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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Entpflichtung, Umbeiordnung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Mainz, Beschl. v. 05.11.2020 - 3 Qs 62/20 jug.

Leitsatz: 1. Von der in § 142 Abs. 5 Satz 1 StPO begründeten Anhörungspflicht kann nur in seltenen Ausnahmefällen abgewichen.
2. Dem Beschuldigten ist dabei eine angemessene Überlegungsfrist zur Stellungnahme und Auswahl eines Verteidigers zu gewähren. Dies gilt auch in Haftsachen.
3. Wird dem Beschuldigten eine zu kurze Überlegungsfrist oder mangels jeglicher Belehrung über sein Wahlrecht gar keine Frist gesetzt, ist eine Auswechslung des Pflichtverteidigers auch noch nach Ablauf der Dreiwochenfrist des § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO.


3 Qs 62/20 jug

LG Mainz
Beschluss

Beschluss

In der Strafsache
gegen pp.
wegen versuchten Totschlags u.a.

hier: Beschwerde gegen Ablehnung der beantragten Entpflichtung eines Pflichtverteidigers und Ablehnung der Beiordnung einer anderen Pflichtverteidigerin - Verteidiger:

hat die 3. Strafkammer — Jugend-/Beschwerdekammer — des Landgerichts Mainz am 5. November 2020 beschlossen:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers werden die Beschlüsse des Amtsgerichts — Ermittlungsrichter — Mainz vom 7.8.2020 und vom 14.10.2020 (beide Az.: 409 Gs 1875/ 20 jug.) aufgehoben.
2. Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwältin pp. als Pflichtverteidigerin beigeordnet.
3.Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit dem Beschwerdeführer erwachsenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.

Gründe:

l.

Gegen den Beschwerdeführer führt die Staatsanwaltschaft Mainz ein Ermittlungsverfahren unter anderem wegen versuchten Totschlags (Az.: 3111 Js 16530/20). Am 15.7.2020 erließ das Amtsgericht — Ermittlungsrichter — Mainz einen Haftbefehl und einen Europäischen Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer (Az.: 409 Gs 1875/ 20 jug.). Am 4.8.2020 wurde der Beschuldigte deshalb in Mulhouse-Ilzach/ Frankreich festgenommen. Die französischen Behörden teilten mit, der Beschuldigte habe auf Nachfrage um Verteidigung durch einen Pflichtverteidiger gebeten, und baten um Bestellung eines französischsprachigen Pflichtverteidigers (vgl. Vermerk vom 7.8.2020, BI. 2980 d.A.). Durch Beschluss des Amtsgerichts Mainz vom 7.8.2020 (Az.: 409 Gs 1875/ 20 jug.; BI. 2987 d.A.) wurde dem Beschwerdeführer deshalb Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt. Am 11.8.2020 bestimmte das Amtsgericht — Ermittlungsrichter — Offenburg (Az.: 6 Gs 153/20 jug.) Termin für die Vorführung und zur Eröffnung des Haftbefehls auf 13.8.2020, 15:00 Uhr, die Ladung wurde dem Pflichtverteidiger am Nachmittag des 12.8.2020 per Fax zugesandt. Telefonisch kündigte dieser am Morgen des 13.8.2020 gegenüber dem Amtsgericht Offenburg an, dass er an dem Termin nicht teilnehmen werde (Telefonvermerk vom 13.8.2020, BI. 3057 d.A.). Im Rahmen der Vorführung wurde dem Beschwerdeführer bekannt gegeben, dass das Amtsgericht Mainz ihm einen Pflichtverteidiger, Herrn Rechtsanwalt pp. bestellt habe und dieser am heutigen Termin nicht teilnehmen könne (vgl. Prot. des Amtsgericht Offenburg vom 13.8.2020, BI. 3060 d.A.). Der Beschwerdeführer wurde zudem unter anderem dahingehend belehrt, dass er jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger befragen könne; die bereits erfolgte Aushändigung einer schriftlichen Belehrung nach § 114b Abs. 2 StPO in türkischer Sprache wurde festgestellt (Prot. des Amtsgericht Offenburg vom 13.8.2020, BI. 3060 f. d.A.). Eine Belehrung über sein Recht, selbst einen Pflichtverteidiger zu benennen (§ 142 Abs. 5 StPO) erfolgte ausweislich des Protokolls des Amtsgericht Offenburg vom 13.8.2020 nicht (vgl. BI. 3060-3063 d.A.).

