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Entscheidungen

Haftfragen

Lockerungen im Strafvollzug, Entlassungsperspektive., Verfassungsbeschwerde

Gericht / Entscheidungsdatum: BVerfG, Beschl. v. 18.09.2019 - 2 BvR 1195/15

Leitsatz: 1. Eine Strafvollstreckungskammer verkennt Bedeutung und Tragweite des Resozialisierungsanspruchs des Strafgefangenen, wenn sie die Gewährung von Vollzugslockerungen erst dann für geboten erachtet, wenn der Gefangene Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation aufweist. Dasselbe gilt, wenn das Gericht die Annahme einer Missbrauchs- und Fluchtgefahr ungeprüft von der Justizvollzugsanstalt übernimmt, obwohl es insoweit an aktuellen Erkenntnissen fehlt und die Anstalt überdies bereits die Überstellung des Gefangenen in den offenen Vollzug vorbereitet.
2. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf eine Resozialisierung des Gefangenen auszurichten. Besonders bei langjährig Inhaftierten ist es erforderlich, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und die Lebenstüchtigkeit des Betroffenen in Freiheit zu erhalten und zu festigen.
3. Die Versagung von Vollzugslockerungen nach mehrjährigem Freiheitsentzug berührt den grundrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruch des Strafgefangenen. Sie darf nicht auf lediglich abstrakte Wertungen gestützt werden. Vielmehr sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung konkrete Anhaltspunkte darzulegen, die geeignet sind, eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu begründen.
4. Bei langjährig Inhaftierten können auch ohne Bestehen einer konkreten Entlassungsperspektive zumindest Lockerungen in Form von Ausführungen verfassungsrechtlich geboten sein, bei denen die Justizvollzugsanstalt einer angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt. Verfassungsrechtlich unzulässig ist dabei die Erwägung, bei entsprechenden Maßnahmen wie etwa einer verdeckten Fesselung entspreche die Ausführung nicht dem realen Erleben und verfehle ihren Zweck.
5. Die Versagungsgründe der Flucht- und Missbrauchsgefahr eröffnen der Vollzugsbehörde bei ihrer Prognoseentscheidung einen Beurteilungsspielraum. Gleichwohl haben die Vollstreckungsgerichte den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat.


In pp.

Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Hamm vom 9. Mai 2019 - III - 1 Vollz(Ws) 92/19 - und des Landgerichts Bielefeld vom 15. Januar 2019 - 101 StVK 4188/18 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird zur Entscheidung über die Kosten an das Landgericht Bielefeld zurückverwiesen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährung von Ausführungen zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit des strafgefangenen Beschwerdeführers.

I.

1. Der Beschwerdeführer verbüßt seit dem 29. Januar 2015 eine zeitige Freiheitsstrafe von zwölf Jahren wegen Totschlags in der Justizvollzugsanstalt … und befand sich zuvor, vom 27. Februar 2012 bis zum 28. Januar 2015, in Untersuchungshaft. Zwei Drittel der Freiheitsstrafe werden am 26. Februar 2020 vollstreckt sein. Das Strafende ist auf den 26. Februar 2024 notiert.

2. Unter dem 7. Mai 2018 beantragte der Beschwerdeführer bei der Justizvollzugsanstalt eine erste Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit. Dies lehnte die Justizvollzugsanstalt unter dem 19. Juni 2018 mit der Begründung ab, dass der Beschwerdeführer keine Anzeichen einer drohenden Einschränkung der Lebenstüchtigkeit zeige und dessen Verlegung in den offenen Vollzug in Bearbeitung sei. Das Landgericht hob auf Antrag des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 27. September 2018 den Bescheid der Justizvollzugsanstalt auf, soweit dem Beschwerdeführer hierin Ausführungen versagt wurden, und verpflichtete sie zur Neubescheidung. Es führte aus, gemäß § 53 Abs. 3 Strafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen (StVollzG NRW) seien langjährig in Vollzug befindlichen Gefangenen Ausführungen zu gewähren, wenn weitergehende Vollzugsöffnungen nicht in Betracht kämen. Der Bescheid habe nicht erkennen lassen, dass die Justizvollzugsanstalt ihren Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage, ob weitergehende Lockerungen möglich seien, überhaupt ausgeübt habe.

