Gericht / Entscheidungsdatum: LG Bochum, Beschl v. 18.09.2020 - II-10 Qs-36 Js 596/19 6/20
Leitsatz: 1. Unverzüglich i.S.d. §§ 141 Abs. 1, 142 Abs. Satz 2 StPO bedeutet, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber doch so rechtzeitig zu erfolgen hat, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden. Grundsätzlich ist hierunter eine Prüfungs- und Überlegungsfrist von einer, maximal zwei Wochen zu verstehen.
2. Wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung gem. § 141 Abs. 1 1 StPO n.F. rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde, kann jedenfalls nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung ausnahmsweise auch nach Einstellung des Verfahrens noch eine Pflichtverteidigerbestellung erfolgen.
In pp.
Der angefochtene Beschluss des Amtsgerichts Bochum wird aufgehoben.
Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt N aus C als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.
Gründe
I.
Am 21.8.2019 erstattete Frau M Strafanzeige bei dem Polizeipräsidium Bochum gegen den ehemals Beschuldigten. Die Anzeigeerstatterin gab zunächst an, von dem damaligen Beschuldigten bedroht worden zu sein. Im Laufe der Zeugenvernehmung ergab sich jedoch der Anfangsverdacht einer Vergewaltigung. Eine weitere Zeugenvernehmung der Frau M fand am 25.9.2019 statt. Am gleichen Tag richtete das Polizeipräsidium Bochum ein Ermittlungsersuchen an das Polizeipräsidium Essen und bat dieses, den damaligen Beschuldigten zu vernehmen. Das Ermittlungsersuchen ging am 4.10.2019 bei dem Polizeipräsidium Essen ein. Dieses lud den damals Beschuldigten mit Schreiben vom 9.10.2019 zur Vernehmung wegen des Verdachts einer Vergewaltigung sowie wegen einer Gefährderansprache für den 24.10.2019 vor.
Mit Schriftsatz vom 25.10.2019 meldete sich der Verteidiger bei dem Polizeipräsidium Bochum und beantragte namens und in Vollmacht des damaligen Beschuldigten, ihn gem. § 140 I Nr. 2 StPO als notwendigen Verteidiger beizuordnen. In diesem Schriftsatz sowie einer E-Mail vom 24.10.2019 beantragte der Verteidiger weiter, den Schriftsatz und die in ihm enthaltenen Anträge an die zuständige Staatsanwaltschaft zur Weiterleitung an das Amtsgericht Bochum zu übersenden. Mit Verfügung vom 31.10.2019 wurde die Akte an die Staatsanwaltschaft Bochum übersandt, wo sie am 5.11.2019 einging.
Mit Schriftsatz vom 14.11.2019 erkundigte sich der Verteidiger bei der Staatsanwaltschaft Bochum nach dem Stand der Angelegenheit und fügte diesem Schriftsatz seinen an das Polizeipräsidium Bochum gerichteten Schriftsatz vom 25.10.2019 mit den dort gestellten Anträgen als Anlage bei. Mit weiterem Schriftsatz vom 3.1.2020, eingegangen bei der Staatsanwaltschaft Bochum am selben Tag, erneuerte der Verteidiger seinen Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger.
Die Staatsanwaltschaft Bochum entschied zunächst nicht über Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger, sondern stellte das Verfahren mit Verfügung vom 6.1.2020 gemäß § 170 II StPO ein, da im Hinblick auf die vorliegende Aussagegegen-Aussage-Konstellation sich kein hinreichender Tatverdacht gegen den damaligen Beschuldigten ergebe.
Mit Schriftsätzen vom 13.1.2020 sowie vom 18.2.2020 erneuerte der Verteidiger seine Anträge auf Beiordnung als Pflichtverteidiger.
Mit Verfügung vom 6.5.2020 übersandte die Staatsanwaltschaft Bochum die Verfahrensakte an das Amtsgericht Bochum mit dem Antrag, die Beiordnung des Verteidigers als Pflichtverteidiger im Ermittlungsverfahren abzulehnen. Als Begründung führte sie aus, dass das Verfahren unmittelbar nach Eingang bei der Staatsanwaltschaft mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden und eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung selbst dann nicht zulässig sei, wenn die Voraussetzungen vor Abschluss des Verfahrens vorgelegen hätten.
