Gericht / Entscheidungsdatum: LG Halle, Beschl. v. 18.11.2020 - 3 Qs 109/20
Leitsatz: Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung kommt nicht in Betracht, wenn der Beschuldigte auf eine rechtzeitige Bestellung hätte Einfluss nehmen können.
3 Qs 109/20
Beschluss
In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.
Verteidiger: Rechtsanwalt Siebers, Braunschweig
wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln
hat die 3. Große Strafkammer des Landgerichts Halle als Beschwerdekammer durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht, die Richterin am Landgericht und den Richter am 18.11.2020 beschlossen:
Die Gegenvorstellung des vormaligen Beschuldigten gegen den Beschluss der Kammer vom 07.10.2020 - Az.: 3 Qs 109/20 - wird zurückgewiesen.
Gründe
Mit Beschluss vom 07.10.2020 - Az.: 3 Qs 109/20 - hat die Kammer die sofortige Beschwerde des vormaligen Beschuldigten gegen die unterbliebene Bescheidung seines Antrags vom 12.01.2020, ihm Rechtsanwalt PP. als Pflichtverteidiger zu bestellen, als unbegründet verworfen. Auf den Beschluss vom 07.10.2020 wird Bezug genommen.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 12.10.2020 hat der vormalige Beschuldigte eine ausdrücklich so bezeichnete Gegenvorstellung eingelegt. Zur Begründung führte er aus, die Kammer habe in ihrem Beschluss eine Rechtspflicht auf Einlegung nicht existierender Rechtsmittel frei erfunden. Ein Verteidiger sei nicht verpflichtet, sich mit internen Rechtsmeinungen von Richtern auseinanderzusetzen, obwohl diese keinerlei Rechtswirkungen entfalteten. Darüber hinaus habe die Kammer zur Begründung ihrer Entscheidung auf einen veralteten Kommentar zugegriffen. Die durch die Kammer zitierte Kommentierung existiere so nicht mehr. In der aktuellen Auflage der Kommentierung sei vermerkt, dass bei der Neuregelung der §§ 140 ff. StPO die Intention des Gesetzgebers nicht nur gewesen sei, eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten, sondern gleichermaßen, mittellose Beschuldigte von den Kosten ihrer Verteidigung freizustellen. Es sei bundesweit völlig unbestritten. dass die Ausführungen der Kammer durch die Gesetzesnovelle überholt seien. Schließlich sei es unzutreffend, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung kein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen habe. Mit der gesamtstrafenfähigen Sache der Staatsanwaltschaft Halle mit dem Geschäftszeichen 388 Js 32006/19 sei eine Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als einem Jahr denkbar und nicht unwahrscheinlich gewesen. So sei in diesem Verfahren auch eine Beiordnung wegen der Schwere der Tat erfolgt. Das sei bei der Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen. Es bestehe demnach nicht der geringste Zweifel, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen habe.
Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 18.10.2020 ergänzte der vormalige Beschuldigte seine Gegenvorstellung mit einem Hinweis auf einen Beschluss des Landgerichts Halle vom 11.08.2020 - Az.: 10a Qs 62/20 - und verwies darauf, dass auch anhand der jüngsten Umsetzung der sogenannten PKH-Richtlinie deutlich werde, dass der Gesetzgeber das Institut der Pflichtverteidigung stärken wolle und insbesondere auch den Betroffenen weitestmöglich von Kostenrisiken habe freihalten wollen und müssen. Dem Betroffenen dann Kosten aufzubürden, die nicht entstanden wären, wenn Behörden und Gerichte gesetzmäßig unverzüglich reagiert hätten, sei ein nicht hinzunehmender Grundrechtseingriff.
Die durch den vormaligen Beschuldigten explizit eingelegte Gegenvorstellung ist unbegründet.
Die Kammer hält an ihrer Einschätzung fest, dass die Voraussetzungen für eine rückwirkende Bestellung des Rechtsanwalts pp. als Pflichtverteidiger nach der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den vormaligen Beschuldigten nicht vorliegen. Entgegen der Auffassung des vormaligen Beschuldigten hat sich die Kammer in ihrem Beschluss vom 07.10.2020 mit der gesetzlichen Neuregelung der §§ 140 ff. StPO mit Wirkung zum 13.12.2019 auseinandergesetzt. Dabei hat die Kammer auch auf einen vergleichsweise aktuellen Beschluss des Landgerichts Magdeburg vom 20.02.2020, in dem der Einfluss der Neuregelung auf die zu beantwortende Rechtsfrage erörtert wird. und darin befindliche weitere Nachweisstellen hingewiesen. Insoweit wird auf die Gründe des Beschlusses und den Beginn des dritten Absatzes unter II. verwiesen.
