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Entscheidungen

OWi

Wirtschaftliche Verhältnisse, Geldbuße, Schwellenwert, Urteilsgründe

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Brandenburg, Beschl. v. 17.03.2020 - (1 B) 53 Ss-OWi 110/20 (70/20)

Leitsatz: Die Wertgrenze einer nicht mehr “geringfügigen Ordnungswidrigkeit“, die die Erörterung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse erfordert, ist Anlehnung an die für die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde maßgebliche Wertgrenze (§ 79 Abs. 1 Nr. 1 OWiG) bei über 250,00 EUR anzunehmen.


In pp.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Amtsgerichts Neuruppin vom 2. Dezember 2019 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Neuruppin zurückverwiesen.

Gründe

I.
Die Zentrale Bußgeldstelle des Zentraldienstes der Polizei des Landes Brandenburg hat gegen den Betroffenen mit Bußgeldbescheid vom 29. August 2018 wegen der Ordnungswidrigkeit des Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um mindestens 44 km/h, die mit dem Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen pp. am pp. Juni 2018 gegen pp. Uhr auf der Bundesautobahn 24 bei km pp. in Fahrtrichtung R pp., begangen worden sein soll, ein Bußgeld in Höhe von 225,00 € festgesetzt sowie ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat unter Einräumung der Gestaltungsmöglichkeit nach § 25 Abs. 2a StVG angeordnet. Gegen diesen Bußgeldbescheid hat der Beschwerdeführer form- und fristgerecht Einspruch eingelegt.

Ohne Ankündigung und ohne dass die Voraussetzungen dafür vorgelegen haben, hat das Amtsgericht Neuruppin mit Beschluss vom 2. Dezember 2019, der überdies keine Gründe enthält, den Tatvorwurf der Ordnungswidrigkeit aus dem Bußgeldbescheid offenbar für gegeben erachtet und gegen den Betroffenen wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 44 km/h auf eine Geldbuße von 450,00 erkannt. Das im Bußgeldbescheid erkannte Fahrverbot bleibt jedoch unerwähnt.

Gegen diese, dem Verteidiger des Betroffenen am 11. Dezember 2019 zugestellte Entscheidung hat der Betroffene mit dem bei Gericht am 17. Dezember 2019 eingegangenen Anwaltsschriftsatz Rechtsbeschwerde eingelegt und diese zugleich mit der Verletzung materiellen Rechts begründet.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat in ihrer Stellungnahme vom 19. Februar 2020 beantragt, den Beschluss des Amtsgerichts Neuruppin vom 2. Dezember 2019 aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Neuruppin zurückzuverweisen.

II.

Der Senat entscheidet entsprechend dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg.

1. Gegen den Beschluss nach § 72 OWiG ist die Rechtsbeschwerde gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthaft sowie form- und fristgerecht erhoben worden.

2. In der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.

Der angefochtene Beschluss ist auf die erhobene Sachrüge hin – unabhängig davon, dass er auch den nach § 72 Abs. 6 Satz 2 OWiG erforderlichen Hinweis auf den Inhalt des Bußgeldbescheids nicht enthält – schon deshalb aufzuheben, weil er die nach § 72 Abs. 4 Sätze 3 bis 5 OWiG vorgeschriebene Begründung nicht enthält. Danach muss die Begründung eines Beschlusses nach § 72 OWiG, mit dem eine Geldbuße festgesetzt wird, im Wesentlichen den Anforderungen genügen, die gemäß § 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 267 Abs.1 Sätze 1 und 2, Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StPO an die Begründung eines nicht freisprechenden Urteils gestellt werden (vgl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 15.10.2019 - Ss Bs 59/2019 (62/19 OWi) m.w.N.).

Das Fehlen von Gründen in einem Strafurteil zwingt in der Regel schon zur Urteilsaufhebung auf die Sachrüge hin (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 338 Rn. 52 m. w. N.). Auch ein Bußgeldurteil ist beim unzulässigen Fehlen von Urteilsgründen in der Regel schon auf die zulässig erhobene Sachrüge hin aufzuheben, weil dem Rechtsbeschwerdegericht in diesem Fall eine Nachprüfung auf sachlich-rechtliche Fehler nicht möglich ist (vgl. OLG Saarbrücken aaO. m.w.N.; OLG Celle NZV 2012, 45 ff.; OLG Bamberg, Beschluss vom 10.11.2011 - 3 Ss OWi 1444/11) . Ebenso unterliegt ein nach § 72 OWiG ergangener Beschluss beim Fehlen einer Begründung auf eine zulässig erhobene Sachrüge hin der Aufhebung im Rechtsbeschwerdeverfahren, wenn die Voraussetzungen für das Absehen von einer Begründung nach § 72 Abs. 6 Satz 1 OWiG nicht vorlagen, etwa weil - wie hier - nicht alle Verfahrensbeteiligten hierauf verzichtet haben.