Mit am 14.8.2020 per Fax übermitteltem Schriftsatz vom selben Tag (BI. 71 Besuchsheft + Telefonheft) beantragte Rechtsanwältin Pp. (erstmals) eine Einzelbesuchserlaubnis für den Beschwerdeführer zur Führung eines Anbahnungsgesprächs, die ihr am 4.9.2020 oder 7.9.2020 erteilt wurde (BI. 154-158 und BI. 169-171 Besuchsheft + Telefonheft).
Mit Schreiben vom 27.8.2020 (BI. 3677 d.A.), zur Handakte der Staatsanwaltschaft am 8.9.2020 gelangt, beantragte der Beschwerdeführer, „die Zulassung meiner Rechtsanwältin Pp. zur Hauptverhandlung mit Az: 311 Js 16530/20". Mit Schreiben vom 3.9.2020, per Fax am selben Tag an die Staatsanwaltschaft Mainz übermittelt (BI. 153 Besuchsheft + Telefonheft), teilte der Beschwerdeführer mit, dass er von Rechtsanwältin Pp. aus Mannheim vertreten werden wolle. Mit Schriftsatz vom 9.9.2020 (BI. 3727 f. d.A.), eingegangen am selben Tag bei der Staatsanwaltschaft Mainz, teilte diese ihre ordnungsgemäße Bevollmächtigung durch den Beschwerdeführer mit sowie, dass dieser nach eigenen Angaben bereits am 20.8.2020 und am 3.9.2020 mitgeteilt habe, dass er von ihr — nicht von Rechtsanwalt pp. — verteidigt werden wolle, weshalb sie anrege, gegenüber dem Ermittlungsrichter zu beantragen, die Beiordnung von Rechtsanwalt pp. aufzuheben und sie selbst als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Wegen des weiteren Inhaltes des Schriftsatzes wird auf diesen Bezug genommen. Mit Schriftsatz vom 30.9.2020 (BI. 4177 d.A.) erklärte Rechtsanwalt pp. hierzu unter anderem, den für 22.9.2020 in Aussicht gestellten Besuchstermin beim Beschwerdeführer in der JSA Schifferstadt habe er nicht wahrgenommen auf Grund der Nachricht der Rechtsanwältin Pp., dass der Beschwerdeführer keinen Besuch von ihm wünsche. Er sei mit der Beiordnung der Rechtsanwältin Pp. mit der Maßgabe einverstanden, dass diesseits die Grund- und Verfahrensgebühr durch die Staatskasse übernommen werde. Auch wegen des weiteren Inhaltes dieses Schriftsatzes wird auf diesen Bezug genommen. Durch Schreiben vom 17.9.2020, eingegangen bei der Staatsanwaltschaft Mainz am selben Tag, teilte der Beschwerdeführer (erneut) mit, dass er von Rechtsanwältin Pp. vertreten werden wolle (BI. 3734 d.A.).

Am 13.10.2020 beantragte Rechtsanwältin Pp. (nochmals) unmittelbar gegenüber dem Ermittlungsrichter ihre Beiordnung als Pflichtverteidigerin (Schriftsatz vom 13.10.2020, BI. 4380 d.A.). Rechtsanwalt pp. wurde hierzu rechtliches Gehör gewährt; er nahm in seinem Schriftsatz vom 13.10.2020 (BI. 4414 d.A.) insoweit Bezug auf seinen Schriftsatz vom 30.9.2020.

Durch Beschluss des Amtsgerichts Mainz vom 14.10.2020 (Az.: 409 Gs 1875/ 20 jug.; BI. 4418 f. d.A.) wurden die Entpflichtung von Rechtsanwalt pp. und die Beiordnung von Rechtsanwältin Pp. abgelehnt; wegen des weiteren Inhaltes der Entscheidung wird auf diese Bezug genommen.

