Gericht / Entscheidungsdatum: BayLSG, Beschl. v. 24.03.2020 - L 12 SF 271/16 E
Leitsatz: Bei der Festlegung der 20-prozentigen Toleranzgrenze ist auf die jeweilige einzelne Gebühr abzustellen.
In pp.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 03.08.2016, S 40 SF 275/16, wird zurückgewiesen.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten streitig ist die Höhe der aus der Staatskasse zu erstattenden Vergütung nach Beiordnung im Rahmen der Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH). Streitig ist die Höhe der Verfahrensgebühr. Inhalt des dieser Kostenstreitigkeit zugrundeliegenden Klageverfahrens (S 52 AS 1219/11) war die Ablehnung der Weiterbewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab 01.12.2010, insbesondere der tatsächliche Aufenthalt der Klägerin in ihrer Wohnung.
Die Erinnerungsführerin und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Beschwerdegegnerin) erhob für die Klägerin am 12.05.2011 Klage zum Sozialgericht München (SG), begründete diese im Folgenden auf einer Seite und erwiderte auf die Klageerwiderung, wobei im Einzelnen auf die Stromzählerstände für das erste Halbjahr 2011 eingegangen wurde. Mit Beschluss vom 10.11.2011 bewilligte das SG antragsgemäß PKH ab Klageerhebung. Im April 2012 nahm die Beschwerdegegnerin Akteneinsicht in die über 1000 Blätter umfassende Beklagtenakte. Auf Schreiben des Gerichts wurden mit Schreiben vom 12.10.2012 39 Seiten Rechnungen über Nebenkosten, Strom und Telekom der Klägerin vorgelegt, zudem wurde auf die ausführliche, insgesamt drei Seiten sowie sieben Seiten Anlagen umfassende Klageerwiderung des Beklagten erneut auf einer Seite Stellung genommen. Am 08.07.2013 stellte die Beschwerdegegnerin Antrag auf eine Zeugenladung. Es erfolgte dann eine schriftliche Stellungnahme der Zeugin, die zu berücksichtigen war. Am 22.07.2013 fand zusammen mit dem Verfahren S 52 AS 1220/11 (Kosten im Zusammenhang mit einer Räumung) ein Verhandlungstermin statt, bei dem drei Zeugen gehört wurden. Der Termin dauerte von 13:00 Uhr bis 15:21 Uhr. Der Rechtsstreit wurde vertagt. Mit Schreiben vom 05.08.2013 regte die Beschwerdegegnerin eine Anfrage an die ehemalige Vermieterin der Klägerin an, die auch erfolgte. Mit weiterem kurzen Schreiben übersandte die Beschwerdegegnerin Bescheide der Klägerin betreffend Wasser und Abwasser. Am 10.09.2013 fand zusammen mit dem Verfahren S 52 AS 1220/11 ein Beweisaufnahmetermin in A-Stadt statt, bei dem eine Zeugin vernommen wurde. Der Termin dauerte von 13:31 Uhr bis 14:23 Uhr.
Mit Beschluss vom 12.09.2013 wurde das Verfahren S 52 AS 1220/11 mit dem hier streitigen Verfahren S 52 AS 1219/11 verbunden. Danach erfolgte nochmals eine einseitige Stellungnahme der Beschwerdegegnerin. Im Schreiben vom 02.10.2013 nahm die Beschwerdegegnerin zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid sowie zum Ergebnis der Zeugeneinvernahmen Stellung. Mit Gerichtsbescheid vom 17.10.2013 wurde der Klage teilweise stattgegeben.