3. Mit anwaltlichem Schreiben vom 23. Oktober 2018 beantragte der Beschwerdeführer unter Berufung auf den Beschluss des Landgerichts vom 27. September 2018 bei der Justizvollzugsanstalt, ihm in der 46. oder 47. Kalenderwoche des Jahres 2018 eine erste Ausführung und in der 12. beziehungsweise 13. Kalenderwoche des Jahres 2019 eine zweite Ausführung zu gewähren.

4. Die Justizvollzugsanstalt lehnte dies mit Bescheid vom 6. November 2018 ab. § 53 Abs. 3 StVollzG NRW greife die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf, wonach Ausführungen bei Gefangenen, die zu langen Freiheitsstrafen verurteilt worden seien, nicht erst dann zu gewähren seien, wenn sie bereits haftbedingte Depravationen aufwiesen, sondern bereits dann, wenn solche drohten. Dies werde in der Justizvollzugsanstalt anhand von Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation überprüft. Nach diesen Maßstäben weise der Beschwerdeführer keine Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten auf, zum Beispiel sei er in der Lage, Hilfestellungen anzunehmen, er sei mit dem Antragswesen vertraut, nehme an Behandlungsprogrammen teil, bewältige den Alltag selbstständig und verfüge über stabile Außenkontakte. Dementsprechend sei nicht zu vermuten, dass eine Einschränkung der Lebenstüchtigkeit drohe. Eine Ausführung habe zudem keinen behandlerischen Zweck, zumal der Beschwerdeführer über „ausreichende Kultur- und Lebenstechniken“ verfüge. Es werde dabei nicht verkannt, dass der Beschwerdeführer eine lange Haftstrafe zu verbüßen habe und sich bereits seit mehr als sechs Jahren im Vollzug befinde. Ferner sei es derzeit nicht vertretbar, den Beschwerdeführer ungefesselt auszuführen, weil er das Anlassdelikt seiner derzeitigen Freiheitsstrafe aus dem offenen Vollzug heraus begangen habe. Dies belege eine Missbrauchsgefahr bei Ausführungen. Eine Fesselung stehe aber dem Zweck der Ausführung entgegen. Überdies sei angesichts des Strafrests von über fünf Jahren auch eine Fluchtgefahr nicht auszuschließen.

5. Mit Anwaltsschreiben vom 21. November 2018 beantragte der Beschwerdeführer beim Landgericht Bielefeld, den Bescheid der Justizvollzugsanstalt vom 6. November 2018 aufzuheben und diese zu verpflichten, ihm für die 50. oder 51. Kalenderwoche beziehungsweise an Ausweichterminen in den ersten Kalenderwochen des Jahres 2019 eine Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit zu gewähren. Er führte aus, die Argumente der Justizvollzugsanstalt würden eine Versagung nicht tragen. Dass er die Lebenssituation im Vollzug bewältige, sei für Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit nicht von Relevanz. Eine etwaige Missbrauchsgefahr, die zur Versagung von Ausführungen herangezogen werde, müsse aus der aktuellen Situation heraus begründet werden. Außerdem sei die Situation des offenen Vollzugs nicht mit einer durch Justizvollzugsbeamte begleiteten Ausführung vergleichbar. Der Bescheid der Justizvollzugsanstalt verstoße insbesondere gegen das Resozialisierungsgrundrecht und den grundrechtlichen Schutz der Familie. Er sei unverhältnismäßig.

