeit vorsieht.
2. Eine noch nicht rechtskräftige Ahndung wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit kann im Rahmen der Beurteilung, ob eine nicht durch den Regelfall des § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV indizierte Beharrlichkeit vorliegt, auch dann berücksichtigt werden, wenn dem Betroffenen das Unrecht der früheren Tat auf andere Weise bewusst geworden war. Dies ist etwa dann anzunehmen, wenn der Betroffene von deren Verfolgung durch die polizeiliche Anhaltung unmittelbar nach der Messung, dem nachweislichen Erhalt eines Anhörungsbogens oder die Zustellung eines Bußgeldbescheides bereits Kenntnis erlangt hatte.
In pp.
I. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 28.05.2020 wird als unbegründet verworfen.
II. Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen aufgrund der Hauptverhandlung vom 28.05.2020 wegen eines am 22.07.2019 begangenen fahrlässigen Verstoßes gegen § 4 Abs. 3 StVO schuldig gesprochen, ihn deswegen zu einer Geldbuße von 160 Euro verurteilt und wegen eines be-harrlichen Pflichtenverstoßes ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats verhängt, welches mit der Vollstreckungserleichterung nach § 25 Abs. 2a StVG versehen war. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen.
Nach ordnungsgemäßer Zustellung des Urteils am 06.07.2020 ist beim Amtsgericht am 06.08.2020 nur ein Teil der über Telefax übersandten Rechtsbeschwerdebegründung einge-gangen, insbesondere fehlte die Unterschrift des Verteidigers. Die vollständige Rechtsbe-schwerdebegründung, mit welcher der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt und insbesondere vorbringt, dass Vorahndungen des Betroffenen nach Neuertei-lung der Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG keine Berücksichtigung hätten finden dürfen, ging erst am 07.08.2020 beim Amtsgericht ein. Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 13.08.2020 dem Betroffenen auf dessen Antrag Wiedereinsetzung in den Stand wegen Ver-säumung der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist gewährt
Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Stellungnahme vom 08.10.2020 beantragt, die Rechts-beschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 28.05.2020 als unbe-gründet kostenpflichtig zu verwerfen.
II.
Die zulässige Rechtsbeschwerde des Betroffenen erweist sich als unbegründet.
1. Die gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, auch wenn die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde versäumt worden ist.
a) Die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde (§ 345 Abs. 1 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) wurde nicht eingehalten. Das Urteil des Amtsgerichts wurde dem Vertei-diger wirksam am 06.07.2020 zugestellt. Bis einschließlich 06.08.2020 ist jedoch keine vom Verteidiger unterzeichnete Schrift (§ 345 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) beim Tatgericht eingegangen.
b) Allerdings hat das Amtsgericht dem Betroffenen auf dessen Antrag Wiedereinsetzung in den Stand vor Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde gewährt. Das Amts-gericht hat zwar entgegen § 46 Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG über den Antrag auf Wiedereinsetzung entschieden, obwohl für diese Entscheidung das Rechtsbeschwerdegericht zuständig war. Bei Gewährung der Wiedereinsetzung bindet jedoch die Entscheidung des un-zuständigen Gerichts auch das Rechtsbeschwerdegericht (st. Rspr., vgl. Meyer-Goßner/Schmitt 63. Aufl. § 46 StPO Rn. 7 m.w.N.).
2. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Rechtsbeschwerde hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG). Zur Begründung wird zunächst auf die zutreffende Stellungnahme der General-staatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 08.10.2020 Bezug genommen, die noch dahin-gehend zu ergänzen ist, dass die Rüge der Verletzung formellen Rechts unzulässig ist, da diese nicht gem. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG ausgeführt worden ist. Einer grundsätzlichen Erörterung bedarf im Hinblick auf die Verhängung eines Fahrverbo-tes die Frage, ob und wie sich die Neuerteilung der Fahrerlaubnis auf die Berücksichtigung von Vorahndungen auswirkt.
a) Das Amtsgericht stellt zu den verwertbaren Vorahndungen des Betroffenen und zu seiner Fahrerlaubnis Folgendes fest: Der Betroffene war zwischen dem 31.01.2018 und dem 23.03.2018 bereits dreimal wegen eines - auch hier gegenständlichen fahrlässigen Verstoßes - gegen § 4 Abs. 3 StVO in Erscheinung getreten, wobei die Ahndungen jeweils am 17.04.2018, 04.05.2018 und 02.06.2018 in Rechtskraft erwachsen und jeweils die Regelgeldbußen in Höhe von 80 Euro verhängt worden sind. Wegen einer am 18.05.2018 (Rechtskraft der Ahndung: 24.08.2018) als Führer eines Lastkraftwagens begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 16 km/h außerorts und wegen einer am 14.09.2018 (Rechtskraft der Ahndung: 05.02.2019) gleichartigen Geschwindigkeitsüberschreitung um 20 km/h wurden Geldbußen von 140 Euro bzw. von 70 Euro verhängt. Mit Entscheidung der Fahrerlaubnisbehörde vom 11.10.2018, rechtskräftig seit 22.10.2018, erfolgte die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 2a Abs. 2, § 3 oder § 4 Abs. 5 StVG. Die Fahrerlaubnis wurde dem Betroffenen am 23.04.2019 erneut erteilt. Wiederum wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen § 4 Abs. 3 StVO trat der Betroffene am 08.05.2019 in Erscheinung. Die Rechtskraft der Ahndung (Regelgeldbuße in Höhe von 80 Eu-ro) trat am 29.08.2019 und damit nach Begehung der hier verfahrensgegenständlichen Ord-nungswidrigkeit ein.
