Gericht / Entscheidungsdatum: LG Augsburg, Beschl. v. 18.02.2020 J Qs 51/20 jug
Leitsatz: Bei den Akten befindliche Datenkopien von Videoaufzeichnungen des vermutlichen Tatgeschehens sind Aktenbestandteile, die nicht dem Besichtigungsrecht von Beweisstücken, sondern dem Akteneinsichtsrecht unterfallen.
Landgericht Augsburg
J Qs 51/20 jug
In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.
wegen Beihilfe zum Totschlag
erlässt das Landgericht Augsburg - Jugendkammer - durch die unterzeichnenden Richter am 18. Februar 2020 folgenden
Beschluss
1. Auf die Beschwerde des Beschuldigten pp. gegen den Beschluss des Amtsgerichts Augsburg vorn 24.01.2020 wird dieser aufgehoben.
2. Dem Verteidiger Rechtsanwalt pp. ist Akteneinsicht in die dem Gericht vorgelegten Videoaufzeichnungen durch Übersendung eines Datenträgers zu gewähren.
Der Verteidiger ist hierbei gen § 32f Abs. 5 S. 4 StPO darauf hinzuweisen, dass er die Daten nach Abschluss des Verfahrens zurückzugeben hat und diese nicht vervielfältigen, weder ganz noch teilweise öffentlich verbreiten oder sie Dritten zu verfahrensfremden Zwecken übermitteln oder zugänglich machen darf. Personenbezogene Daten darf er nur zu dem Zweck verwenden, für den die Akteneinsicht gewährt wurde.
3. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Gründe:
Mit Schreiben vom 11.12.2019 (BI. 214 d.A.) beantragte der Verteidiger des Beschuldigten pp. Rechtsanwalt pp., Akteneinsicht durch Übersendung oder Übergabe der Akte.
Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Augsburg vom 13.12.2019 (BI. 275 d.A.) wurde allen Verteidigern Akteneinsicht gewährt mit dem Hinweis, dass die Videos (CD nach BI. 85 d.A.) in den Räumlichkeiten der Kriminalpolizeiinspektion Augsburg nach telefonischer Rücksprache in Augenschein genommen werden können.
Mit Schreiben vom 30.12.2019 (BI. 637 d.A.) beantragte Rechtsanwalt pp. eine gerichtliche Entscheidung dahingehend, dass die Staatsanwaltschaft Augsburg angewiesen wird, Akteneinsicht auch im Hinblick auf sämtliche Datenträger mit Videoaufzeichnungen in Form der Mitgabe an den Verteidiger zu gewähren.
Die Staatsanwaltschaft Augsburg beantragte mit Schreiben vom 21.01.2020 (B. 665 d.A.), den Antrag als unstatthaft und damit unzulässig zurückzuweisen. Hilfsweise sprach sie sich auch in der Sache gegen eine Übersendung der Videoaufzeichnungen aus. Dies käme allenfalls bei sehr hohen Datenmengen umfangreicher Aufzeichnungen in Betracht, außerdem stünden datenschutzrechtliche Belange betroffener Dritter entgegen.
Mit Beschluss vom 24.01.2020 (BI. 668 d.A.) wies das Amtsgericht Augsburg - Ermittlungsrichter - den Antrag des Verteidigers vom 30.12.2019 als unzulässig, da unstatthaft, zurück und schloss sich den Ausführungen der Staatsanwaltschaft an.
Gegen den Beschluss wurde mit Schreiben vom 31.01.2020, eingegangen beim Amtsgericht Augsburg am 03.02.2020, Beschwerde eingelegt (BI. 744 d.A.).
Der Beschwerde hat das Amtsgericht Augsburg nicht abgeholfen (BI. 751 d.A.).
1. Die Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft und auch sonst zulässig, §§ 147 Abs. 5 S. 2, 306 Abs. 1 StPO.
Es liegt der Fall des § 147 Abs. 5 S. 2 StPO vor. Der Beschuldigte befindet sich in Untersuchungshaft in dem Verfahren, in dessen Akten er die Einsichtnahme begehrt und damit nicht auf freiem Fuß. In diesem Fall wird der Antrag auf gerichtliche Entscheidung zugelassen (Meyer-Goßner, StPO, 62. Aufl. 2019, § 147, Rn. 39). Um eine effektive Verteidigung die eine eigenständige Be- und Verwertung von Ermittlungsergebnissen beinhaltet zu ermöglichen, bedarf es zur Beurteilung des Tatverdachts in der Regel einer vollständigen Akteneinsicht (MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, 1. Aufl. 2014, StPO § 147 Rn. 27-28).
