Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 17.02.2020 - 3 Ws 37 u. 38/20
Leitsatz: Gibt ein Angeklagter seine Rücknahmeerklärung in deutlichem zeitlichen Abstand zur Hauptverhandlung ab, ist regelmäßig davon auszugehen, dass sich der Angeklagte der Tragweite seiner Erklärung bewusst ist und kann von einer situativen Überforderung, wie sie typischerweise in der Hauptverhandlung vorliegt, nicht die Rede sein. Dies gilt auch bei notwendiger Verteidigung.
KAMMERGERICHT
Beschluss
Geschäftsnummer:
3 Ws 37 + 38/20 121 AR 10/20
In der Strafsache
gegen pp.
wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort u.a.
hat der 3. Strafsenat des Kammergerichts am 17. Februar 2020 beschlossen:
1. Es wird festgestellt, dass der Angeklagte seine Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 5. Juni 2019 wirksam zurückgenommen hat.
2. Die sofortigen Beschwerden des Angeklagten gegen die Beschlüsse des Landgerichts vom 3. Dezember 2019 und 13. Januar 2020 sind gegenstandslos.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten in Anwesenheit seines Wahlverteidigers am 5. Juni 2019 wegen fahrlässiger Körperverletzung und unerlaubten Entfernens vom Unfallort unter Ratenzahlungsbewilligung zu einer Gesamtgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 30,- Euro verurteilt, ihm die Fahrerlaubnis entzogen und eine Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis vom fünf Monaten verhängt. Gegen dieses in seiner Gegenwart verkündete Urteil hat der Angeklagte mit seinem an die Amtsanwaltschaft gerichteten Schreiben vom 11. Juni 2019, das am 12. Juni 2019 bei der gemeinsamen Briefannahmestelle der Justizbehörden - Standort K.-Straße - und am 13. Juni 2019 bei der Geschäftsstelle des Amtsgerichts eingegangen ist, Berufung eingelegt. Mit Verfügung vom 9. August 2019 hat das Landgericht ihn und seinen Wahlverteidiger zu der für den 4. Dezember 2019 anberaumten Berufungshauptverhandlung geladen. Die Ladung ist dem Angeklagten am 13. August 2019 zugestellt worden.
Durch Schriftsatz vom 15. August 2019, der am 19. August 2019 bei Gericht eingegangen ist, hat der bisherige Wahlverteidiger des Angeklagten erklärt, für die Berufung nicht beauftragt zu sein. Daraufhin hat die Vorsitzende der Strafkammer dem Angeklagten mit Schreiben vom 20. August 2019 mitgeteilt, es liege angesichts dessen, dass er Taxifahrer sei und mit der Entziehung der Fahrerlaubnis gerechnet werden müsse, ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor, und hat ihn aufgefordert, innerhalb von zwei Wochen ab Zugang des Schreibens einen Verteidiger seines Vertrauens zu benennen. Mit - wiederum an die Amtsanwaltschaft adressiertem und von ihm nicht unterzeichnetem - Schreiben vom 1. September 2019, das am 13. September 2019 auf der Geschäftsstelle des Landgerichts eingegangen ist, hat der Angeklagte mitgeteilt:
In der Strafsache gegen mich, V., ziehe ich hiermit meine eingereichte Berufung zurück.
Zur Begründung hat er unter anderem ausgeführt:
Ausgehend von all den bisherigen Ungerechtigkeiten und Unrechtmäßigkeiten erwarte ich kein faires und akzeptables Urteil bei der bevorstehenden Gerichtsverhandlung seitens des Landgerichts. [
]
Deshalb würde ich mich lieber fernhalten und meinen Fall nicht vor diesem Gericht behandeln lassen. [
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Ich sollte lieber der Empfehlung meines Anwalts folgen und auf eine Berufung verzichten. Er kannte anscheinend die Situation und die Aussichten besser als ich. [
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Dieser Rückzug hat zugleich auch Nachteile für mich, da ich nie mehr zu meinem Recht kommen kann. [
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Bitte streichen Sie den Gerichtsverhandlungstermin vom 4.12.2019.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens des Angeklagten wird auf sein Schreiben vom 1. September 2019 Bezug genommen.