Mit weiterem Schriftsatz vom 13.5.2020 erinnerte der Verteidiger an die Verbescheidung der gestellten Anträge.
Mit Beschluss vom 20.5.2020 wies das Amtsgericht Bochum den Antrag auf Beiordnung des Verteidigers als Pflichtverteidiger zurück. In der Begründung führte das Amtsgericht aus, dass das Verfahren abgeschlossen sei und eine rückwirkende nachträgliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Verteidiger nach der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht in Betracht komme. Weiter führte das Amtsgericht aus, dass selbst wenn man aufgrund der gesetzlichen Neuregelungen der Vorschriften des Rechts der notwendigen Verteidigung, die seit dem 13.12.2019 in Kraft sind, die Auffassung vertreten würde, eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ließe sich mit dem in der neuen Regelung zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Willen begründen und sei daher zulässig, hier die Voraussetzungen für eine rückwirkende Beiordnung gleichwohl nicht vorlägen. Denn eine solche setze voraus, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliege, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet worden sei. Dafür, dass hier das Erfordernis der Unverzüglichkeit nicht beachtet worden wäre, bestünden jedoch keinerlei Anhaltspunkte. Gemäß § 141 I 2 StPO n.F. sei über den Antrag spätestens vor einer Vernehmung des Beschuldigten oder einer Gegenüberstellung mit ihm zu entscheiden. Vorliegend sei das Ermittlungsverfahren aber unmittelbar nach Eingang bei der Staatsanwaltschaft, d.h. ohne weitere Ermittlungen oder Vernehmungen, mit Verfügung vom 6.1.2020 aufgrund der Aktenlage durch die Staatsanwaltschaft eingestellt worden, sodass überhaupt kein Anlass bestanden habe, dem damaligen Beschuldigten einen Pflichtverteidiger zu stellen.
Dieser Beschluss des Amtsgerichts wurde dem Verteidiger formlos und entgegen § 35a StPO ohne Rechtsmittelbelehrung in der Folgezeit übersandt. Der Ab-Vermerk datiert vom 22.5.2020.
Mit Schriftsatz vom 28.5.2020 legte der Verteidiger namens und in Auftrag des früheren Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bochum vom 20.5.2020 Beschwerde ein. Mit weiterem Beschluss vom 17.7.2020 beschloss das Amtsgericht Bochum trotz fehlender Möglichkeit (§ 311 III StPO), dem Rechtsmittel nicht abzuhelfen und die Sache der Beschwerdekammer vorzulegen. Der Verteidiger hat mit Schriftsatz vom 23.7.2020 Stellung genommen. Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel zu verwerfen.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.
1. Die Kammer ist ausschließlich zur Entscheidung über den Antrag des Verteidigers, ihm den damaligen Beschuldigten als Pflichtverteidiger beizuordnen, und die diesbezügliche sofortige Beschwerde berufen.
2. Die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung ist zulässig.
a) Sie ist insbesondere fristgerecht.
Gerichtliche Entscheidungen über die Bestellung eines Pflichtverteidigers sind mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar (§ 142 VII 1 StPO). Die Frist für die Einlegung der sofortigen Beschwerde beträgt eine Woche und beginnt mit der Bekanntmachung der Entscheidung (§ 311 II StPO). Die Bekanntgabe richtet sich nach § 35 StPO. Nach dessen Abs. 2 S. 1 werden "andere" Entscheidungen (d.h. solche Entscheidungen, welche, wie hier, nicht in Anwesenheit der davon betroffenen Person ergehen) durch Zustellung bekanntgemacht, sofern, wie hier (vgl. §§ 35 II 2, 311 II Hs. 2 StPO), durch die Bekanntmachung der Entscheidung eine Frist in Lauf gesetzt wird.