Der Beschluss wurde Rechtsanwältin Pp. am 20.10.2020 zugestellt; dem Verurteilten und seinem Pflichtverteidiger Rechtsanwalt pp. ging der Beschluss formlos zu.
Durch Schriftsatz vom 20.10.2020, am selben Tag oder am 22.10.2020 bei dem Amtsgericht Mainz eingegangen, legte Rechtsanwältin Pp. für den Beschwerdeführer gegen diesen Beschluss vom 14.10.2020 „sofortige Beschwerde" mit im Wesentlichen der Begründung ein, der Beschwerdeführer habe innerhalb der Drei-Wochen-Frist den Wunsch nach einem anderen Verteidiger geäußert; wegen des weiteren Vorbringens wird auf den genannten Schriftsatz Bezug genommen (BI. 4428 ff. d.A.).

Die Staatsanwaltschat Mainz legte die Sache der Kammer am 23.10.2020 zur Entscheidung vor und beantragte, die sofortige Beschwerde zu verwerfen (Schreiben vom 22.10.2020, BI. 4436 d.A.).

Rechtsanwalt pp. nahm insoweit Bezug auf seinen Schriftsatz vom 30.9.2020 und erklärte, es sei keineswegs so, dass er kein Interesse an der Tätigkeit für den Beschwerdeführer habe; wegen des weiteren Vorbringens wird auf den genannten Schriftsatz Bezug genommen (Schriftsatz vom 4.11.2020).

Il.

1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft. Gerichtliche Entscheidungen über die Bestellung eines Pflichtverteidigers und einen (abgelehnten) Pflichtverteidigerwechsel sind gemäß §§ 142 Abs. 7 Satz 1, 143a Abs. 4 StPO mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar.

2. Die Beschwerde ist auch begründet

Die Ablehnung der Aufhebung der Bestellung von Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger und der Bestellung der Rechtsanwältin Pp. als Pflichtverteidigerin — somit des Pflichtverteidigerwechsels erfolgten nicht rechtmäßig.

a) Die §§ 140 ff. StPO regeln die notwendige Verteidigung, insbesondere §§ 142 Abs. 5, 143a StPO das Wahlrecht des Beschuldigten im Rahmen der Beiordnung eines Pflichtverteidigers.

Zwar wird der zu bestellende Verteidiger im Ermittlungsverfahren von dem Ermittlungsrichter ausgewählt (vgl. § 142 Abs. 3 StPO); dem Beschuldigten muss aber Gelegenheit gegeben werden, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Rechtsanwalt zu bezeichnen, § 142 Abs. 5 StPO. Da gemäß § 142 Abs. 5 Satz 3 StPO der vom Beschuldigten bezeichnete Verteidiger zu bestellen ist, wenn dem nicht ein wichtiger Grund entgegensteht, begründet Satz 1 der Regelung eine Anhörungspflicht, von der nur in seltenen Ausnahmefällen abgewichen werden kann (vgl. KG, Beschl. vom 03.12.2008 — 4 Ws 119/08 — m.w.N.). Dem Beschuldigten ist dabei eine angemessene Überlegungsfrist zur Stellungnahme und Auswahl eines Verteidigers zu gewähren. Dies gilt auch in Haftsachen (vgl. OLG Koblenz, StV 2011, 349). Die Anhörungspflicht besteht überdies auch in Fällen, in denen ein Pflichtverteidiger unverzüglich zu bestellen ist (§ 141 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 3 StPO); dies war bereits nach alter Rechtlage für die unverzügliche Bestellung bei Vollstreckung von Untersuchungshaft anerkannt (vgl. BeckOK StPO/ Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, StPO § 142 Rn. 18). Die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers kommt nur ausnahmsweise in Betracht (Krawczyk, a.a.O., § 144 Rn. 1 m.w.N.).

b) Gemessen an diesen Grundsätzen hätte auf Grund des Schreibens des Beschwerdeführers vom 27.8.2020, die Frage, ob ein Pflichtverteidigerwechsel vom Beschwerdeführer gewünscht war, zumindest geprüft und aufgrund des weiteren Schreibens des Beschwerdeführers vom 3.9.2020 ein solcher eingeleitet werden müssen. Jedenfalls aber aufgrund des Schriftsatzes der Rechtsanwältin Pp. vom 9.9.2020 war die Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger aufzuheben und ihre Beiordnung vorzunehmen.