Durch Beschluss vom 11. September 2019 ist dem Angeklagten durch das Landgericht ein Pflichtverteidiger bestellt worden. Mit Schreiben vom 13. September 2019 hat die Vorsitzende der kleinen Strafkammer dem Angeklagten auf dessen Schreiben vom 1. September 2019 mitgeteilt, seine Berufungsrücknahme genüge nicht den Formvorschriften, weil er diese nicht unterschrieben habe. Mit von ihm unterzeichneten Schreiben vom 19. September 2019, das am 30. September 2019 bei Gericht eingegangen ist, hat der Angeklagte auf den Beschluss vom 11. September 2019 mitgeteilt, er wolle keinen Verteidiger bestellt bekommen, weil er sich selbst einen Verteidiger wählen wolle. Auf das gerichtliche Schreiben vom 13. September 2019 hat der Angeklagte mit - wiederum unterzeichneten - Schreiben vom 20. September 2019, bei Gericht am 24. September 2019 eingegangen, unter anderem mitgeteilt:
Die Beschlüsse und das Urteil des AGs in meinem Fall sind noch nicht rechtskräftig, sonst wäre eine Berufung gegen sie nicht erforderlich oder erlaubt sein [
].
[
]
Ich bin nicht ganz schlüssig, ob ich meine Berufung zurückziehen soll oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich beim Landgericht zu meinem Recht komme und für all meine Verluste und Einbüße entschädigt werde, ist, wie es bisher aussieht, nicht hoch. Ich habe deshalb einmal versucht, meine Berufung zurück zu ziehen. Die Gründe dafür habe ich dort erwähnt. Aus irgendeinem Grund wurde das nicht akzeptiert. Nun nach einer weiteren Überlegung lasse ich meine Berufung laufen [
].
Mit Beschluss vom 3. Dezember 2019 hat das Landgericht die Berufung des Angeklagten als unzulässig verworfen, weil diese nach Maßgabe von § 322 StPO verspätet eingelegt worden sei. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeklagte mit seiner durch seinen jetzigen Wahlverteidiger eingelegten sofortigen Beschwerde vom 10. Dezember 2019, die am selben Tag bei Gericht eingegangen ist. Zugleich hat er vorsorglich wegen der versäumten Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Hinsichtlich des Vorbringens zur sofortigen Beschwerde und des Wiedereinsetzungsantrags wird auf die Schriftsätze des Verteidigers vom 10. Dezember 2019 und 6. Januar 2020 Bezug genommen. Den Wiedereinsetzungsantrag hat das Landgericht durch Beschluss vom 13. Januar 2020 verworfen, gegen den der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 21. Januar 2020, bei Gericht am selben Tag eingegangen, sofortige Beschwerde eingelegt hat. Hinsichtlich des Beschwerdevorbringens wird auf diesen Schriftsatz Bezug genommen.
II.
Der Senat hat die Wirksamkeit der durch den Angeklagten mit Schreiben vom 1. September 2019 erklärten Zurücknahme der Berufung durch deklaratorischen Beschluss festgestellt.
1. Daran, dass der Angeklagte in diesem Schreiben die Zurücknahme der Berufung erklärt hat, bestehen keine Zweifel. Schon aus dem Wortlaut der Erklärung In der Strafsache gegen mich, V., ziehe ich hiermit meine eingereichte Berufung zurück geht der unmissverständliche Wille des Angeklagten hervor, sein Rechtsmittel nicht mehr weiter verfolgen zu wollen. Dies steht im Einklang mit der vom Angeklagten dargelegten Begründung für seine Berufungsrücknahme, wonach er - der Empfehlung seines Anwalts folgend und wohlwissend, sein Rechtsmittel dann nicht mehr weiterverfolgen zu können - von seiner Berufung Abstand genommen habe, weil er von dem Landgericht keinen fairen Prozess erwarte. Dies geht über das bloße Erwägen einer Rechtsmittelrücknahme hinaus.
1. Die Berufungsrücknahme wahrt die dafür erforderliche Form. Das Gesetz sieht in § 302 StPO für die Zurücknahme eines Rechtsmittels zwar keine bestimmte Form vor. Es entspricht indes einhelliger Auffassung, dass für die Zurücknahme eines Rechtsmittels die gleichen Formvorschriften wie für dessen Einlegung gelten (vgl. BGHSt 18, 257; Paul in KK-StPO 8. Aufl., § 302 Rdn. 8 m.w.N.; Allgayer in MüKo-StPO, § 302 Rdn. 17; Jesse in Löwe-Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 302 Rdn. 15). Eine Berufungsrücknahme muss daher - § 314 Abs. 1 StPO folgend - schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle erfolgen.
