Gericht / Entscheidungsdatum: LG Braunschweig, Beschl. v. 17.09.2020 - 11 Qs 182/20
Leitsatz: Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Steuerstrafverfahren.
Landgericht Braunschweig
Beschluss
11 Qs 182/20
In der Strafsache
gegen pp.
Verteidiger:
wegen Steuerhinterziehung
hat das Landgericht Braunschweig durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, die Richterin am Landgericht und den Richter am Landgericht sam 17.09.2020 beschlossen:
1. Auf die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin wird der Beschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 10.08.2020 (11 Cs 403 Js 36498/20) aufgehoben und der Beschwerdeführerin für das Strafverfahren Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet, da die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage dies erfordert, § 140 Abs. 2 StPO.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe:
Das Amtsgericht Braunschweig - Strafrichterin - hat gegen die Beschwerdeführerin auf Antrag der Staatsanwaltschaft Braunschweig am 18.07.2020 einen Strafbefehl wegen Steuerhinterziehung in 10 Fällen erlassen. Dieser Strafbefehl sah eine Gesamtgeldstrafe von 240 Tagessätzen zu je 60 EI-JR, mithin 14.400 EUR vor. Zudem wurde gegen die Einziehungsbeteiligte pp. GmbH die Einziehung des Wertes des Erlangten i.H.v. 82.475 EUR angeordnet. Wegen der Einzelheiten wird auf den aus BI. 170ff. Bd. d.A. ersichtlichen Strafbefehl verwiesen.
Mit Schriftsatz vom 30.07.2020 hat der Verteidiger der Beschwerdeführerin gegen den Strafbefehl Einspruch eingelegt und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger gem. § 140 Abs. 2 StPO beantragt, da der Sachverhalt umfangreich, tatsächlich und rechtlich kompliziert und ohne Aktenkenntnis eine sachgerechte Verteidigung nicht möglich sei (BI. 190f. Bd. Il d.A.).
Mit Beschluss vom 10.08.2020 (BI. 194 Bd. Il d.A.) hat das Amtsgericht Braunschweig den Antrag des Verteidigers auf Bestellung zum Pflichtverteidiger zurückgewiesen, da die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorlägen. Der Umstand, dass es sich um eine Steuerstrafsache handele, genüge für sich allein nicht. Dass nur der Verteidiger ein umfassendes Akteneinsichtsrecht habe, führe nur unter besonderen Umständen zu einer schwierigen Sach- oder Rechtslage.
Die Beschwerdeführerin hat mit Schriftsatz vom 13.08.2020 gegen diesen Beschluss sofortige Beschwerde eingelegt und dahingehend begründet, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliege, da erforderlich sei, Geschäftsführer, Scheingeschäftsführer und faktischen Geschäftsführer voneinander abzugrenzen und ggf. eine Beweisaufnahme hierzu durchzuführen. Zudem seien die möglichen Folgen für die Angeklagte erheblich neben der Geldstrafe sei auch der Einziehungsbetrag und eine mögliche Haftung der Angeklagten im Rahmen des Insolvenzverfahrens der Unternehmensberatung zu berücksichtigen. Schließlich sei der Angeklagten ohne umfassende Akteneinsicht eine sachgerechte Verteidigung nicht möglich.
Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen, da die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorlägen. Die Angeklagte sei ausweislich des vorliegenden Handelsregisterauszugs im Tatzeitraum als formelle Geschäftsführerin der Unternehmensberatung GmbH eingetragen gewesen, weshalb keine Abgrenzung zum faktischen Geschäftsführer vorgenommen werden müsse. Sollte ihr Ehemann das Unternehmen faktisch geleitet haben, führe dies nicht zur Annahme einer schwierigen Sach- und Rechtslage. Weder die zu erwartende Strafe noch der Umstand, dass es sich um ein Steuerstrafverfahren handele, geböte die notwendige Verteidigung.
Die gem. § 142 Abs. 7 StPO statthafte und zulässige, insbesondere innerhalb der Frist des § 311 Abs. 2 StPO erhobene sofortige Beschwerde ist begründet, da die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vorliegen.
Die Mitwirkung eines Verteidigers ist wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten (§ 140 Abs. 2 StPO). Dabei kann die Frage dahinstehen, ob ein steuerstrafrechtlicher Vorwurf stets die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage begründet. Hierfür sprechen jedoch gewichtige Gründe: Es handelt sich um Blankettstrafrecht, bei dem die Rechtslage nur in einer Zusammenschau strafrechtlicher und steuerrechtlicher Normen zutreffend erfasst und bewertet werden kann. Verfügt der/die Angeklagte nicht nachgewiesenermaßen über Spezialwissen, ist er mit der Rechtsmaterie regelmäßig überfordert. Eine laienhafte oder intuitive Einschätzung der Rechtslage, wie sie bei Normen des Kernstrafrechts möglich ist, genügt nicht (vgl. LG Essen, Beschl. v. 02.09.2015 - 56 Qs 1/15).
Die Frage bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung, da vorliegend weitere Umstände hinzutreten, die die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage begründen. So beträgt der vorgeworfene Tatzeitraum mehr als 4 Jahre; der Strafbefehl umfasst 1 0 Taten. Die Berechnung der Steuerschuld und somit des Einziehungsbetrags bedarf näherer Kenntnisse des Steuerrechts, die bei der Angeklagten nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden können. Schließlich kann eine Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis, die nur einem Verteidiger gemäß § 147 StPO zusteht, nicht umfassend vorbereitet werden, was die Schwierigkeit der Sachlage begründet. Denn um die insgesamt 10 Tatvorwürfe zu prüfen, ist die Kenntnis der Berechnungen des Finanzamts für Steuerstrafsachen und die Ausweitung der sichergestellten Geschäftsunterlagen erforderlich (LG Essen, aaO.). Zudem dürften im Rahmen der Hauptverhandlung die Geschäftsunterlagen, Steuererklärungen und die in Frage stehenden Rechnungen der Drittunternehmen einzuführen sein, was zusätzlich dazu führt, eine schwierige Sach- und Rechtslage anzunehmen (vgl. Thomas/Kämpfer, in: MüKo StPO, 1. Aufl. 2014, § 140, Rn. 39 m.w.N.).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.
Einsender: RA D. Wölker, Schöppenstedt
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