Vorliegend wurde der Beschluss des Amtsgerichts Bochum, mit welchem der Antrag auf Beiordnung des Verteidigers als Pflichtverteidiger zurückgewiesen wurde, nicht förmlich zugestellt, sondern formlos übersandt. Bei einer solchen formlosen Bekanntmachung wird die Beschwerdefrist des § 311 II StPO nicht in Lauf gesetzt (u.a. BeckOK-StPO/Cirener, 37. Ed. 1.7.2020, § 311 Rn. 2; MüKoStPO/Neuheuser, 1. Aufl. 2016, § 311 Rn. 4; KK-StPO/Zabeck, 8. Aufl. 2019, § 311 Rn. 3 m.w.N.).
b) Die sofortige Beschwerde ist auch formgerecht.
Die Übermittlung der Beschwerdeschrift über das besondere elektronische Anwaltspostfach ist zulässig, § 32a I, III Var. 2, IV Nr. 2 StPO. Nach dieser Vorschrift kann ein Dokument, das schriftlich abzufassen, zu unterschreiben oder zu unterzeichnen ist, als elektronisches Dokument auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden, wenn es von der verantwortenden Person signiert ist.
Sicherer Übermittlungsweg ist gemäß § 32a IV Nr. 2 StPO u.a. der Übermittlungsweg zwischen dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach nach § 31a der Bundesrechtsanwaltsordnung und der elektronischen Poststelle der Behörde oder des Gerichts. Dieser Übermittlungsweg wurde vorliegend gewählt.
Zudem ist die Beschwerdeschrift signiert. Abweichend von § 32a III Var. 1 StPO, der das Erfordernis einer sog. qualifizierten elektronischen Signatur statuiert, genügt bei einer Einreichung eines Dokumentes über einen sicheren Übermittlungsweg, wozu auch das besondere elektronische Anwaltspostfach zählt, eine sog. einfache Signatur, also die bloße Eingabe des Namens unterhalb des Textes im Dokument (vgl. BT-Drucks. 18/9416, S. 48; mit dieser Definition auch zu der mit § 32a StPO sinngleichen Vorschrift des § 130a ZPO: MüKoZPO/Fritsche, 6. Aufl. 2020, § 130a Rn. 14). Diese ist hier erfolgt.
c) Zudem ist die nötige Beschwerdebefugnis gegeben. Zwar hat der nicht beigeordnete Rechtsanwalt kein eigenes Beschwerderecht (BeckOK-StPO/Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, § 142 Rn. 52). Die Beschwerde wurde hier aber ausdrücklich namens und in Auftrag des vormals Beschuldigten eingelegt.
3. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Die Voraussetzungen für eine nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung liegen vor.
Für die Entscheidung maßgebend ist dabei die am 13.12.2019 in Kraft getretene Neufassung des Rechts der Pflichtverteidigung. Mangels Übergangsregelung ist die Neufassung des Gesetzes auf bereits anhängige Ermittlungsverfahren anzuwenden.
Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung kann hier ausnahmsweise erfolgen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
a) Ein Fall der notwendigen Verteidigung lag u.a. gemäß § 140 II StPO vor. Gemäß § 140 II Var. 1, 2 StPO ist ein Fall der notwendigen Verteidigung u.a. dann gegeben, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Nach der herrschenden Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung ist die Erwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe die Grenze, ab der ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist (vgl. u.a. OLG Hamm, Beschl. v. 14.11.2000, 2 Ss 1013/00 (NStZ-RR 2001, 107, 108)). Vorliegend bestand der Anfangsverdacht einer Vergewaltigung. Für eine solche sieht das Gesetz in § 177 VI 1, 2 Nr. 1 StGB Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren vor.
b) Ferner wurde der Antrag auf Beiordnung auch rechtzeitig, nämlich bereits am 25.10.2019 und damit mehr als zwei Monate vor Einstellung des Verfahrens gestellt. Zu diesem Zeitpunkt war dem ehemals Beschuldigten durch die Vorladung der Tatvorwurf gemäß § 141 I 1 StPO eröffnet worden und er hatte bis dahin noch keinen Pflichtverteidiger.
Der Verteidiger war angesichts der zum 13.12.2019 erfolgten Änderung des § 141 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung nicht gehalten, ab dem 13.12.2019 einen neuen Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung unter Bezugnahme auf § 141 StPO n.F. zu stellen. Denn da der Antrag bereits gestellt und zur Kenntnis der Staatsanwaltschaft gelangt war, der Verteidiger sogar mit Schriftsatz vom 14.11.2019 an die Verbescheidung des Antrages erinnerte, würde die zeitnahe Stellung eines neuen Antrages nach der Gesetzesänderung auf eine reine Förmelei hinauslaufen.
c) Auch wurde das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Pflichtverteidigerstellung (vgl. § 141 I 1 StPO) nicht beachtet.