Mit Kostennote vom 23.10.2013 beantragte die Beschwerdegegnerin, ihre Vergütung in der Streitsache Az.: S 52 AS 1219/11 wie folgt festzusetzen:
Verfahrensgebühr Nr. 3102 VV RVG: 460,00 Euro
Terminsgebühr Nr. 3106 Nr. 3 VV RVG: 380,00 Euro
Post- und Telekommunikationspauschale Nr. 7002 VV RVG: 20,00 Euro
Dokumentenpauschale Nr. 7000 VV RVG: 25,00 Euro
19 % Umsatzsteuer Nr. 7008 VV RVG: 168,15 Euro
Gesamtbetrag: 1.053,15 Euro
Hiervon 4/5: 842,52 Euro
Mit Beschluss vom 17.06.2016 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des SG die der Beschwerdegegnerin zu erstattenden Gebühren auf 741,37 Euro fest. Terminsgebühr und Auslagen entsprachen dabei dem Antrag der Beschwerdegegnerin, lediglich die Verfahrensgebühr setzte die Kostenbeamtin abweichend auf 375,00 Euro fest. Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit und die Schwierigkeit der Angelegenheit seien mit überdurchschnittlich zu bewerten. Die Bedeutung der Angelegenheit für die Auftraggeberin sei durchschnittlich. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Klägerin seien unterdurchschnittlich.
Angemessen sei daher eine Verfahrensgebühr in Höhe von 50 % oberhalb der Mittelgebühr. Die Terminsgebühr sei antragsgemäß in Höhe der Höchstgebühr festzusetzen. Das anwaltliche Ermessen rechtfertige keine andere Berechnung, nachdem die geltend gemachte Verfahrensgebühr diejenige, die als angemessen erachtet werde, um mehr als 20 % übersteige.
Gegen diesen Beschluss legte die Beschwerdegegnerin am 22.06.2016 Erinnerung ein. Die Festsetzung einer Verfahrensgebühr von 375,00 Euro sei aufgrund des Aufwandes, der Komplexität der Sache und der Bedeutung für die Klägerin nicht sachgerecht. Für Besprechungen, Telefonate und Korrespondenz mit dem Vertreter der Klägerin sei ein enormer Zeitaufwand erforderlich gewesen, ebenso für die mehr als 1000 Seiten Verwaltungsakten, aus denen die Zuordnung der Unterlagen zu insgesamt vier Rechtsstreitigkeiten erfolgen musste. Es seien zwei Verhandlungstermine vorzubereiten gewesen.
Der Bezirksrevisor hielt es in seiner Stellungnahme für verständlich, dass die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle nicht entsprechend dem Beschluss des Kostensenats des BayLSG vom 01.04.2015 (Az.: L 15 SF 259/14 E) die 20-prozentige Toleranz auf den Gesamtbetrag der Gebühren berechnet habe. Der Beschluss sei nicht unumstritten und das Erreichen der Höchstgebühr mit der Toleranz könnte den Gebührenrahmen verzerren. Das SG gab der Erinnerung mit Beschluss vom 03.08.2016 statt, änderte den Vergütungsfestsetzungsbeschluss des SG vom 17.06.2016 ab und setzte die der Beschwerdegegnerin aus der Staatskasse zu gewährende Vergütung wie beantragt auf 842,52 Euro fest. Zur Begründung führte es aus, die allein streitige Verfahrensgebühr sei zu niedrig festgesetzt worden. Die Bestimmung der Gebühr durch die Beschwerdegegnerin sei nicht unbillig und damit für die Staatskasse verbindlich. Unter Verweis auf den Toleranzrahmen führte das SG aus, nach ganz hM sei eine vom Rechtsanwalt bestimmte Gebühr noch verbindlich, wenn sie bis zu 20 % von der Gebühr abweicht, die der Kostenbeamte und das Gericht für angemessen halten. Umstritten sei, ob dies für die einzelnen Gebührentatbestände separat zu prüfen sei oder ob die 20 % auf die Gesamtgebühr (ohne Auslagen) bezogen seien. Für letzteres spreche, dass die Gebühr als Gesamtgebühr festgesetzt und zu Überprüfung gestellt werde (für letzteres BayLSG Beschluss vom 01.04.2015 - L 15 SF 259/14 E und vom 23.09.2015 - L 15 SF 273/14 E, LSG NRW, Beschluss vom 28.06.2010 - L 20 B 125/09 AS und vom 02.05.2012 - L 20 AY 139/11 B; vgl. auch Hartmann, Kostengesetze, 46. Aufl. 2016, § 14 RVG Rn. 24).