Bei den bei den Akten befindlichen Datenträgern und den darauf gespeicherten Daten handelt es sich nicht um nicht herausgabefähige Beweisstücke i.S.d. § 147 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 StPO. Sie stellen verkörperte Kopien dar, die nicht - aus Gründen des Substanz- und Integritätsschutzes von Beweisstücken - dem Mitgabeverbot unterliegen (vgl. hierzu Wettley/Nöding, NStZ 2016, 633, 634 m.w.N.). Durch die Übergabe des Datenträgers an das Gericht wurde dieser vielmehr Bestandteil der Akte (vgl. nur Meyer-Goßner, § 147 Rn. 19c). Solche bei den Akten befindliche Datenkopien sind demnach Aktenbestandteile, die nicht dem Besichtigungsrecht von Beweisstücken, sondern dem Akteneinsichtsrecht unterfallen.
§ 32 f Abs. 3 StPO steht nicht entgegen, da unter den hier vorliegenden Umständen nicht lediglich die Art und Weise der Akteneinsicht betroffen ist, sondern faktisch bereits das Ob" der vollständigen Gewährung von Akteneinsicht.
Denn ist das Vorspielen der Ton- und/oder Filmaufnahmen zur Informationsvermittlung nicht ausreichend, hat der Verteidiger einen Anspruch auf Herstellung einer amtlich gefertigten Kopie des Video- oder Tonbandes oder des Films (OLG Frankfurt am Main StV 2001, 611; Köllner StraFo 1995, 50 m.w.N.; BeulkeNVitzigmann StV 2013, 75 in der Anm. zu OLG Karlsruhe NJW 2012, 2742; vgl. auch BayObLG NJW 1991, 1070 und OLG Koblenz NStZ 2001, 584). Ein solcher Fall liegt hier vor. Denn trotz der eher kurzen Dauer der Videoaufzeichnungen von der Tat haben diese, u.a. aufgrund der mehrfachen Vergrößerung, eine derart schlechte Qualität, dass ein reines Besichtigungsrecht der originär bei der Polizei gespeicherten Daten zu Informationszwecken, insbesondere zur vollständigen Erfassung des Geschehensablaufs, aufgrund seiner erheblichen Dynamik, der Dunkelheit und der Anzahl der beteiligten Personen vernünftigerweise vor Ort" nicht ausreicht.
2. Das Rechtsmittel ist darüber hinaus auch begründet. Die Aushändigung und Mitgabe der (jeweiligen) Datenträger-Kopie an die Verteidiger begegnet vorliegend keinen rechtlichen Bedenken.
a) Rechte Dritter stehen der Herausgabe der Datenträger-Kopie nicht entgegen. § 32 f Abs. 2 S. 3 StPO lässt die Aushändigung und Mitgabe von Akten und Aktenbestandteilen nur zu, wenn nicht wichtige Gründe dem entgegenstehen.
Persönlichkeits- und Datenschutzrechte Dritter stellen in der Regel keine derartigen Ausschluss-gründe dar. Dies zeigt bereits ein systematischer Vergleich zu der Vorschrift des § 147 Abs. 4 StPO. Einem nichtverteidigten Beschuldigten sind Auskünfte und Abschriften aus der Akte nur zu erteilen, wenn - u.a. - überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter nicht entgegenstehen. Zu-dem dürfen die Akten dem Beschuldigten grundsätzlich nicht überlassen werden, wie sich aus einem Vergleich mit der für Rechtsanwälte geltenden Regelung des § 32f Abs. 2 StPO ergibt. Die Einschränkung der entgegenstehenden schutzwürdigen Interessen Dritter dient ausweislich der Gesetzesbegründung der Wahrung der Intimsphäre Dritter" (BT-Dr. 14/1484, 22). Bei Gewährung von Akteneinsicht an einen Verteidiger hat der Gesetzgeber von dieser Einschränkung hin-gegen bewusst abgesehen. Der nur für unverteidigte Beschuldigte geltende Verweis auf den datenschutzrechtlichen Zweckbindungsgrundsatz des § 477 Abs. 2 StPO erübrigt sich ausweislich der Gesetzesbegründung für den Verteidiger, da sich für diesen die Zweckbindung der Akteneinsicht bereits aus der Aufgabe der Verteidigung und der besonderen Stellung des anwaltlichen Verteidigers, eines Organs der Rechtspflege, ergebe und sich in ihrem Inhalt an diesen Kriterien orientiere (BT-Dr. 14/1484, 22).