Das Unverzüglichkeitsgebot ist zwar erst seit dem 13.12.2019 ausdrücklich in § 141 I StPO normiert; jedoch war auch nach alter Rechtslage anerkannt, dass sich aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren eine Verpflichtung auf zeitnahe Entscheidung über den Antrag ergibt (BeckOK-StPO/Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, § 141 Rn. 12; vgl. auch OLG Hamm, Beschl. v. 19.10.2010, 3 RVs 87/10 (NStZ-RR 2011, 86) zum Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist).
Die Verfahrensakte wurde der Staatsanwaltschaft Bochum am 31.10.2019 übersandt und ging dort am 5.11.2019 ein. In der Übersendungsverfügung wird ausdrücklich darauf Bezug genommen, dass sich der damals Beschuldigte anwaltlich vertreten lässt. Gemäß § 142 I 2 StPO hätte die Staatsanwaltschaft den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vorlegen müssen. Unverzüglich bedeutet, ähnlich wie nach der zivilrechtlichen Definition, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber doch so rechtzeitig zu erfolgen hat, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (BT-Drucks. 19/13829, S. 37). Zu § 141 III 4 StPO a.F. war dabei anerkannt, dass das Unverzüglichkeitskriterium im Sinne einer Prüfungs- und Überlegungsfrist von einer Woche zu verstehen ist (Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, StPO, 26. Aufl. 2014, § 141 Rn. 19).
Vorliegend wurde zwei Monate nach Übersendung der Akte an die Staatsanwaltschaft und über drei Wochen nach der Gesetzesänderung, nämlich am 6.1.2020, ohne weitere Veranlassung das Verfahren eingestellt, obwohl der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung noch mit Schriftsatz vom 14.11.2019 wiederholt worden war. Gründe dafür, warum der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung übergangen wurde, ergeben sich aus der Verfahrensakte nicht und sind auch sonst nicht ersichtlich. Dem Unverzüglichkeitskriterium wurde folglich nicht Genüge getan, und zwar auch dann nicht, wenn man der bei Löwe-Rosenberg a.a.O. zitierten Gegenansicht folgt, nach der das Unverzüglichkeitskriterium auch bei einer Prüfungs- und Überlegungsfrist von zwei Wochen gegeben ist.
Auch § 141 II 3 StPO steht im vorliegenden Fall der Beiordnung nicht entgegen. Die Möglichkeit, von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 I 1 StPO, demzufolge einem Beschuldigten unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, wenn er dies ausdrücklich beantragt.
d) Liegen die Voraussetzungen des § 141 I 1 StPO vor, ist (zwingend) ein Verteidiger zu bestellen. Ein darüber hinaus gehender Beurteilungsspielraum unter Berücksichtigung von Rechtspflege- oder fiskalischen Interessen ist nicht eröffnet (BT-Drs. 19/13829, 37). Insoweit unterscheidet sich § 141 I 1 StPO auch von der bis zum 12.12.2019 geltenden Regelung des § 141 III 2 StPO a.F., nach der die Staatsanwaltschaft die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren nur dann beantragt, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 I, II StPO notwendig sein wird.
Ob die Neuregelung des § 141 StPO dazu führt, dass die Staatsanwaltschaft nunmehr keinerlei eigene Prüfungs- und Prognosekompetenz im Hinblick auf das Vorliegen eines Falles notwendiger Verteidigung hat (vgl. beispielhaft hierzu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 140 Rn. 11c; zum alten Recht auch BGH, Urt. v. 22.11.2001, 1 StR 220/01 (NJW 2002, 975, 977); Urt. v. 5.2.2002, 5 StR 588/01 (NJW 2002, 1279)), kann hier dahinstehen. Denn jedenfalls hätte die Staatsanwaltschaft gemäß § 142 I 2 StPO den Antrag des Verteidigers unverzüglich dem Amtsgericht Bochum zur Entscheidung vorlegen müssen, was sie unterließ.