b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hindert § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG die Ver-wertung der vor dem 23.04.2019 - dem Datum der Neuerteilung der Fahrerlaubnis begange-nen Ordnungswidrigkeiten im Bußgeldverfahren nicht.
aa) Hierfür spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift. Demnach dürfen im Fall der Fahrerlaub-niserteilung Punkte für vor der Erteilung rechtskräftig gewordene Entscheidungen über Zuwi-derhandlungen nicht mehr berücksichtigt werden. Weiter spricht hierfür auch der mit § 4 StVG verfolgte Zweck der Vorschrift. Nach § 4 Abs. 1 StVG sollen zum Schutz vor Gefahren, die von Inhabern einer Fahrerlaubnis ausgehen, die wiederholt gegen die die Sicherheit des Straßen-verkehrs betreffende straßenverkehrsrechtliche Vorschriften verstoßen, die in § 4 Abs. 5 StVG vorgesehenen Maßnahmen ergriffen werden. § 4 Abs. 5 StVG regelt, unter welchen Voraus-setzungen die zuständige Behörde bei Erreichen eines bestimmten Punktestandes stufenwei-se den Inhaber einer Fahrerlaubnis schriftlich ermahnt, schriftlich verwarnt oder ihm die Fahr-erlaubnis entzieht. Das Fahreignungs-Bewertungssystem stellt keine Sanktion dar, sondern eine wertneutrale Folge, die lediglich die Grundlage für eventuelle spätere verwaltungsrechtli-che Maßnahmen bildet. Zweck ist es, ungeeignete Kraftfahrer zu entdecken und ihnen frühzei-tig Hilfe zu bieten, aufgetretene Eignungsmängel zu beheben (Hühnermann in: Bur-mann/Heß/Hühnermann/ Jahnke/Hühnermann 26. Aufl. 2020 StVG § 4 Rn. 6a, 7). Punkte im Fahreignungsregister nehmen nicht an der Wechselwirkung von Geldbuße und Fahrverbot teil (vgl. Krumm NJW 2019, 1730, 1732). Eintragungen im Fahreignungsregister, die zu einer Ent-ziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 StVG führen können, gehören nicht zu den Sankti-onen, die das Gesetz als Folge der Begehung einer Ordnungswidrigkeit vorsieht, weshalb in-soweit grundsätzlich kein tauglicher Aspekt der Rechtsfolgenbemessung vorliegt. Dem Um-stand, dass dem Betroffenen der Entzug der Fahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörde drohen mag, kommt demnach im Zusammenhang mit der Frage, ob ein Fahrverbot zu verhän-gen ist, keinerlei ihn entlastende Bedeutung zu (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 29.07.2015 - 2 Ss OWi 727/15 = DAR 2015, 656 = VerkMitt 2015, Nr 71 = NStZ 2016, 162 = NZV 2016, 292 = OLGSt StVG § 25 Nr 61).
bb) Demgegenüber dient das Fahreignungsregister (FAER) nach § 28 Abs. 2 Nr. 3 StVG (auch) dazu, Verstöße von Personen, die wiederholt straßenverkehrsrechtlich relevante Straf-taten oder Ordnungswidrigkeiten begehen, angemessen zu ahnden. Entsprechende Vorah-nungen sind damit für die Höhe einer Geldbuße bzw. die Frage einer beharrlichen Verletzung von Pflichten eines Kraftfahrzeugführers (§ 25 Abs. 1 StVG) von Bedeutung. Wann solche Ein-tragungen keine Berücksichtigung mehr finden dürfen, ergibt sich aus § 29 StVG, der aber keine an § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG angelehnte Tilgungsvorschrift enthält.
c) Es stellt deshalb auch keinen durchgreifenden Rechtsfehler dar, dass die Tatrichterin die zuletzt genannte, zum Tatzeitpunkt noch nicht rechtskräftige Vorahnung vom 08.05.2019 be-rücksichtigt hat, obwohl nach den Urteilsfeststellungen nicht feststeht, dass der Betroffene zum Tatzeitpunkt Kenntnis von dieser Ordnungswidrigkeit hatte. Es ist auszuschließen, dass die Entscheidung auf diesem Rechtsfehler beruht, da auch ohne Berücksichtigung dieser Vorah-nung die Annahme einer beharrlichen Pflichtverletzung gerechtfertigt ist.