Maßgeblich ist hier jedoch, dass es sich - anders als in den sonst vorliegenden verfahrensgegenständlichen Fällen - nicht um Ton- oder Videoaufzeichnungen aus dem geschützten Raum im Rahmen einer TKÜ-Maßnahme, sondern um eine Videoaufzeichnung im öffentlichen Raum handelt, auf die zudem durch zahlreiche Schilder explizit hingewiesen wird und alle Betroffenen daher auch zum jetzigen Zeitpunkt bereits Kenntnis von der Überwachung und Aufzeichnung haben.
b) Eine weitergehende Eingriffsvertiefung" ist bei Mitgabe an den Verteidiger nicht zu befürchten, da dieser lediglich an einem anderen Ort von seinem ohnehin bestehenden Einsichtsrecht Gebrauch macht. Die Gefahr einer unkontrollierten Weitergabe an Dritte besteht bei Verteidigern als Organen der Rechtspflege - nicht (so auch KG, Beschluss vom 15. März 2015 - 2 StE 14/15, Rn. 11 für dem Gericht bekannte Verteidiger); im Übrigen beugt auch das Standesrecht dem vor, vgl. §§ 19 BORA, 43, 43a BRAO. Schließlich würde sich eine etwaige Gefahr der unkontrollierten Weitergabe von Akteninhalten auch bei - unstreitig an den Verteidiger zu übersendenden - schriftlichen Aktenbestandteilen nicht verneinen lassen. Die in § 101 Abs. 8 S. 1 StPO statuierte Verpflichtung zur Löschung der gewonnenen Daten wird durch die Aushändigung an den Verteidiger ebenfalls nicht vereitelt, denn dieser ist als Organ der Rechtspflege auch ohne besonderen Hin-weis oder vorheriger Verpflichtungserklärung verpflichtet, die erhaltenen Datenträger (und eventuell angefertigte Kopien) an das Gericht zurückzugeben. Darüber hinaus gelten nunmehr für die Akteneinsicht des Verteidigers zudem die Vorschrift des § 32 f Abs. 5 StPO, welche diese Verpflichtungen des Verteidigers explizit regelt.
Anhaltspunkte dafür, dass die Verteidiger mit den Daten unsachgemäß oder rechtswidrig umgehen werden, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
In diesem Zusammenhang ist zudem zu berücksichtigen, dass dem Verteidiger auch im Falle der Inaugenscheinnahme der Dateien in Räumen der Justizverwaltung das Recht zusteht, Aufzeichnungen zu fertigen oder Lichtbilder herzustellen (vgl. Meyer-Goßner, § 147 Rn. 19 m.w.N.). Daher wäre auch in diesem Falle die Beeinträchtigung der Rechte Dritter durch Verbreitung der Daten niemals völlig auszuschließen.
c) Darüber hinaus bestünde hier, worauf die Verteidigung zu Recht hinweist, bei bloßer Zugänglichmachung der Tonaufnahmen in den Räumen der KPI Augsburg ein dem Grundsatz des fairen Verfahrens zuwiderlaufendes Defizit auf Seiten der Verteidigung bei der Möglichkeit zur Kenntnisnahme der für sie notwendigen Informationen. Diese läge nicht nur in einer räumlich und zeitlich begrenzten, sondern auch gegenüber Gericht und Staatsanwaltschaft unterlegenen Möglichkeit zur Kenntnisnahme. Dies umso mehr, als zwei gerichtliche Instanzen aufgrund der Auswertung des Videomaterials zu unterschiedlichen Bewertungen der Haftfrage gekommen sind, wobei jedenfalls die Jugendkammer sich ein Bild nur aufgrund stundenlanger Wiederholungen des Abspielvorgangs über Tage hinweg machen konnte.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO analog.
Einsender: RA W. Ruisinger, Augsburg
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