Gericht / Entscheidungsdatum: LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 04.05.2020 - JK II Qs 15/20 jug
Leitsatz: Zur nachträglichen Bestellung eines Pflichtverteidigers nach neuem Recht.
Landgericht Nürnberg-Fürth
JK II Qs 15/20 jug
In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.
Rechtsanwalt Heinz Franz, Fahrradstraße 1 1, 90429 Nürnberg
wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes
erlässt das Landgericht Nürnberg-Fürth - Jugendkammer II - durch die unterzeichnenden Richter am 4. Mai 2020 folgenden Beschluss
I. Der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 10.03.2020 (58 Gs 2578/20) wird aufgehoben.
Il. Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt Franz Heinz, Fahrradstraße 11, 90429 Nürnberg, als notwendiger Verteidiger gemäß S 140 Abs. 2 StPO beigeordnet.
III. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
Am 08.07.2019 teilte das Kreisjugendamt Neumarkt der PI Neumarkt mit, dass der Beschwerdeführer am 08.05.2019 mehrmals mit seiner damals 13-jährigen Freundin Geschlechtsverkehr gehabt habe. Diese Information hatte das Kreisjugendamt vom Kinder- und Jugendpsychotherapeuten erlangt, der behandelte.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht Nürnberg (58 Gs 8104/19) am 14.08.2019 einen Beschluss zur Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten, um dessen Mobiltelefon sicherzustellen. Bevor der Beschluss vollzogen wurde, wurde der Beschwerdeführer am 30.08.2019 am Volksfest in Nürnberg angetroffen und sein Mobiltelefon sichergestellt.
In ihrer polizeilichen Zeugenvernehmung vom 09.09.2019 bestritt pp. den Tatvorwurf.
Mit Schriftsatz vom 27.07.2019 zeigte sich Rechtsanwalt pp. als Verteidiger des Beschwerdeführers an und beantragte Akteneinsicht.
Mit Schriftsatz vom 27.08.2019 erklärte er, dass sein Mandant derzeit keine Angaben machen werde. Weiterhin beantragte er, als Pflichtverteidiger bestellt zu werden und die Akten zur Entscheidung dem Amtsgericht zuzuleiten.
Mit Schriftsatz vom 10.10.2019 beantragte er die Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO und erinnerte an seinen Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung.
Bei der zwischenzeitlich erfolgten Auswertung des Mobiltelefons des Beschwerdeführers wurden keine gespeicherten Chatverläufe festgestellt.
Am 25.11.2019 kündigte pp. an, dass sie nun doch gegen den Beschwerdeführer aussagen wolle und hierzu Belastendes auf ihrem Mobiltelefon zeigen könne. Am 09.12.2019 teilte die Mutter von mit, dass sie keine weitere Vernehmung ihrer Tochter erlaube.
Mit Schriftsatz vom 11.12.2019 beantragte der Verteidiger erneut, das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO einzustellen und erinnerte abermals an seinen Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung. Für den Fall der Beiordnung lege er sein Mandat als Wahlverteidiger nieder.
Mit Verfügung vom 21.02.2020 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Beschwerdeführer mangels Tatnachweises nach § 170 Abs. 2 StPO ein.
Mit Schriftsatz vom 02.03.2020 bat der Verteidiger erneut um Vorlage der Akten an das Amtsgericht wegen seines Antrags auf Pflichtverteidigerbestellung.
Mit Verfügung vom 04.03.2020 legte die Staatsanwaltschaft die Akten dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Nürnberg mit der Stellungnahme vor, dass die Voraussetzungen für den Pflichtverteidigerantrag vorliegen würden.
Mit Beschluss vom 10.03.2020 lehnte das Amtsgericht Nürnberg den Antrag des Verteidigers ab, da eine rückwirkende Beiordnung unzulässig und unwirksam sei.
Hiergegen legte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 20.03.2020 Beschwerde ein, der das Amtsgericht Nürnberg nicht abhalf.
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth beantragt, die Beschwerde des Angeklagten als unbegründet zu verwerfen.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
a) Zwar hat der nicht beigeordnete Rechtsanwalt kein eigenes Beschwerderecht (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 141/10). Die Beschwerde des Verteidigers ist aber als Beschwerde im Namen des ehemals Beschuldigten auszulegen (OLG Saarbrücken 13.1.2009 1 Ws 212/08, StraFo 2009, 519).
b) Der Beschwerdeführer ist durch den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 10.03.2020 beschwert, weil ihm - anders als nach der bisherigen Rechtslage, nach der er im Ermittlungsverfahren nur einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft anregen konnte; BGH NJW 2015, 3383 ff. - durch die mit Wirkung zum 13.12.2019 erfolgte Gesetzesänderung nunmehr ein Antragsrecht hinsichtlich der Pflichtverteidigerbestellung zusteht (§ 141 Abs. 1 S. 1 StPO).
Für die Entscheidung maßgebend ist die am 13.12.2019 in Kraft getretenen Neufassung des Rechts der Pflichtverteidigung. Mangels Übergangsregelung ist die Neufassung des Gesetzes auf bereits anhängige Ermittlungsverfahren anzuwenden.