Das Schreiben des Angeklagten vom 1. September 2019 genügt dem Schriftformerfordernis. Wird die Zurücknahme durch den Angeklagten selbst schriftlich erklärt, kommt es auf die Urheberschaft und nicht auf die Unterzeichnung des Schreibens an (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 67; BGHSt 2, 77; NStZ-RR 2000, 305; KG, Beschluss vom 22. Juli 1998 - 4 Ws 154/98 -, juris; OLG Nürnberg, Beschluss 9. November 2015 - 2 Ws 633/15 -, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 1. Oktober 2014 - 2 (6) Ss 442/14 -, juris; Quentin in MüKo-StPO, § 314 Rdn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 62. Aufl., § 314 Rdn. 5). Daran, dass der Angeklagte Urheber des Schreibens vom 1. September 2019 ist, hat der Senat keinen Zweifel, denn es weist als Absender den Namen und die Anschrift des Angeklagten auf und entspricht - wie ein freibeweislicher Abgleich durch den Senat ergeben hat - sowohl hinsichtlich des Schrifttyps als auch der sprachlichen Diktion vorangegangenen - unterzeichneten - Schreiben des Angeklagten an das Amts- und Landgericht. Zudem wiederholt er bei der Erklärung der Berufungsrücknahme seinen Namen und setzt sich ausführlich mit dem bisherigen Prozessgeschehen auseinander, das auf Detailkenntnisse rückschließen lässt.
2. Der Wirksamkeit der Berufungsrücknahme steht nicht entgegen, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Abgabe seiner Prozesserklärung keinen Verteidiger hatte. Zwar ist anerkannt, dass ein Angeklagter im Fall der notwendigen Verteidigung die Gelegenheit haben muss, sich von seinem Verteidiger rechtlich beraten zu lassen und die fehlende Möglichkeit dessen vor Erklärung des Rechtsmittelverzichts bzw. der Rechtsmittelrücknahme zur Unwirksamkeit der Prozesserklärung führt (vgl. BGHSt 47, 238; Senat NStZ-RR 2007, 209 und Beschluss vom 6. Mai 2002 - 3 Ws 43/02 -; KG StV 2013, 11; OLG Hamm, Beschluss vom 26. März 2009 - 5 Ws 91/09 -, juris; OLG Koblenz StraFo 2006, 27; Paul, KK-StPO 8. Aufl., § 302 Rdn. 12 m.w.N.; Allgayer a.a.O. Rdn. 36). Unabhängig davon, ob im vorliegenden Fall tatsächlich ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag, ist indes nicht ausschlaggebend, ob dem Angeklagten zum Zeitpunkt der Abgabe seiner Prozesserklärung ein Pflichtverteidiger bestellt ist oder er einen Wahlverteidiger mit seiner Verteidigung beauftragt hat, sondern ob sich der Angeklagte bei Abgabe der Prozesserklärung der vollen Tragweite seiner Erklärung bewusst ist (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 25. Januar 2008 - 2 BvR 325/06 -; Senat, Beschluss vom 12. Februar 2016 - 3 Ws 77/16 -, juris; OLG Hamm NJW 1983, 302) und er Gelegenheit hatte, sich zuvor ausreichend rechtlich beraten zu lassen (vgl. BGH NStZ 2014, 533 m.w.N.; OLG Koblenz NStZ 2007, 55; Allgayer a.a.O. Rdn. 36). Hierbei ist in den Blick zu nehmen, dass auch ein verteidigter Angeklagter den Rechtsmittelverzicht bzw. die Rechtsmittelrücknahme gegen den Widerspruch seines Verteidigers erklären kann (vgl. BGHSt 45, 51, 56; Paul a.a.O. m.w.N.).
Die Fälle, die den eingangs zitierten Entscheidungen zu Grunde liegen, sind durch eine situativ bedingte Überforderung der dortigen Angeklagten in der Hauptverhandlung gekennzeichnet, die sich zuvor nicht mit einem Verteidiger beraten konnten, der sie vor übereilten Erklärungen hätte abhalten können (vgl.; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 3. November 1993 - 1 Ws 539/93). Gibt der Angeklagte hingegen seine Rücknahmeerklärung in deutlichem zeitlichen Abstand zur Hauptverhandlung ab, ist regelmäßig davon auszugehen, dass er sich der Tragweite seiner Erklärung bewusst ist (vgl. OLG Koblenz a.a.O.; Jesse a.a.O. Rdn. 57) und kann von einer situativen Überforderung des Angeklagten nicht die Rede sein kann.