6. Mit angegriffenem Beschluss vom 15. Januar 2019 wies das Landgericht den Antrag des Beschwerdeführers zurück. Die Versagung einer ersten Ausführung durch die Justizvollzugsanstalt sei in rechtmäßiger Weise ergangen. Bei den Fragen, ob Vollzugsöffnungen verantwortet werden könnten und ob Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit drohten, sei der Justizvollzugsanstalt ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, den das Landgericht nur daraufhin überprüfen könne, ob die Anstalt von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen sei und den Spielraum eingehalten habe. Diese Überprüfung ergebe keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschwerdeführers. Der angegriffene Bescheid lasse in detaillierter Weise erkennen, welche Gründe für und gegen eine Ausführung sprächen. Eine drohende Beschränkung der Lebenstüchtigkeit sei mit nachvollziehbarer Argumentation abgelehnt worden. Die Justizvollzugsanstalt habe die verfassungsrechtlichen Anforderungen erkannt und durch die Anwendung der Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation berücksichtigt. Auch soweit sie meine, eine Ausführung sei aus Sicherheitsgesichtspunkten derzeit nicht vertretbar, habe sie ihren „Beurteilungsspielraum ausgeübt“. Nachvollziehbar sei zudem, dass die durch die Justizvollzugsanstalt als allein vertretbar angesehene gefesselte Ausführung nicht zur Zweckerreichung des Einübens von Kultur- und Lebenstechniken geeignet und demnach auch nicht geboten sei. Denn die sichtbare Fesselung schaffe eine psychische Hürde im Umgang mit Dritten, was einer Realerfahrung entgegenstehe. Auch die Darlegung der Missbrauchsgefahr sei nachvollziehbar. Gleiches gelte für die Annahme von Fluchtgefahr wegen des langen Strafrests.

7. Mit der mit anwaltlichem Schreiben erhobenen Rechtsbeschwerde vom 4. Februar 2019 verfolgte der Beschwerdeführer sein Rechtsschutzziel weiter. Er führte im Rahmen seiner Sachrüge aus, das Landgericht habe verkannt, dass es sich bei Ausführungen nicht um Lockerungen handele und auf Ausführungen ein subjektiver Anspruch bestehe. Auch verkenne das Gericht, dass die Versagungsentscheidung der Justizvollzugsanstalt nicht den gesetzlichen Grundlagen genüge. Das Landgericht habe lediglich den Vortrag der Justizvollzugsanstalt übernommen, wonach das Verhalten des Beschwerdeführers im Vollzug keinen Verlust der Lebenstüchtigkeit befürchten lasse. Das Bundesverfassungsgericht habe aber gerade festgestellt, dass Ausführungen nicht erst erfolgen sollen, wenn Anzeichen des Verlustes der Lebenstüchtigkeit festzustellen seien. Sie dienten vielmehr dem Zweck, diesen Anzeichen vorzubeugen. Soweit das Landgericht die Darlegungen zu Missbrauchs- und Fluchtgefahr pauschal als nachvollziehbar bewertet habe, weil der Beschwerdeführer die Anlasstat seinerzeit im offenen Vollzug begangen habe, gehe auch dies fehl. Insoweit werde darauf verwiesen, dass die Situation im offenen Vollzug nicht mit der bei begleiteten Ausführungen vergleichbar sei. Die Anlasstat habe der Beschwerdeführer im Jahr 2009 verübt. Daraus im Jahr 2019 eine Missbrauchs- und Fluchtgefahr herzuleiten, entspreche nicht den rechtlichen Anforderungen. Diese Erwägung rechtfertige auch keine Fesselungsanordnung. Abgesehen davon gebe es Fesselungsarten wie das Hamburger Modell, bei denen eine Einübung von Kultur- und Lebenstechniken trotz Fesselung möglich sei. Dass die Justizvollzugsanstalt auch sieben Jahre, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit in den Fokus gestellt habe, diese verdeckte Form der Fesselung nicht vorhalte, könne nicht dem Beschwerdeführer angelastet werden. Überdies habe die Anstalt dem Beschwerdeführer im Jahr 2018 ermöglicht, sich auf einen Gruppenausgang mit weiteren Inhaftierten zu bewerben. Zudem überprüfe sie ihrem eigenen Bekunden zufolge die Verlegung des Beschwerdeführers in den offenen Vollzug. Ihre Argumentation sei insoweit widersprüchlich. Festzustellen sei, dass der Antrag des Beschwerdeführers nur schleppend bearbeitet und am Ende verkannt worden sei, dass er die Anspruchsvoraussetzungen für Ausführungen erfülle. Er sei langjährig inhaftiert, arbeite aktiv an der Erreichung des Vollzugsziels mit und führe sich im Vollzug während seiner gesamten Inhaftierung beanstandungsfrei.