Von Beharrlichkeit im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG ist bei Verkehrsverstößen auszuge-hen, die zwar objektiv (noch) nicht zu den groben Zuwiderhandlungen zählen (Erfolgsunwert), die aber durch zeit- und sachnahe wiederholte Begehung erkennen lassen, dass es dem Täter subjektiv an der für die Straßenverkehrsteilnahme notwendigen rechtstreuen Gesinnung und Einsicht in zuvor begangenes Unrecht fehlt, sodass er Verkehrsvorschriften unter Missachtung einer oder mehrerer Vorwarnungen wiederholt verletzt (Handlungsunwert). Auch eine Häufung nur leicht fahrlässiger Verstöße kann unter diesen Umständen mangelnde Rechtstreue offen-baren (BGHSt 38, 231, 234f; BayObLGSt 2003, 132, 133; OLG Bamberg, Beschl. v. 23.11.2002 - 3 Ss OWi 1576/12 m.w.N. bei juris; vgl. zuletzt u.a. BayObLG, Beschl. v. 01.10.2019 - 202 ObOWi 1797/19 = OLGSt StVG § 25 Nr 80; 29.10.2019 202 ObOWi 1997/19 = ZfSch 2020, 172 = OLGSt StVO § 23 Nr 19 und 15.09.2020 202 ObOWi 1044/20 bei juris, jeweils m.w.N.).
Die Anordnung eines Fahrverbotes wegen eines hier allein in Betracht kommenden beharrli-chen Pflichtenverstoßes außerhalb eines Regelfalls im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV ist wegen der Vorahndungslage des Betroffenen angezeigt, wenn der neuerliche Verkehrsverstoß zwar die Voraussetzungen des Regelfalls nicht erfüllt, jedoch wertungsmäßig dem Regelfall eines beharrlichen Pflichtenverstoßes im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV gleichzusetzen ist. Zwar kann sich eine frühere Tat bußgelderhöhend auswirken (KK/Mitsch OWiG 5. Aufl. § 17 Rn. 76 m.w.N.) und im Rahmen der Beurteilung, ob eine nicht durch den Regelfall des § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV indizierte Beharrlichkeit vorliegt, auch dann berücksichtigt werden, wenn dem Betroffenen vor Begehung der weiteren Ordnungswidrigkeit das Unrecht der früheren Tat auf andere Weise als durch rechtskräftige Ahndung voll bewusst geworden war (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 22.07.2016 3 Ss OWi 804/16 bei juris; OLG Düsseldorf NZV 1998, 292). Dies ist etwa dann anzunehmen, wenn der Betroffene von deren Verfolgung durch die polizeiliche Anhaltung unmittelbar nach der Messung, dem nachweisli-chen Erhalt eines Anhörungsbogens oder die Zustellung eines Bußgeldbescheides bereits Kenntnis erlangt hatte. Die hierzu erforderlichen Feststellungen lässt das amtsgerichtliche Ur-teil indes vermissen. Allerdings rechtfertigen auch die übrigen Vorahndungen ohne Weiteres die Annahme einer beharrlichen Pflichtverletzung. Der Betroffene war allein zwischen dem 31.01.2018 und dem 23.03.2018 dreimal wegen eines Verstoßes gegen § 4 Abs. 3 StVO und zwischen dem 18.05.2018 und dem 04.09.2018 zweimal wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit aufgefallen. Alle genannten Vorahndungen waren zum Zeitpunkt der hier verfahrensgegenständlichen Ordnungswidrigkeit bereits in Rechtskraft erwachsen, zuletzt am 05.02.2019. Die hier zur Aburteilung gelangte Unterschreitung des Mindestabstands nach § 4 Abs. 3 StVO wurde am 20.07.2019 und damit noch nicht einmal ein halbes Jahr nach Ein-tritt der Rechtskraft der zuletzt genannten Vorahnung begangen. Angesichts der in rascher zeitlicher Aufeinanderfolge stattgefundenen, einschlägigen und zahlreichen verkehrsrechtli-chen Verstöße lässt die Annahme einer beharrlichen Pflichtenverletzung im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 1 BKatV keinen Rechtsfehler erkennen, auch wenn die Ordnungswidrigkeit wegen des Verstoßes vom 08.05.2019 keine Berücksichtigung findet.
d) Da der Betroffene mittlerweile wieder über eine Fahrerlaubnis verfügt, ist keine Stellung-nahme zu der Frage veranlasst, ob ein Fahrverbot auch dann noch den damit verfolgten Er-ziehungs- und Besinnungszweck erzielen kann, wenn dem Betroffenen (nahezu) zeitgleich die Fahrerlaubnis entzogen worden ist (vgl. hierzu OLG Zweibrücken BeckRS 2006, 2740 = NJW 2006, 1301). Vielmehr kann ein Fahrverbot auch dann den damit verbundenen Zweck, einen Betroffenen zu verkehrsgerechtem Verhalten zu veranlassen, erfüllen, wenn wegen der Neuer-teilung einer Fahrerlaubnis zeitlich davor liegende Vorahndungen gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG vom Punktestand her nicht mehr berücksichtigt werden dürfen und den Bestand der Fahrerlaubnis deshalb nicht gefährden.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.
Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.
Einsender: RiayObLG Dr. G. Gieg, Bamberg
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