So liegt der Fall hier. Zwischen der Einlegung der Berufung und deren Rücknahme liegen mehr als zweieinhalb Monate. In dieser Zeit war es dem Angeklagten möglich, sich ausführliche Gedanken über eine etwaige Rechtsmittelrücknahme zu machen, einen Rechtsanwalt zu konsultieren und sich von ihm beraten zu lassen. Davon hat der Angeklagte, der auch in der Lage war, seine Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts - ohne Mitwirkung seines damaligen Verteidigers - selbst einzulegen, offenkundig auch Gebrauch gemacht. Denn in seinem Schreiben vom 1. September 2019 erwähnt er ausdrücklich die Empfehlung seines Anwalts, auf die Berufung zu verzichten, weil dieser anscheinend die Situation besser kenne als er. Zudem hat der Angeklagte seine Berufungsrücknahme ausführlich begründet. Auch dies spricht gegen eine voreilige und unüberlegte Entscheidung eines situativ überforderten und unzureichend rechtlich beratenen Angeklagten. Soweit der Verteidiger behauptet hat, der Angeklagte verfüge nicht über ausreichende Deutschkenntnisse, sprechen dagegen schon die vom Angeklagten verfassten umfangreichen Schreiben in weitgehend fehlerfreiem Deutsch.
3. An seiner Erklärung muss sich der Angeklagte auch unter Berücksichtigung des landgerichtlichen Schreibens vom 13. September 2019 festhalten lassen. Denn nachdem er bereits zuvor seine Berufung wirksam zurückgenommen hatte und das Urteil des Amtsgerichts in der Folge rechtskräftig geworden ist, konnte das gerichtliche Schreiben schon deswegen keinen Vertrauenstatbestand begründen. Wegen der wirksamen Zurücknahme der Berufung ist es auch irrelevant, dass der Angeklagte im Anschluss daran mit Schreiben vom 20. September 2019 erklärt hat, er wolle seine Berufung laufen lassen. Ein Widerruf der wirksamen Rücknahmeerklärung war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich; eine nachträgliche Willensänderung ist bedeutungslos (vgl. BGH NStZ 2019, 692; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 302 Rdn. 21 m.w.N.)
4. Offen bleiben kann, ob der Angeklagte seine Berufung verspätet eingelegt hat, so dass sie nach §§ 319 Abs. 1, 314 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen gewesen wäre. Denn auch ein unzulässiges Rechtsmittel kann wirksam zurückgenommen werden (vgl. BGH NStZ 1995, 356).
III.
Steht - wie hier - die Wirksamkeit einer Rechtsmittelrücknahme im Streit, ist dies durch deklaratorischen Beschluss festzustellen (vgl. BGH NStZ 2019, 692 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 302 Rdn. 26 m.w.N.). Eine Entscheidung über die sofortigen Beschwerden des Angeklagten ist nicht mehr erforderlich. Denn ist zum Zeitpunkt der Zurücknahme eines Rechtsmittels über eine Beschwerde noch nicht entschieden, werden durch die Zurücknahme weitere Entscheidungen zu seiner Zulässigkeit gegenstandslos (vgl. BGH NStZ 1998, 52). Für die Entscheidung über eine Wiedereinsetzung gilt das gleiche; die Zurücknahme des Rechtsmittels schließt die Möglichkeit der Wiedereinsetzung aus (vgl. BGH NJW 1997, 2691; NStZ 1999, 526; 1995, 356; Paul a.a.O., § 302 Rdn. 15).
IV.
Eine Kostenentscheidung ist dem Berufungsgericht vorbehalten, denn dafür ist das Gericht zuständig, das im Zeitpunkt der Zurücknahme des Rechtsmittels mit der Sache befasst war (vgl. OLG Jena, Beschluss vom 20. März 2007 - 1 Ws 98/07 -, juris; Gieg in KK-StPO 8.
Einsender: RiKG U. Sandherr, Berlin
Anmerkung:
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