8. Mit angegriffenem Beschluss vom 9. Mai 2019, dem Beschwerdeführer am 27. Mai 2019 zugestellt, verwarf das Oberlandesgericht die Rechtsbeschwerde als unzulässig. Es sei nicht geboten, die Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Ergänzend führte es aus, drohende Beeinträchtigungen der Lebenstüchtigkeit als Voraussetzung von Ausführungen folgten nicht allein aus einer langen Haftdauer. Das Landgericht habe rechtsfehlerfrei ausgeführt, dass die Justizvollzugsanstalt beanstandungslos zu dem Ergebnis gekommen sei, dass Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit im Fall des Betroffenen derzeit nicht feststellbar seien und noch nicht im Sinne der zu § 53 Abs. 3 Satz 1 StVollzG NRW ergangenen Senatsrechtsprechung drohten, so dass die „Eingangsvoraussetzungen“ für einen Anspruch auf Gewährung von Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit nicht gegeben seien. Dementsprechend komme es nicht darauf an, dass Justizvollzugsanstalt und Landgericht in bedenklicher Weise darauf abgestellt hätten, dass eine gefesselte Ausführung dem Zweck der Maßnahme widerspreche, ohne mildere Maßnahmen wie die Hamburger Fesselung in Betracht zu ziehen.

II.

1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde vom 21. Juni 2019 rügt der anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 beziehungsweise Abs. 2 GG seines Resozialisierungsgrundrechts und der Rechtsschutzgarantie durch die angegriffenen Entscheidungen.

Er habe sich bereits in seinem Antrag bei der Justizvollzugsanstalt auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berufen, wonach Ausführungen bei Langzeitinhaftierten zu gewähren seien, um Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit vorzubeugen, also nicht erst, wenn solche Einschränkungen festzustellen seien. Dies mache er nun auch mit der Verfassungsbeschwerde geltend. Anderen Mitinhaftierten würden Ausführungen gewährt. Landgericht und Oberlandesgericht hätten die Versagung ausschließlich auf die Argumentation der Justizvollzugsanstalt gestützt und damit die erforderliche Aufklärung der Sach- und Rechtslage unterlassen. Sein beanstandungsfreies Verhalten im Vollzug lasse zudem keine Rückschlüsse darauf zu, dass er nicht doch in seiner Lebenstüchtigkeit eingeschränkt sei. Die Lebenstüchtigkeit beziehe sich nämlich nicht auf das Leben im Vollzug, sondern auf das Leben in Freiheit. Aus den Erzählungen seiner Kinder sei ihm bekannt, wie rasant sich das Leben in Freiheit in den letzten Jahren gewandelt habe. In der Justizvollzugsanstalt herrsche Verwahrvollzug und der Anstaltsleiter habe bereits mehrfach geäußert, dass allein er entscheide, welche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts er beachte.

2. Das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen hat unter dem 22. Juli 2019 von einer Stellungnahme im Verfassungsbeschwerdeverfahren abgesehen.

3. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die Annahme ist nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angezeigt.

