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Entscheidungen

StPO

Tatbegriff, Ne bis in idem, Besitz von BtM, Angriff auf Vollstreckungsbeamte, OLG Celle

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Celle, Beschl. v. 28.05.2020 - 2 Ss 42/20

Leitsatz: Beim zeitgleichen Zusammentreffen zwischen unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln und anderen Straftaten und/oder Ordnungswidrigkeiten ist materiell-rechtlich nur dann von einer Tat auszugehen, wenn ein innerer Beziehungs- bzw. Bedingungszusammenhang zwischen den Taten besteht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die zur Verwirklichung des einen Tatbestandes beitragende Handlung zugleich der Begründung oder Aufrechterhaltung des durch das Dauerdelikt geschaffenen rechtswidrigen Zustandes dient. Straftaten, die demgegenüber nur gelegentlich eines Dauerdelikts begangen werden, stehen mit diesem in Realkonkurrenz; eine bloße Gleichzeitigkeit der Handlungen genügt für die Annahme von Tateinheit nicht.


Oberlandesgericht Celle
Beschluss

2 Ss 42/20

In der Strafsache
gegen pp.

- Verteidiger:

wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte u.a.

hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle nach Anhörung und auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht am 28. Mai 2020 einstimmig beschlossen:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Soltau vom 17.02.2020, Geschäftszeichen 9 Ds 9103 Js 34199/19 — 522/19, aufgehoben.

2. Das Verfahren wird auf Kosten der Landeskasse, die auch die notwendigen Auslagen des Angeklagten in allen Instanzen zu tragen hat, eingestellt.

Gründe:
I.

Das Amtsgericht Soltau hat den Angeklagten wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt.

Nach den dortigen Feststellungen sichteten die Polizeibeamten PP1 und PP2 den Angeklagten am 17.09.2019 gegen 9:45 Uhr auf dem Parkplatz des Rewe Marktes am Bahnhof 12-14 in Soltau. Sie hielten mit dem Funkstreifenwagen direkt vor ihm, um einen Haftbefehl wegen einer viermonatigen Freiheitsstrafe gegen ihn zu vollstrecken. Der Angeklagte, der zu diesem Zeitpunkt unter Betäubungsmitteleinfluss stand und von der Vollstreckung nichts wusste, ergriff sofort die Flucht, da er weitere Betäubungsmittel bei sich führte und die Ahndung der Tat fürchtete. Auf dem Fußweg zwischen dem Markt und dem Ärztehaus kam der Angeklagte ohne Fremdverschulden zu Fall, wodurch der Polizeibeamte PP1 den Angeklagten stellen und fixieren konnte. Der Angeklagte schrie und wehrte sich gegen das Festhalten am Boden, indem er mit den Armen nach dem Polizeibeamten schlug. Als der hinzukommende Polizeibeamte PP2 dem Angeklagten sodann Handfesseln anlegen wollte, sperrte sich dieser erneut und zappelte und trat mit den Füßen um sich, wobei er billigend in Kauf nahm, dass bei den Tritten die ihn fixierenden Polizeibeamten verletzt werden konnten. So erlitt der Polizeibeamte PP2 an der rechten Wade eine Schürfwunde, die sich leicht entzündete, und eine kleine Prellung.

Dieser Verurteilung war folgender Verfahrensablauf vorhergegangen:

Nachdem die Polizeibeamten PP2 und PP1 den Angeklagten am 17.09.2019 festgenommen und zur Dienststelle verbracht hatten, konnten sie im Rahmen der Durchsuchung seiner Person einen Grinder mit Marihuana, einen halben Joint, einen Klemmleistenbeutel mit 31 Tabletten (vermutlich Ecstasy), drei Strohhalme, eine Packung Groß-Blättchen und eine Dose mit Speed sicherstellen. Sie leiteten daraufhin ein gesondertes Verfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz gegen ihn ein, das schließlich bei der Staatsanwaltschaft Lüneburg unter dem Geschäftszeichen 6106 Js 223/20 geführt wurde. PK PP2 vermerkte dies in seinem Bericht, der als Einstiegsbericht beiden Verfahrensakten vorgeheftet wurde.

Am 08.11.2019 erhob die Staatsanwaltschaft im hiesigen Verfahren Anklage zum Amtsgericht Soltau - Strafrichter. Am 17.12.2019 wurde die Anklage der Staatsanwaltschaft Lüneburg zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Auf Antrag des Verteidigers vom 30.12.2029 wurde der Hauptverhandlungstermin auf den 17.02.2020 verlegt.