Unabhängig von der in dem Beschluss zitierten Fundstelle in dem StPO-Kommentar von Meyer-Goßner/Schmitt ist die Kammer der Auffassung, dass auch nach der Gesetzesänderung vom 13.12.2019 eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich unzulässig ist. Die Neuregelung des § 141 Abs. 2 StPO und die damit intendierte Beschleunigung des Verfahrens über die Beiordnung eines Pflichtverteidigers führt nicht dazu, dass nunmehr ohne weiteres davon ausgegangen werden muss, dass die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers künftig grundsätzlich möglich sein soll. Ein zwingender innerer Zusammenhang mit Blick auf die Gesetzesauslegung existiert insofern nicht. Vor diesem Hintergrund sei nur auf eine neuere und nach der gesetzlichen Neuregelung vom 13.12.2019 getroffene Entscheidung des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, Beschluss vom 09.03.2020 - 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20, NStZ 2020, 625, das eine rückwirkende nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers nach wie vor generell als ausgeschlossen ansieht, verwiesen. Auch das Oberlandesgericht Bremen. Beschluss vom 23.09.2020 - 1 Ws 120/20. BeckRS 2020, 26131, geht in einer aktuellen Entscheidung davon aus, dass eine auf ein beendetes Verfahren bezogene rückwirkende bzw. nachträgliche Bestellung eines Verteidigers auch weiterhin grundsätzlich unzulässig sei. Zur Begründung führt es aus, dass die Bestellung eines Verteidigers nach § 140 StPO nicht im Kosteninteresse des Beschuldigten erfolge, sondern allein dem Zweck diene, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten. Die Kammer hat ihre Rechtsauffassung hinsichtlich dieses verbliebenen Grundsatzes unter Darlegung eben jener Begründung erläutert. Unter eingehender Auseinandersetzung mit der gesetzlichen Neuregelung aus dem Dezember 2019 und der PKH-Richtlinie EU 2016/1919, die der Anlass für die Änderung der StPO gewesen ist. kommt auch das Hanseatische Oberlandesgericht zu dem Ergebnis, dass ein Beschuldigter nach Art. 4 der PKH-Richtlinie EU 2016/1919 vom 26. Oktober 2016 keinen Anspruch auf eine rückwirkende Bestellung eines notwendigen Verteidigers habe. da der Gesetzgeber in Umsetzung der Richtlinie gerade keinen Systemwechsel in der Frage der Pflichtverteidigerbestellung hin zu einer Bedürftigkeitsprüfung des Beschuldigten beabsichtigt habe (Beschluss vom 16.09.2020 2 Ws 112/20, BeckRS 2020, 27077 m. w. N.). Schließlich gehen auch Landgerichte nach wie vor davon aus, dass nach dem endgültigen Abschluss eines Strafverfahrens die nachträgliche Beiordnung eines Verteidigers grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt und ein darauf gerichteter Antrag insoweit unzulässig ist (LG Aurich Beschluss vom 05.05.2020 12 Qs 78/20. BeckRS 2020. 10940; LG Magdeburg Beschluss vom 20.02.2020 29 Qs 2/20, BeckRS 2020, 2477).
Ob von diesem Grundsatz, entsprechend der Auffassung vieler Landgerichte und übrigens auch der Kammer, vgl. zuletzt Beschluss der Kammer vom 15.10.2020, Az.: 3 Qs 113/20, ausnahmsweise dann abzusehen ist, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1, 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch gerichtsinterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte, konnte die Kammer in diesem Fall dahingestellt lassen, da der vormalige Beschuldigte zum einen sehr wohl Einfluss auf die gerichtsinternen Vorgänge, aufgrund derer die Entscheidung über seinen Beiordnungsantrag unterblieben ist, hatte und zum anderen die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 StPO nicht gegeben waren. Insoweit wird auf die Gründe des Beschlusses und den zweiten Teil des dritten und den vierten Absatz unter II. verwiesen. Dabei hat die Kammer nicht "eine Rechtspflicht auf Einlegung nicht existierender Rechtsmittel frei erfunden". Sie hat den vormaligen Beschuldigten vielmehr auf eben jene gesetzliche Möglichkeit der sofortigen Beschwerde gegen die Nichtbescheidung eines Beiordnungsantrags hingewiesen, die er nach der Einstellung des Verfahrens auch selbstverständlich und zurecht wahrgenommen hat, da die Nichtbescheidung eines Beiordnungsantrages dessen Ablehnung gleichsteht (Gründe des Beschlusses II. erster Absatz). Dieses gesetzliche Rechtsmittel gegen die rechtswidrig unterbliebene Bescheidung des Beiordnungsantrages existierte bereits, nachdem der Verteidiger des vormaligen Beschuldigten am 17.02.2020 Akteneinsicht genommen hatte, und nicht erst nach der Einstellung des Verfahrens mehr als ein halbes Jahr später am 27.08.2020. Die Einflussnahmemöglichkeit des vormaligen Beschuldigten auf die zunächst gerichtsinternen, jedoch aktenkundig vermerkten Vorgänge, die zu der unterlassenen Bescheidung des Antrags führten, war demnach gegeben. Es fehlt somit bereits an einer entscheidenden Voraussetzung für ein ausnahmsweises Absehen von dem oben dargestellten Grundsatz.