1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit der Beschwerdeführer geltend macht, dass die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen gegen sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verstoßen. Die Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Resozialisierung.

a) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen (vgl. BVerfGE 116, 69 <85 f.> m.w.N.; stRspr). Besonders bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen erfordert dies, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 64, 261 <277>; 98, 169 <200>; 109, 133 <150 f.>; BVerfGK 17, 459 <462>; 19, 306 <315>; 20, 307 <312>; stRspr). Dabei greift das Gebot, die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen zu erhalten und zu festigen, nicht erst dann ein, wenn er bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweist (BVerfGK 19, 157 <165>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2015 - 2 BvR 1753/14 -, Rn. 27). Das Interesse des Gefangenen, vor den schädlichen Folgen aus der langjährigen Inhaftierung bewahrt zu werden und seine Lebenstüchtigkeit im Falle der Entlassung aus der Haft zu behalten, hat ein umso höheres Gewicht, je länger die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bereits andauert (vgl. BVerfGE 64, 261 <272 f.>; 70, 297 <315>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2015 - 2 BvR 1753/14 -, Rn. 27).

Androhung und Vollstreckung der Freiheitsstrafe finden ihre verfassungsrechtlich notwendige Ergänzung in einem sinnvollen Behandlungsvollzug (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 64, 261 <272 f.>; 109, 133 <150 f.>). Dementsprechend hat der Gesetzgeber dem Vollzug der Freiheitsstrafe ein Behandlungs- und Resozialisierungskonzept zugrunde gelegt (vgl. BVerfGE 117, 71 <91>). Der Wiedereingliederung des Gefangenen dienen unter anderem die Vorschriften über Vollzugslockerungen beziehungsweise vollzugsöffnende Maßnahmen (vgl. BVerfGE 117, 71 <92>). Durch diese Maßnahmen werden dem Gefangenen zudem Chancen eingeräumt, sich zu beweisen und zu einer günstigeren Entlassungsprognose zu gelangen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, Rn. 32). Erstrebt ein Gefangener diese Maßnahmen, so wird er durch deren Versagung in seinem durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse berührt (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, Rn. 32, und vom 26. Oktober 2011 - 2 BvR 1539/09 -, Rn. 17).

Gerade bei Gefangenen, die die Voraussetzungen für vollzugslockernde Maßnahmen im eigentlichen Sinne etwa wegen einer konkret bestehenden Flucht- oder Missbrauchsgefahr noch nicht erfüllen, dienen Ausführungen dem Erhalt und der Festigung der Lebensfähigkeit und -tüchtigkeit (vgl. BVerfGK 17, 459 <462>; 19, 306 <315 f.>; 20, 307 <312>). Bei langjährig Inhaftierten kann es daher, selbst wenn noch keine konkrete Entlassungsperspektive besteht, jedenfalls geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. September 2008 - 2 BvR 719/08 -, Rn. 3, und vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, Rn. 32). Der damit verbundene personelle Aufwand ist dann hinzunehmen (vgl. BVerfGK 17, 459 <462 f.>; 19, 306 <316>; 20, 307 <313>).

Aufgrund dieser Bedeutung darf sich eine Justizvollzugsanstalt, wenn sie vollzugslockernde Maßnahmen und Ausführungen versagt, nicht auf bloße pauschale Wertungen oder auf den Hinweis einer abstrakten Flucht- oder Missbrauchsgefahr beschränken. Sie hat vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren. Ob dies geschehen ist, hat die Strafvollstreckungskammer zu überprüfen (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>; dazu auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, Rn. 32 m.w.N.; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Mai 2018 - 2 BvR 287/17 -, Rn. 32).

Versagt die Justizvollzugsanstalt eine Vollzugslockerung unter Annahme einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr, prüfen die Fachgerichte im Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG, ob die Vollzugsbehörde die unbestimmten Rechtsbegriffe richtig ausgelegt und angewandt hat. Zwar verlangt der Versagungsgrund der Flucht- und Missbrauchsgefahr eine Prognoseentscheidung und eröffnet der Vollzugsbehörde einen - verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden - Beurteilungsspielraum, in dessen Rahmen sie bei Achtung der Grundrechte des Gefangenen mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind (vgl. BGHSt 30, 320 <324 f.>). Der Beurteilungsspielraum entbindet die Vollstreckungsgerichte indes nicht von ihrer rechtsstaatlich fundierten Prüfungspflicht (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 1998 - 2 BvR 1951/96 -, Rn. 20). Das Gericht hat dementsprechend den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde den zugrunde gelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt und damit eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>).