Das Gericht folge mit der wohl hM dieser Begründung und Rechtsauffassung trotz gewisser Bedenken aus dem Gedanken heraus, dass sich in Fällen wie dem vorliegenden, wo für einen der Gebührentatbestände (hier Terminsgebühr) die Höchstgebühr als angemessen anerkannt werde, die Toleranzgrenze allein auf den anderen Gebührentatbestand (hier: Verfahrensgebühr) auswirke und die Toleranz insoweit deutlich erhöhe. Ausgehend von einer von der Urkundsbeamtin als angemessen anerkannten Gebühr von insgesamt 755,00 Euro (ohne Auslagen) wäre eine Gebührenfestsetzung von bis zu 906,00 Euro noch als billig anzusehen. Die von der Beschwerdegegnerin berechneten Gebühren von insgesamt 840,00 Euro seien demnach nicht unbillig und daher für das Gericht bindend. Ergänzend bemerkte das SG, es hielte vorliegend eine Verfahrensgebühr in Höhe von 2/3 der Mittelgebühr (416,67 Euro; gemeint war 2/3 über der Mittelgebühr) für angemessen, so dass die Bestimmung der Verfahrensgebühr auch dann nicht unbillig sei, wenn man die 20-prozentige Toleranzgrenze nur auf die Verfahrensgebühr beziehe. Im Gegensatz zum Kostenfestsetzungsbeschluss, dem sich das Gericht im Übrigen anschließe, werte das Gericht den Aufwand als deutlich überdurchschnittlich und die Bedeutung der Klage für die Klägerin als überdurchschnittlich. Ersteres beruhe darauf, dass nicht nur - wie die Urkundsbeamtin zutreffend ausgeführt habe - zahlreiche, auch fachfremde Unterlagen vorgelegt und ausgewertet werden mussten, sondern auch eine Vielzahl von Schriftsätzen mit substantieller Begründung verfasst worden seien, Akteneinsicht in umfangreiche Verwaltungsakten genommen, zwei Termine mit insgesamt vier Zeugen vorbesprochen werden mussten und der Kontakt mit der Klägerin aufgrund deren Persönlichkeit aufwändig gewesen sei. Das Verfahren sei aufgrund der erheblichen Sachverhaltsaufklärung überdurchschnittlich lang gewesen. Da es um die Ablehnung von existenzsichernden Leistungen für mindestens sechs Monate ginge, sei die Bedeutung für die Klägerin zweifellos überdurchschnittlich. Ausgehend davon wäre - was hier letztlich nicht relevant werde - zur Überzeugung des Gerichts eine Verfahrensgebühr von 416,67 Euro angemessen und auch deshalb die Berechnung von 460,00 Euro Verfahrensgebühr nicht unbillig gewesen. Das Gericht habe auch keine Bedenken, über die Toleranzgrenze auch zur Höchstgebühr zu gelangen. Ausgehend davon entspreche die von der Beschwerdegegnerin bestimmte Gebühr billigem Ermessen und sei daher verbindlich. Das SG hat die Beschwerde zugelassen.
Dagegen hat der Beschwerdeführer am 11.08.2016 Beschwerde erhoben. Wann eine "Verzerrung des Gebührenrahmens" durch Wahrnehmen eines Ermessensspielraums bei der Bestimmung der billigen Gebühr stattfinde, bedürfe der grundsätzlichen Klärung.
Die Beschwerdegegnerin hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.
Im Übrigen wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie des Erinnerungsverfahrens mit dem Az.: S 40 SF 275/15 E und die beigezogene Akte des SG mit dem Az.: S 52 AS 1219/11 verwiesen.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Zuständig für die Entscheidung über die Beschwerde ist zwar prinzipiell der Einzelrichter (§ 56 Abs. 2 Satz 1 iVm § 33 Abs. 8 Satz 1 RVG). Jedoch entscheidet wegen grundsätzlicher Bedeutung der hier vorliegenden Angelegenheit gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 iVm § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG der Senat als Gesamtspruchkörper. Die Entscheidung ergeht ohne die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter (§ 56 Abs. 2 Satz 1 iVm § 33 Abs. 8 Satz 3 RVG)
2. Zur Anwendung kommen gemäß der Übergangsvorschrift des § 60 Abs. 1 RVG auch nach Erlass des Zweiten Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts (Zweites Kostenrechtsmodernisierungsgesetz - 2. KostRMoG) vom 23.07.2013 (BGBl S. 2586, 2681 ff.) die Regelungen des RVG in der bis 31.07.2013 geltenden Fassung (RVG a.F.). Denn der unbedingte Auftrag i.S.v. § 60 Abs. 1 RVG im Sinne der Vorschrift ist der Beschwerdegegnerin vor dem 31.07.2013 erteilt worden.