In dem Verfahren 6106 Js 223/20 stellte die Staatsanwaltschaft Lüneburg am 28.01.2020 den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gegen den hiesigen Angeklagten. Er wurde beschuldigt, am 17.09.2019 in Soltau Betäubungsmittel besessen zu haben, ohne im Besitz einer schriftlichen Erlaubnis für den Erwerb zu sein. Konkret wurde ihm zur Last gelegt, in seiner Bekleidung für den Konsum neben Konsumutensilien ca. 0,5g Marihuana, einen halben angerauchten Joint, einen Plastikbeutel mit 31 Ecstasy-Tabletten „DomPerignon" und eine Dose mit ca. 1,1g Amphetaminen bei sich geführt zu haben.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht Soltau unter dem 04.02.2020 den Strafbefehl und verhängte eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10,- € gegen den Angeklagten. Der Strafbefehl mit dem Geschäftszeichen 9 Cs 6106 Js 223/20 (68/20) wurde dem Angeklagten am 06.02.2020 in der Justizvollzugsanstalt Uelzen durch Gefangenenzustellungsurkunde zugestellt. Durch Telefax vom 16.02.2020 erklärte der Verteidiger in Vollmacht des Angeklagten gegenüber dem Amtsgericht Soltau den Verzicht auf die Einlegung sämtlicher Rechtsmittel gegen den Strafbefehl. Am 17.02.2020 bescheinigte das Amtsgericht Soltau die Rechtskraft des Strafbefehls ab dem 17.02.2020.

Am selben Tag erging das angefochtene Urteil, gegen das sich der Angeklagte mit dem Rechtsmittel der Sprungrevision wendet, mit dem er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Er rügt das Vorliegen eines Strafklageverbrauchs, mithin eines Verfahrenshindernisses, und beantragt, das Urteil vom 17.02.2020 aufzuheben und das Verfahren gemäß § 206a StPO einzustellen.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt in ihrer Zuschrift vom 13.05.2020, auf die Revision des Angeklagten das Urteil des Amtsgerichts Soltau vom 17.02.2020 mit den Feststellungen aufzuheben und das Verfahren gemäß § 354 Abs. 1 StPO einzustellen.

I.

Das zulässige Rechtsmittel hat Erfolg. Die Sachrüge führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Einstellung des Verfahrens.

1. Es besteht das Verfahrenshindernis der entgegenstehenden Rechtshängigkeit und inzwischen eingetretenen Rechtskraft des unter dem 04.02.2020 erlassenen Strafbefehls. Dieser Strafbefehl wurde am Tag der Verkündung des angefochtenen Urteils rechtskräftig, nachdem der Verteidiger für den Angeklagten den Rechtsmittelverzicht erklärt hatte. Die entgegenstehende Rechtshängigkeit und Rechtskraft stellt ein Verfahrenshindernis dar, das bereits vor Erlass des angefochtenen Urteils eingetreten ist (,,ne bis in idem").

Der Strafbefehl vom 04.02.2020 betrifft nämlich dieselbe Tat im Sinne des § 264 StPO wie das angefochtene Urteil.

Zur Tat im prozessualen Sinne gehört das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach natürlicher Auffassung einen einheitlichen Lebensvorgang darstellt, dessen Aburteilung zur Aufspaltung eines zusammengehörenden Geschehens führen würde. Eine einheitliche Handlung i.S.d. § 52 StGB stellt hierbei stets eine einheitliche prozessuale Tat dar (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 264 Rn. 1, 2, 6 m.w.N.).

Beim zeitgleichen Zusammentreffen zwischen unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln und anderen Straftaten und/oder Ordnungswidrigkeiten ist materiell-rechtlich nur dann von einer Tat auszugehen, wenn ein innerer Beziehungs- bzw. Bedingungszusammenhang zwischen den Taten besteht (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 15.09.2017 — 1 OLG 2 Ss 55/17 ; BVerfG, Beschluss vom 16.03.2006 - 2 BvR 111/06; BGH NStZ 2004, 694; Patzak in Körner BtMG, 8. Aufl., § 29 Rn. 112; MüKo StGB/OglakcroOlu, 3. Aufl., BtMG § 29 Rn 107; Weber, BtMG, 5. Aufl., Vorbem. Zu §§ 29 ff. Rn. 52). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die zur Verwirklichung des einen Tatbestandes beitragende Handlung zugleich der Begründung oder Aufrechterhaltung des durch das Dauerdelikt geschaffenen rechtswidrigen Zustandes dient (vgl. OLG Zweibrücken, a.a.O.; BGHSt 18, 29, 31; Weber ). Straftaten, die demgegenüber nur gelegentlich eines Dauerdelikts begangen werden, stehen mit diesem in Realkonkurrenz; eine bloße Gleichzeitigkeit der Handlungen genügt für die Annahme von Tateinheit nicht (vgl. Weber, BtMG, a.a.O., Vorbem. zu §§ 29 ff., Rn. 546 f., dort u.a. zum Verhältnis von unerlaubtem Besitz und Ladendiebstahl).