Legt das Strafvollstreckungsgericht seiner Entscheidung diesen Maßstab zugrunde, prüft das Bundesverfassungsgericht lediglich, ob das Strafvollstreckungsgericht der Vollzugsbehörde einen zu weiten Beurteilungsspielraum zugebilligt und damit Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruchs verkannt hat und ob die angegriffene Entscheidung unter Zugrundelegung des dargelegten fachgerichtlichen Maßstabs schlechthin nicht mehr nachvollziehbar ist und damit den aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abzuleitenden Anspruch auf willkürfreie Entscheidung (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 1998 - 2 BvR 1951/96 -, Rn. 21).

b) Nach diesem Maßstab können die angegriffenen Entscheidungen keinen Bestand haben.

aa) Die Entscheidung des Landgerichts genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Wenn das Gericht dem Beschwerdeführer entgegenhält, die Justizvollzugsanstalt sei rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass die Voraussetzung von Ausführungen die (konkrete) Gefahr sei, dass Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit drohten, was diese anhand von Prognosekriterien verneint habe, verfehlt es - wie zuvor schon die Justizvollzugsanstalt - den Sinn des grundrechtlichen Gebots, einem Verlust der Lebenstüchtigkeit des Beschwerdeführers nach Möglichkeit entgegenzuwirken beziehungsweise dessen Lebenstüchtigkeit zu festigen. Dieses Gebot bezieht sich als Element der staatlichen Verpflichtung, den Haftvollzug am Resozialisierungsziel auszurichten, offensichtlich nicht nur auf den drohenden Verlust von für das Leben in Haft bedeutsamen Fähigkeiten, sondern gerade auch auf die Erhaltung der Tüchtigkeit für ein Leben in Freiheit. Der Gefangene soll so lebenstüchtig bleiben, dass er sich im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben wieder zurechtfindet (vgl. BVerfGE 45, 187 <240>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 1997 - 2 BvR 615/97 -, Rn. 10, und vom 13. Dezember 1997 - 2 BvR 1404/96 -, Rn. 15; Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, Rn. 32, und vom 26. Oktober 2011 - 2 BvR 1539/09 -, Rn. 23). Mit der Annahme, das Gebot, die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen zu erhalten und zu festigen, greife erst ein, wenn der Gefangene Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation aufweist, die sich bereits als Einschränkung seiner Lebenstüchtigkeit unter den Verhältnissen der Haft bemerkbar macht, wird es daher grundlegend missverstanden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2011 - 2 BvR 1539/09 -, Rn. 23). Bei den von der Justizvollzugsanstalt herangezogenen Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation, wonach Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit im Ergebnis erst gewährt werden, wenn sich Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten abzeichnen, handelt es sich um nichts anderes als bereits konkret vorliegende haftbedingte Schädigungen. Dies hat das Landgericht, wie zuvor schon die Justizvollzugsanstalt, verkannt. Dem hohen Gewicht, das dem Resozialisierungsinteresse des Beschwerdeführers nach rund siebenjährigem Freiheitsentzug für die Ermessensentscheidung der Justizvollzugsanstalt zukam, hat es auf diese Weise nicht hinreichend Rechnung getragen.