3. Die Beschwerde ist zulässig.
Sie ist statthaft, denn das SG hat die Beschwerde zugelassen (§ 56 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 33 Abs. 3 Satz 2 RVG). Die Beschwerde ist auch fristgerecht innerhalb der Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 33 Abs. 3 Satz 3 RVG eingelegt worden.
4. Die Beschwerde ist im Ergebnis jedoch nicht begründet.
Die Kostenrichterin hat die Gebühren in zutreffender Höhe festgesetzt.
Der Vergütungsanspruch der Beschwerdegegnerin gegen die Staatskasse beruht auf §§ 45 ff. RVG. Die Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV RVG sowie die Auslagen hat die Kostenbeamtin und ihr folgend das SG wie beantragt festgesetzt. Die Höhe dieser Gebühr sowie der Auslagen ist nicht streitig und im Übrigen auch zutreffend erfolgt. Streitig ist allein die Höhe der Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV RVG.
a) Die Verfahrensgebühr fällt an für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information. Sie bemisst sich in sozialrechtlichen Angelegenheiten, in denen im gerichtlichen Verfahren Betragsrahmengebühren entstehen, nach Nr. 3102 VV RVG mit einem Betragsrahmen von 40,00 bis 460,00 Euro.
Innerhalb dieses Gebührenrahmens bestimmt der Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers und des Haftungsrisikos des Rechtsanwalts nach billigem Ermessen. Hiermit ist dem Rechtsanwalt ein Beurteilungs- und Entscheidungsvorrecht eingeräumt, das mit der Pflicht zur Berücksichtigung jedenfalls der in § 14 RVG genannten Kriterien verbunden ist. Unter Zugrundelegung der genannten Kriterien ist vorliegend mit der Ansicht des SG von einer deutlich überdurchschnittlichen Angelegenheit auszugehen.
Der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit stellt sich auch nach Auffassung des Senats deutlich überdurchschnittlich dar. Bei der Beurteilung des Umfangs der anwaltlichen Tätigkeit ist der Arbeits- und Zeitaufwand, den der Rechtsanwalt tatsächlich in der Sache betrieben hat und den er objektiv auch auf die Sache verwenden musste, zu würdigen. Zu berücksichtigen ist auch der sonstige Aufwand, z. B. für Besprechung, Beratung, Aktenstudium, Anfertigung von Notizen, Anfordern und Sichten von Unterlagen, ggf. Rechtsprechungs- und Literaturrecherche, Schriftverkehr mit dem Auftraggeber und dem Gericht sowie alle Tätigkeiten, die mangels entsprechender Gebührenvorschriften nicht durch eine besondere Gebühr vergütet werden (vgl. BSG, Urteil vom 01. Juli 2009 - B 4 AS 21/09 R -, BSGE 104, 30-41, SozR 4-1935 § 14 Nr. 2). Für den Umfang der Tätigkeit des Rechtsanwalts kommt es nicht nur auf die Zahl der gefertigten Schriftsätze an. Von Bedeutung ist darüber hinaus auch, welchen Einsatz der Rechtsanwalt im Einzelnen zur Erstellung dieser Ausführungen notwendigerweise erbringen muss. Vergleichsmaßstab ist immer das gesamte Spektrum sozialrechtlicher Streitigkeiten (vgl. BayLSG, Beschluss vom 06.06.2013 - L 15 SF 190/12 B). Die Schwierigkeit meint im Unterschied zum Umfang der anwaltlichen Tätigkeit die Intensität der Arbeit. Ausgehend von einem objektiven Maßstab ist auf einen Rechtsanwalt abzustellen, der sich bei der Wahrnehmung des Mandats darauf beschränken kann und darf, den Fall mit den einschlägigen Rechtsvorschriften, gegebenenfalls unter Heranziehung von Rechtsprechung und Literatur, zu bearbeiten. Vorliegend musste die Beschwerdeführerin zwar keine Stellungnahme zu medizinischen Sachverhalten abgeben, jedoch zu fachfremden Unterlagen wie z.B. Verbrauchsabrechnungen und