Auf die Frage, ob das Vertrauensverhältnis zum (bisherigen) Pflichtverteidiger gestört ist, kommt es hierbei nicht an, maßgeblich ist insoweit allein der grundsätzliche Vorrang der Wahlverteidigung (vgl. Krawczyk, a.a.O., § 143a 2, § 142 Rn. 25).

Es ist dabei insbesondere von der rechtszeitigen Bezeichnung der Rechtsanwältin Pp. durch den Beschwerdeführer als gewünschte Pflichtverteidigerin auszugehen.

Zwar gelangte sein Schreiben vom 27.8.2020, dass aus Sicht der Kammer bei verständiger Auslegung bereits klar den Wunsch, von Rechtsanwältin Pp. verteidigt zu werden, erkennen lässt, erst am 8.9.2020 zur Handakte der Staatsanwaltschaft, somit nicht innerhalb der Drei-Wochen-Frist aus § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO, die mit Bekanntgabe der Beiordnung des Pflichtverteidigers am 13.8.2020 zu laufen begann, somit am 3.9.2020 endete. Und auch sein weiteres Schreiben vom 3.9.2020 ging erst am 3.9.2020 bei der Staatsanwaltschaft Mainz — nicht dem zuständigen Amtsgericht Mainz — ein. Wird dem Beschuldigten indes eine zu kurze Überlegungsfrist oder — wie im vorliegenden Fall dem Beschwerdeführer mangels jeglicher Belehrung über sein Wahlrecht — gar keine diesbezügliche Frist gesetzt, ist eine Auswechslung des Pflichtverteidigers auch danach noch möglich (vgl. Krawczyk, a.a.O., § 143a Rn. 10, ferner auch § 142 Rn. 25; vgl. auch FKK-StPO/ Willnow, 8. Aufl., § 142 Rn. 8 m.w.N.: keine Ausschlussfrist). Es kann daher auch dahinstehen, wann das Antragsschreiben des Beschwerdeführers vom 27.8.2020 abgesandt wurde, wann es bei der Staatsanwaltschaft Mainz einging, warum es erst am 8.9.2020 dort zur Handakte gelangte und ob der Beschwerdeführer zulässigerweise davon ausgehen durfte, dass dieses — ebenso wie das am 3.9.2020 dort eingegangene Schreiben — noch rechtzeitig an den zuständigen Ermittlungsrichter weitergelangen würde.

Dem Recht und Wunsch des Beschwerdeführers, als Pflichtverteidigerin die von ihm gewählte Rechtsanwältin Pp. beigeordnet zu bekommen, war allem nach angemessen Rechnung zu tragen, da auch ein wichtiger, dem Verteidigerwechsel entgegenstehender Grund nicht vorlag.

Insbesondere hat der Beschwerdeführer nach dem Ausgeführten auch nicht über einen wesentlichen Zeitraum die Verteidigung durch Rechtsanwalt pp. widerspruchslos hingenommen (vgl. BGH, StV 2001, 3 f.), mit der Folge, dass er hieran dauerhaft festgehalten werden könnte.

Die von der Kammer vorgenommene Auswechslung des/ der Pflichtverteidiger/in führt vorliegend auch nicht zu einer — gemessen an der Wahrung der Verfahrensrechte des Beschwerdeführers unbilligen Verfahrensverzögerung und war damit allem nach sachgerecht.

Ein Anlass für die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach § 144 StPO besteht jedenfalls derzeit nicht.

c) Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO (entspr).


Einsender: RÄin C. Hierstetter, Mannheim

Anmerkung:


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