Die Beschwer ist auch nicht dadurch entfallen, dass das Ermittlungsverfahren mittlerweile nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt ist und die Beiordnung rückwirkend erfolgen muss. Zwar hat die obergerichtliche Rechtsprechung (anders als ein Großteil der Landgerichte, vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a. a. O. § 141/8) bisher die Auffassung vertreten, dass eine nachträgliche Bestellung eines Verteidigers nicht möglich ist, weil die Beiordnung nicht im Kosteninteresse des Angeklagten erfolgt, sondern allein dem im öffentlichen Interesse liegenden Zweck dient, in einem noch ausstehenden Verfahren die ordnungsgemäße Verteidigung und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten (BGH Beschlüsse vom 20.07.2009 1 StR 344/08 und 19.12.1996 1 StR 76/96, OLG Hamm Beschluss vom 10.07.2008 4 Ws 181/08) und im Falle einer bestehenden Wahlverteidigung darauf verwiesen, dass der Beschuldigte zuvor tatsächlich durch einen Verteidiger vertreten war (BGH Beschluss vom 27.04.1989 1 StR 627/88). Ob an dieser Begründung nach Schaffung eines Antragsrechts für den Beschuldigten festgehalten werden kann, ist obergerichtlich noch nicht entschieden.
Die Kammer schließt sich jedenfalls in der vorliegenden Fallkonstellation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass das ausdrücklich statuierte Unverzüglichkeitsgebot des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO n. F. missachtet wurde, die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung zum Zeitpunkt der Antragstellung offensichtlich vorgelegen haben und das Verfahren nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, weil ein nach § 170 -Abs. 2 StPO eingestelltes Ermittlungsverfahren jederzeit wiederaufgenommen werden kann, der Auffassung an, dass eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung möglich ist.
2. Die Beschwerde ist auch begründet.
Nach § 141 Abs. 1 StPO n. F. wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn er dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Diese Voraussetzungen liegen vor.
aa) Ein Fall der notwendigen Verteidigung ist zumindest nach § 140 Abs. 2 StPO n. F. gegeben. Danach ist u. a. dann ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Vorliegend stand im neuen Ermittlungsverfahren eine Straferwartung von über 1 Jahr Freiheitsstrafe im Raum, nachdem § 176 Abs. 1 StGB einen Strafrahmen mit erhöhter Mindeststrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren vorsieht und der Beschwerdeführer unter einschlägiger Bewährung steht. Zudem drohten dem Beschwerdeführer im Falle einer erneuten, zudem einschlägigen Verurteilung der Widerruf zweier Strafaussetzungen zur Bewährung mit einer zu verbüßenden Reststrafdauer von insgesamt mehr als 1 Jahr 6 Monaten. Denn das Amtsgericht Nürnberg hatte gegen den Beschwerdeführer mit Urteil vom 29.03.2017 eine Jugendstrafe von 2 Jahren verhängt, deren Strafrest zur Bewährung ausgesetzt ist, und mit Urteil vom 08.05.2019 eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr 6 Monaten zur Bewährung verhängt.
bb) Am 13.12.2019 lag ein bereits mehrfach wiederholter Antrag des Wahlverteidigers auf Bestellung zum Pflichtverteidiger vor.
cc) Dem Fehlen eines Verteidigers steht der Fall gleich, dass der Wahlverteidiger - wie vorliegend die Niederlegung seines Mandats für den Fall seiner Bestellung als Pflichtverteidiger angekündigt hat (BeckOK StPO/Krawczyk, 36. Ed. 1.1.2020, StPO § 141 Rn. 2).
dd) Ob eine Kenntniserlangung vom Tatvorwurf auf andere Weise als durch Eröffnung des Tatvorwurfs ausreicht (hierzu BeckOK StPO/Krawczyk, 36. Ed. 1.1.2020, StPO § 141 Rn. 4), kann dahinstehen. Der Eröffnung des Tatvorwurfs steht jedenfalls der - hier gegebene - Fall gleich, dass es zu einer förmlichen Beschuldigtenvernehmung nicht kommt und die Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten über seinen Wahlverteidiger Akteneinsicht gewährt.
Soweit nach § 141 Abs. 2 S. 3 StPO die Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen, sowie ausweislich des Akteninhalts nach dem 13.12.2019 (als aktenkundig wurde, dass die Eltern der mutmaßlich Geschädigten einer Zeugeneinvernahme ihrer Tochter nicht zustimmen) keine weiteren Ermittlungsmaßnahmen erfolgt sind, bezieht sich die genannte gesetzliche Regelung dem Wortlaut und der systematischen Stellung nach nicht auf den - hier gegebenen - Fall der Antragstellung durch den Beschuldigten nach Abs. 1, sondern nur auf den Fall der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen nach Abs. 2 S. 1 Nrn. 2 und 3.
b) Die Kammer bestellt den Wahlverteidiger als Pflichtverteidiger. Gründe, die dessen Bestellung gemäß § 142 Abs. 5 Satz 3 StPO n. F. entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. Mit Schriftsatz vom 11.12.2019 erklärte er bereits, dass die Wahlverteidigung mit der Beiordnung enden solle.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 3 StPO analog.
Einsender: RA H. Franz, Nürnberg
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