Räumungssachverhalten, hierzu wurde eine Vielzahl von Schriftsätzen mit substantieller Begründung verfasst und zudem Akteneinsicht in über 1000-seitige Verwaltungsakten genommen. Auch ist der erhöhte Vorbereitungsaufwand durch zwei Gerichtstermine mit insgesamt vier Zeugen bei der Verfahrensgebühr zu berücksichtigen (Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 26.11.2014 - L 6 SF 1079/14 B, juris; vgl. LSG Erfurt vom 17.04.2014 - L 6 SF 209/14 B und vom 05.09.2013 - L 6 SF 406/13 B; LSG Chemnitz vom 19.06.2013 - L 8 AS 45/12 B KO = AGS 2013, 394). Dass die Klägerin psychisch wie physisch krank war, hatte die Korrespondenz mit ihr erschwert und zur Folge, dass die Kommunikation teilweise über eine dritte Person (mit schwieriger Persönlichkeit) erfolgen musste. Das Verfahren war überdurchschnittlich lang, nicht, weil lange Zeit wenig passierte, sondern weil eine mit erheblichem Aufwand verbundene Sachverhaltsaufklärung erfolgen musste. Da es um die Ablehnung von existenzsichernden Leistungen für mindestens sechs Monate ging, war die Bedeutung für die Klägerin zweifellos überdurchschnittlich. Dies alles hat das SG zutreffend erkannt.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass von einer deutlich überdurchschnittlichen Angelegenheit auszugehen ist, die auch nach Auffassung des Senats zwar nicht die Höchstgebühr, aber den Ansatz einer um 2/3 erhöhten Mittelgebühr gerechtfertigt.
b) Allerdings ist dem Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 RVG bei Rahmengebühren wie der Verfahrensgebühr ein Ermessensspielraum von 20 % (sog. Toleranzgrenze) zuzugestehen, der von Dritten wie von den Gerichten zu beachten ist (vgl. zuletzt BSG vom 12.12.2019, - B 14 AS 48/18 R -; vgl. auch BGH vom 11.07.2012 - VIII ZR 323/11 - juris RdNr.10; BGH vom 05.02.2013 - VI ZR 195/12 - juris RdNr 8). Ist die Gebühr - wie hier - von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist (§ 14 Abs. 1 Satz 4 RVG). Der Ermessensspielraum verhindert, dass die Gerichte im Einzelfall bei relativ geringfügigen Überschreitungen (vor allem der Mittelgebühr) ihr Ermessen an die Stelle des Ermessens des Rechtsanwalts setzen und dabei oftmals aufwändige Überprüfungen vornehmen, ob die Tätigkeit vielleicht doch in gewissem Umfang anders zu bewerten (z.B. als leicht überdurchschnittlich) war (vgl. BGH, Urteil vom 08.05.2012, Az.: VI ZR 273/11). Damit wird der Aufwand für die Kostenbeamten und die Spruchkörper der Gerichte reduziert und Streit darüber, was noch als billig oder schon als unbillig zu gelten hat, leichter vermieden (vgl. BSG, Urteil vom 01.07.2009, Az.: B 4 AS 21/09 R); nicht zuletzt trägt die Vereinfachung auch dem verfassungsrechtlichen Gebot des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) Rechnung, gleich liegende Fälle gleich und unterschiedliche Fälle entsprechend ihren Unterschieden ungleich zu behandeln (BayLSG, Beschluss vom 01.04.2015, Az.: L 15 SF 259/14). Streitig ist jedoch, ob der Toleranzrahmen für die einzelnen Gebührentatbestände separat zu prüfen ist oder ob die 20 % auf die Gesamtgebühr (ohne Auslagen) bezogen sind. Für letzteres spricht - wie das SG zu Recht ausführt -, dass die Gebühren als Gesamtbetrag festgesetzt und zur Überprüfung gestellt werden (so auch BayLSG, Beschluss vom 01.04.2015, Az.: L 15 SF 259/14 E; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.05.2012, Az.: L 20 AY 139/11 B; Toussaint in Hartmann/ders., Kostengesetze, 49. Aufl. 2019, § 14 RVG, RdNr. 24 unter Verweis auf OLG Koblenz, NJW 2005, 918).