c) Für die neue Entscheidung weist der Senat drauf hin, dass – ungeachtet der Tatsache, dass das Absehen von dem indizierten Fahrverbot trotz der Ausführungen im Anwaltsschriftsatz vom 21. August 2018 nicht nachvollziehbar ist – bei einer Geldbuße von mehr als 250,00 € gemäß § 17 Abs. 3 OWiG Ausführungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen erforderlich sein dürften.

Auch wenn an die Urteilsgründe in Ordnungswidrigkeitsverfahren keine hohen Anforderungen zu stellen sind, sind Ausführungen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen nur bei geringfügigen Geldbußen entbehrlich (§ 17 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz OWiG). Zu den persönlichen (Unterhaltsverpflichtungen) und wirtschaftlichen Verhältnissen gehören die Umstände, die geeignet sind, die Fähigkeit des Täters zu beeinflussen, eine bestimmte Geldbuße aufzubringen. Enthält der Beschluss bei einer nicht nur geringfügigen Ordnungswidrigkeit keine oder nur unzureichende Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen, sind die Zumessungserwägungen materiell-rechtlich unvollständig und können der Aufhebung unterliegen (st. Senatsrechtsprechung, vgl. Senatsbeschluss vom 16. März 2012, 1 Ss (OWi) 71 B/12; Senatsbeschluss vom 30. März 2012, 1 Ss (OWi) 76 B/12; Senatsbeschluss vom 18. April 2012, 1 Ss (OWi) 81 B/12).

Die Wertgrenze einer nicht mehr “geringfügigen Ordnungswidrigkeit“, die die Erörterung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse erfordert, wird durch die überwiegende Mehrheit der Oberlandesgerichte in Anlehnung an die für die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde maßgebliche Wertgrenze (§ 79 Abs. 1 Nr. 1 OWiG) bei über 250,00 Euro angenommen (vgl. OLG Celle NJW 2008, 3079; OLG Jena VRS 110, 443, 446; OLG Jena VRS 113, 351; OLG Köln ZfSch 2006, 116; OLG Düsseldorf NZV 2000, 426; OLG Düsseldorf NZV 2008, 161; KG VRS 111, 202; OLG Bamberg GewArch 2007, 389, 390; BayObLG DAR 2004, 594; OLG Zweibrücken NZV 1999, 219; OLG Zweibrücken NZV 2002, 97; Senatsbeschluss vom 8. Juni 2010, 1 Ss (OWi) 109 B/10; Senatsbeschluss vom 16. März 2012, 1 Ss (OWi) 71 B/12; Senatsbeschluss vom 30. März 2012, 1 Ss (OWi) 76 B/12; Senatsbeschluss vom 18. April 2012, 1 Ss (OWi) 81 B/12, siehe auch Göhler, OWiG, 17. Aufl. § 17 Rn. 24; eine Mindermeinung setzt die Wertgrenze mit Blick auf § 80 Abs. 2 OWiG schon bei 100,00 € an: vgl. OLG Düsseldorf VRS 97, 214; OLG Hamm VRS 92, 40; OLG Hamm SchlHA 2004, 264).

Zu einer Schätzung der Einkommensverhältnisse oder zur Annahme durchschnittlicher Vermögensverhältnisse kann das Tatgericht jedoch dann kommen, wenn der Betroffene Angaben zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen verweigert oder das Gericht den Angaben dazu keinen Glauben schenken kann. In diesen Fällen dürfte in den Vordergrund rücken, dass den Bußgeldkatalogen durchschnittliche wirtschaftliche Verhältnisse der Betroffenen zu Grunde liegen (vgl. Göhler, aaO., § 17 Rn. 29 m.w.N.).

3. Aufgrund der teils gravierenden Rechtsfehler macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache gemäß § 79 Abs. 6 OWiG an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Neuruppin zurückzuverweisen.


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