e)
Wenn damit im Ergebnis ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde, kann hier ausnahmsweise auch nach Einstellung des Verfahrens noch eine Pflichtverteidigerbestellung erfolgen.
aa) Allerdings wurde dies vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung zum 13.12.2019 von der ober- und höchstgerichtlichen Rechtsprechung noch verneint (vgl. BGH, Beschl. v. 20.7.2009, 1 StR 344/08 (NStZ-RR 2009, 348); OLG Hamm, Beschl. v. 10.7.2008, 4 Ws 181/08 (NStZ-RR 2009, 113); Beschl. v. 17.5.2011, 2 Ws 155/11 (BeckRS 2011, 17170); Beschl. v. 24.10.2012, 3 Ws 215/12 (StRR 2013, 103)).
Zur Begründung wurde insoweit ausgeführt, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erfolge im Strafprozess weder im Kosteninteresse des Beschuldigten noch dem verfahrensfremden Zweck der finanziellen Absicherung des Verteidigers, sondern diene allein dem im öffentlichen Interesse liegenden Zweck, in schwerwiegenden Fällen die ordnungsgemäße Verteidigung des Beschuldigten in einem noch ausstehenden oder bereits anhängigen Verfahren und somit die rechtsstaatliche und justizförmige Führung dieses Verfahrens zu gewährleisten. Eine solche Verteidigung könne aber nicht mehr entfaltet werden, wenn das Verfahren bereits abgeschlossen sei. Eine rückwirkende Bestellung zum Pflichtverteidiger sei folglich schlechthin unzulässig und unwirksam, und zwar auch dann, wenn der Antrag rechtzeitig gestellt, über ihn aber nicht entschieden worden sei.
bb) Bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes war die unter aa) skizzierte Auffassung nicht unumstritten. So wurde etwa ausgeführt, der Hinweis, dass die §§ 140ff. StPO weder dem Kosteninteresse des Verteidigers noch des Beschuldigten dienen, übergehe Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, der ausdrücklich den mittellosen Beschuldigten erwähne und somit auch das Kosteninteresse des Beschuldigten in seinen Schutzzweck aufnehme.
Zudem folge auch aus dem rechtsstaatlichen Gebot des fairen Verfahrens (Art. 20 III GG, Art. 6 I 1 EMRK), dass einem Beschuldigten durch eine verfahrensfehlerhafte Behandlung von Seiten der Justiz keine erheblichen Nachteile entstehen dürfen (vgl. Sachs/Degenhart, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 42). Die Belastung mit den Verteidigerkosten stelle jedoch für einen (ehemaligen) Beschuldigten bei Vorliegen der übrigen genannten Voraussetzungen einen solchen erheblichen Nachteil dar.
Ferner würde die Versagung einer rückwirkenden Bestellung trotz rechtzeitigen Beiordnungsantrags dazu führen, dass der mittellose Beschuldigte auf Verteidigung - trotz Vorliegens der Voraussetzungen notwendiger Verteidigung - verzichten müsste, also nicht nur auf Kostenerstattung, da Rechtsanwälte in Kenntnis einer Versagung rückwirkender Bestellungen in der Endphase eines Verfahrens nicht mehr zur Übernahme der Verteidigung mittelloser Beschuldigter bereit wären (MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, 1. Aufl. 2014, § 141 Rn. 9).
Demgemäß diene in einem solchen Fall die Beiordnung nicht dazu, dem Verteidiger nachträglich einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu "verschaffen", vielmehr solle verhindert werden, dass sich gerichtsinterne Umstände, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hat, zu Lasten eines Be- oder Angeschuldigten auswirken.
cc) Jedenfalls nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung kann der unter aa) skizzierten Auffassung nicht mehr uneingeschränkt gefolgt werden (so auch Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 142 Rn. 20; LG Mannheim, Beschl. v. 26.3.2020, 7 Qs 11/20; LG Passau, Beschl. v. 15.4.2020, 1 Qs 38/20; LG Bonn, Beschl. v. 28.4.2020, 21 Qs 25/20; LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.5.2020, JK II Qs 15/20 jug; LG Aurich, Beschl. v. 5.5.2020, 12 Qs 78/20; LG Hechingen, Beschl. v. 20.5.2020, 3 Qs 35/20).