Dennoch ist der Senat der Auffassung, dass bei der Festlegung der 20 % Toleranzgrenze nicht die gesamten Gebühren des Verfahrensabschnitts maßgebend sind, sondern vielmehr jeweils abzustellen ist auf die einzelne Gebühr. Eine dem Rechtsanwalt zuzubilligende und durch die Kostenfestsetzung zu beachtende Toleranzgrenze bei der Ermessensausübung kann nicht allgemein, sondern nur für den konkreten Einzelfall unter Bewertung der einzustellenden Kriterien und nach Durchführung einer Gesamtabwägung gezogen werden. Der sein Ermessen ausübende Rechtsanwalt hat die Kriterien des § 14 RVG jedoch bei jeder Gebühr, die er ansetzt (und deren Höhe sich nicht aus dem Gesetz ergibt), zugrunde zu legen und zu beachten, nicht erst bei der Gesamtgebühr. Es erscheint daher nicht sachgerecht, abweichend hiervon bei der Toleranzgrenze, die ein Ersetzen des Ermessens des Anwalts durch das Gericht bei geringfügigen, noch zu tolerierenden Abweichungen verhindern soll, auf die alleinige Betrachtung der insgesamt beantragten Gebühren abzustellen. Zudem wirkt sich - wie das SG zutreffend bemerkt - in Fällen wie dem vorliegenden, wo für einen der Gebührentatbestände (hier Terminsgebühr) die Höchstgebühr als angemessen anerkannt wird, die Toleranzgrenze bei Abstellen auf die Gesamtgebühren allein auf den anderen Gebührentatbestand (hier: Verfahrensgebühr) aus und erhöht die Toleranz insoweit deutlich. Gerade in Fällen, in denen eine Gebühr sehr hoch ist und eine weitere sich im unteren Bereich des Gebührenrahmens bewegt, führt das Abstellen auf die Gesamtgebühren im Ergebnis zu einer überproportionalen Erhöhung der niedrigen Gebühr. Für eine derartige Verzerrung des Gebührenrahmens besteht kein Anlass. Der Gesichtspunkt der Vereinfachung der Prüfpflicht der Kostenbeamten ist zudem auch bei einer Anwendung der Toleranzgrenze bezogen auf die einzelnen Gebühren gewahrt.
Auch der Senat hat wie das SG keine Bedenken, über die Toleranzgrenze zur Höchstgebühr zu gelangen. Zum einen ist die Toleranzgrenze überhaupt nur anzuwenden, wenn der Rechtsanwalt bei der Festsetzung tatsächlich Ermessen ausgeübt hat. Eine "verzerrende", nur den Toleranzrahmen ausschöpfende Festsetzung wird damit verhindert. Die Toleranzgrenze ergibt sich systematisch aus der analogen Anwendung des § 315 BGB und teleologisch aus der Erwägung, dass möglichst Streit darüber vermieden werden soll, was "billig" iSv § 14 RVG ist. Diese systematischen und teleologischen Erwägungen gelten unabhängig davon, ob über die Toleranzgrenze die Höchstgebühren erreicht werden oder nicht.
c) Der Senat hält wie dargelegt eine Verfahrensgebühr in Höhe einer um 2/3 erhöhten Mittelgebühr (416,67 Euro) für angemessen. Unter Berücksichtigung des Toleranzrahmens ist die anwaltliche Bestimmung der Verfahrensgebühr in Höhe der Höchstgebühr von 460,00 Euro daher nicht als unbillig zu beanstanden.
Das SG hat daher die aus der Staatskasse zu gewährende Vergütung der Beschwerdegegnerin wie beantragt zutreffend auf 842,52 Euro festgesetzt. Die Beschwerde ist daher zurückzuweisen.
Einer Entscheidung über die Kosten bedarf es nicht, weil das Verfahren über die Beschwerde gebührenfrei ist und Kosten nicht erstattet werden, § 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVG.
Der Beschluss ist unanfechtbar, eine Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt (§ 56 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).
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