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts im angefochtenen Urteil hatte der Angeklagte keine Kenntnis von der Absicht der Polizeibeamten, einen bestehenden Haftbefehl gegen ihn zu vollstrecken. Vielmehr ergriff der Angeklagte die Flucht, weil er Betäubungsmittel bei sich führte und die Ahndung der Tat fürchtete. Dabei ist zwanglos davon auszugehen, dass er sich überdies im Besitz der mitgeführten Betäubungsmittel halten wollte. Im Rahmen seiner Flucht kam es dann nach den amtsgerichtlichen Feststellungen zu den Widerstands- und Verletzungshandlungen.

Aus den Feststellungen des Amtsgerichts ergibt sich somit der erforderliche innere Zusammenhang zwischen dem Besitz von Betäubungsmitteln und der Körperverletzungshandlung bzw. dem tätlichen Angriff auf die Polizeibeamten. Beide Delikte stehen nicht nur in einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang, sondern darüber hinaus in einem inneren Beziehungs- und Bedingungszusammenhang. Es liegt nicht nur eine Tat im prozessualen Sinne, sondern sogar Tateinheit gemäß § 52 StGB vor.

2. Da das Verfahrenshindernis bereits vor Erlass des angefochtenen Urteils eingetreten war, sodass das Amtsgericht nach § 260 Abs. 3 StPO hätte verfahren müssen, war gemäß §§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 1 StPO das Urteil aufzuheben und das Verfahren einzustellen (vgl. Senat, Beschluss vom 22.02.2007 — 32 Ss 20/07; Senat, Beschluss vom 31.05.2011 — 32 Ss 187/10; OLG Koblenz, StraFo 2005, 129;).

Soweit der Bundesgerichtshof (BGHSt 24, 208, 212; 32, 275, 290; aber auch BGHR § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO, Tat 8 „unbestimmte Serienstraftaten") demgegenüber auch eine Einstellung des Verfahrens nach § 206 a StPO zulässt und den Rechtsmittelgerichten insoweit ein Wahlrecht einräumt, folgt der Senat dem nicht. Denn ein solches Wahlrecht oder auch die Einstellung nach § 206 a StPO allein führen ohne Not zu Systemwidrigkeiten im Rechtsmittelverfahren, während die hier vertretene Auffassung die systematisch gebotene Aufhebung des fehlerhaften Urteils des Tatgerichts bewirkt (vgl. Senat, Beschluss vom 22.02.2007 — 32 Ss 20/07 m.w.N.).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO. Der Senat hat von der in § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO vorgesehenen Möglichkeit, die notwendigen Auslagen der Angeklagten nicht der Landeskasse aufzuerlegen, keinen Gebrauch gemacht. Dies ist zwar grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen möglich, wenn der Angeklagte wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Anders ist dies aber zu beurteilen, wenn das Verfahrenshindernis von Anfang an besteht, also bereits vor Klagerhebung. Dann besteht kein Anlass, vom Regelfall des § 467 Abs. 1 StPO abzuweichen (vgl. OLG Braunschweig, Beschluss vom 21.10.1996 — Ss 48/96; OLG Celle, Beschluss vom 13.07.2017 — 3 Ss 25/17). Hier war zwar zum Zeitpunkt der Anklageerhebung noch kein Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gestellt. Es ergab sich aber bereits aus dem (Einstiegs-)Bericht von PK PP2 vom 17.09.2019, dass ein weiteres Verfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz eingeleitet worden war.

IV.

Auf eine Entschädigung für Verfolgungsmaßnahmen (§ 8 StrEG) wegen der Einstellung des Verfahrens war nicht zu erkennen. Eine der in § 2 StrEG genannten Strafverfolgungsmaßnahmen hat der Angeklagte nicht erlitten.


Einsender: RA P. Jähnig, Osnabrück

Anmerkung:


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