Darüber hinaus fehlte es an den Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 StPO. Ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 StPO ist ersichtlich nicht gegeben, was auch durch den vormaligen Beschuldigten nicht behauptet wird. Dieser stützt sich in seiner Begründung auf die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge im Sinne des § 140 Abs. 2 Var. 2 StPO. Ein Fall der notwendigen Verteidigung hiernach liegt nach ganz herrschender Meinung in der Rechtsprechung vor, wenn eine Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe gegeben ist (BeckOK StPO/Krawczyk, 38. Edition 01.10.2020, § 140 Rn. 24 m. w. N.). Dabei ist die Bildung einer Gesamtstrafe auch dann zu berücksichtigen, wenn die Gesamtstrafe aus der verfahrensgegenständlichen Verurteilung und künftigen Verurteilungen aus noch nicht abgeschlossenen Verfahren gebildet werden wird (ebd. m. w. N.). In dem hier streitgegenständlichen Verfahren war der vormalige Beschuldigte des Besitzes von Kleinstmengen von Betäubungsmitteln verdächtig, während ihm in dem Verfahren mit der Geschäftsnummer 388 Js 32006/19 eine gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit anderen Delikten vorgeworfen wurde. Da der vormalige Beschuldigte vor diesen Verfahren nicht vorbestraft war, geht die Kammer davon aus, dass die Straferwartung auch unter prognostischer Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe zum Zeitpunkt der Antragstellung die Grenze von einem Jahr Freiheitsstrafe nicht erreicht hatte. Zwar ist für den Zeitpunkt der Bestimmung der Straferwartung auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen, jedoch kann hinsichtlich der Vertretbarkeit der Beurteilung der Straferwartung durch die Kammer jedenfalls indiziell berücksichtigt werden, dass der vormalige Beschuldigte in dem Verfahren mit der Geschäftsnummer 388 Js 32006/19 durch das Amtsgericht Halle (Saale) mit Urteil vom 18.05.2020 und seit dem 26.05.2020 rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt worden ist. Die für den unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln in Kleinstmengen verhängte Geldstrafe hätte insoweit zu einer nicht entscheidungserheblichen Erhöhung der Gesamtfreiheitsstrafe geführt.
Soweit die anwaltlichen Schriftsätze vom 12.10.2020 und 18.10.2020 auch als Anhörungsrüge gemäß § 33a StPO auszulegen sein sollte, ist diese bereits unzulässig. Ein Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs gemäß § 33a StPO ist nur bei Vorliegen der Voraussetzungen dieser Vorschrift zulässig, nämlich wenn in einem zum Nachteil eines Beteiligten ergangenen unanfechtbaren Beschluss der diesem zustehende Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt worden ist. Das kommt insbesondere in Betracht, wenn das Gericht zum Nachteil des Antragstellers Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet hat, zu denen er nicht gehört worden ist, oder wenn es zu berücksichtigendes Vorbringen übergangen hat (KG Berlin, Beschluss vom 09.05.2012 2 Ws 177/11 REHA Rn. 3, zitiert nach juris). Dies ist hier nicht der Fall. Die im Rahmen der Beschwerdebegründung vorgetragenen Argumente hat die Kammer geprüft und sich mit diesen im Beschluss vom 07.10.2020 auseinandergesetzt. Dem vormaligen Beschuldigten wurde damit rechtliches Gehör gewährt. Eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör trägt der vormalige Beschuldigte insofern auch nicht vor.
Einsender: RA W. Siebers, Braunschweig
Anmerkung:
Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.
Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".