Denn das in § 141 I 1 StPO normierte Antragsrecht dient der Umsetzung der Vorgaben der PKH-Richtlinie, die, ausgehend von einem System der Prozesskostenhilfe, voraussetzt, dass der Beschuldigte - auch zur effektiven Ausübung seines Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand - das Recht haben muss, die Beiordnung eines Verteidigers durch einen eigenen Antrag herbeizuführen (BT-Drs. 19/13829, S. 36). Die Intention dieses Gesetzes ist es, einem Beschuldigten im Fall der notwendigen Verteidigung einen frühzeitigeren Zugang zu einem (Pflicht-)Verteidiger zu ermöglichen als bislang (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 36). Insbesondere monetäre Gründe sollten den Beschuldigten nicht davon abhalten, auch schon in einem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens von dem Recht auf Hinzuziehung eines Pflichtverteidigers Gebrauch zu machen.
Diesem Zweck steht jedoch eine Gesetzesauslegung entgegen, nach der ein Beschuldigter, der sich auf sein Recht auf Pflichtverteidigerbestellung beruft und einen Verteidiger konsultiert, unter Umständen damit rechnen muss, unverschuldet mit den Kosten seines Rechtsbeistandes belastet zu werden. Gerade einkommensschwache Beschuldigte, deren Schutz der Gesetzgeber mit der Umsetzung der PKH-Richtlinie primär im Blick hatte, würden sich zudem ganz allgemein schwer tun, bereits frühzeitig sachkundigen Rat von einem Verteidiger zu erhalten, da dieser im Falle unsicherer Vergütung kaum für sie tätig werden wird (LG Hechingen, Beschl. v. 20.5.2020, 3 Qs 35/20). Mit der im vorliegenden Fall vertretenen Auffassung, nach der eine nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung möglich ist, wird also gerade auch dem Interesse des Beschuldigten an einer frühzeitigen Verteidigerbestellung Genüge getan. Denn der Beschuldigte muss, wenn man eine nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung zulässt, gerade nicht befürchten, in der Endphase eines Verfahrens keinen zur Übernahme der Verteidigung sich bereit erklärenden Verteidiger zu finden.
Weiterhin ist zu beachten, dass der Gesetzgeber in § 142 VII 1 StPO gegen die Versagung einer Beiordnung ein Rechtsmittel vorsieht. Die dem Beschuldigten hierdurch kraft Gesetzes gewährte Überprüfungsmöglichkeit darf ihm nicht dadurch entzogen werden, dass der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung durch Einstellung des Verfahrens überholt wird (LG Aurich, Beschl. v. 5.5.2020, 12 Qs 78/20).
Weiterhin ist in diesem Kontext zu beachten, dass eine Beschuldigtenvernehmung, anders als nach der alten Rechtslage, ohne eine vorherige Beiordnung grundsätzlich nicht erfolgen darf (§ 141 I 2 StPO). Wenn der Beschuldigte, wie hier, anlässlich einer bevorstehenden Vernehmung einen Verteidiger mandatiert und dieser in Unkenntnis der bevorstehenden Einstellung rechtzeitig dessen Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt (wobei er davon ausgehen darf, dass seinem Antrag unverzüglich stattgegeben wird), ist es schon aus Billigkeitserwägungen geboten, ausnahmsweise eine rückwirkende Beiordnung vorzunehmen. Denn auch nach einer Einstellung kann der Zweck der Bestellung (sinnvolle Wahrnehmung der Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren) grundsätzlich noch erreicht werden, z.B. hinsichtlich Entscheidungen nach dem StrEG oder zur Klärung von Kostenfragen (LG Passau, Beschl. v. 15.4.2020, 1 Qs 38/20).
Vorliegend kommt noch hinzu, dass das Verfahren gegen den damaligen Beschuldigten lediglich nach § 170 II StPO eingestellt wurde und daher jederzeit wieder aufgenommen werden kann (zu diesem Aspekt auch LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.5.2020, JKII Qs 15/20 jug).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 467 I StPO.
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