Auch der Bewertung des Landgerichts, dass die von der Justizvollzugsanstalt herangezogene Missbrauchs- und Fluchtgefahr die Versagung von Ausführungen trage, verkennt die Bedeutung und Tragweite des Resozialisierungsgrundrechts und die trotz des Beurteilungsspielraums bei der Bewertung von Flucht- und Missbrauchsgefahr fortbestehende Prüfungspflicht der Gerichte. Denn insoweit erschöpft sich die Versagungsentscheidung der Justizvollzugsanstalt in dem pauschalen Verweis auf eine vor zehn Jahren aus dem offenen Vollzug heraus begangene Tat des Beschwerdeführers, von der, ohne dass aktuelle Erkenntnisse die Gefahrenprognose untermauern, nicht ohne Weiteres auf eine bis heute fortbestehende Missbrauchsgefahr geschlossen werden kann. Dasselbe gilt für die lediglich mit der ausstehenden Reststrafe begründete Fluchtgefahr. Diese Erwägungen tragen die Versagung demnach erkennbar nicht. Beide Wertungen stehen überdies in einem - im fachgerichtlichen Verfahren trotz Hinweis des Beschwerdeführers nicht aufgeklärten - Widerspruch zu der Einlassung der Justizvollzugsanstalt, die Überstellung des Beschwerdeführers in den offenen Vollzug - die üblicherweise ein besonderes Vertrauen in die Absprachefähigkeit des Gefangenen voraussetzt - sei in Bearbeitung.

Darauf, dass das Landgericht auch nicht hinreichend geprüft hat, inwiefern die Justizvollzugsanstalt der von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen, etwa auch einer verdeckten Fesselung, hätte entgegenwirken können, kommt es demnach nicht mehr an. Insoweit ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die pauschale Versagung einer Ausführung mit dem Argument, sie entspreche nicht dem realen Erleben und verfehle ihren Zweck, wenn sie unter Sicherheitsvorkehrungen stattfinde, nicht nur die Eigenarten einer Ausführung im System der vollzugsöffnenden Maßnahmen verkennt, sondern auch deren Bedeutung für den Erhalt und die Festigung der Lebenstüchtigkeit langjährig Inhaftierter grundlegend falsch gewichtet.

bb) Das Oberlandesgericht hat seinem Beschluss über die Rechtsbeschwerde ergänzende Bemerkungen hinzugefügt, die den Beschwerdeführer ebenfalls in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzen. Auch das Oberlandesgericht berücksichtigt die Bedeutung und Tragweite des Resozialisierungsgrundrechts nicht hinreichend, wenn es - unter Hinweis auf die eigene Rechtsprechung - feststellt, dass Ausführungen auch bei langjährig Inhaftierten nur geboten seien, wenn Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit konkret drohten, und dies im vorliegenden Fall verneint. Wie zuvor schon das Landgericht verkennt das Oberlandesgericht, dass es, indem es ein durch Anzeichen belegtes Drohen von Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit in der Haft zur Voraussetzung von Ausführungen macht, nichts anderes als das Vorliegen von haftbedingten Depravationen fordert, denen durch Gewährung von Ausführungen gerade vorgebeugt werden soll. Solche bereits bemerkbaren Defizite dürfen demnach von Verfassungs wegen nicht zur Voraussetzung von Ausführungen langjährig Inhaftierter erhoben werden. Auch wenn ein langjährig inhaftierter Strafgefangener, wie der Beschwerdeführer, noch keine Anzeichen haftbedingter Schädigungen und keine Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten unter den Bedingungen der Haft zeigt, folgt aus dem Resozialisierungsgrundrecht, dass ihm Ausführungen zu gewähren sind, es sei denn, einer konkret und durch aktuelle Tatsachen belegten Missbrauchs- oder Fluchtgefahr kann durch die Begleitung von Bediensteten und, soweit erforderlich, durch zusätzliche Weisungen und Auflagen wie etwa der verhältnismäßigen Anordnung einer (verdeckten) Fesselung nicht hinreichend begegnet werden. Auch der Beschluss des Oberlandesgerichts leidet demnach unter den verfassungsrechtlich zu beanstandenden Mängeln, die bereits der landgerichtliche Beschluss aufweist.

2. Da die angegriffenen Entscheidungen schon wegen Verstoßes gegen das Resozialisierungsgrundrecht verfassungswidrig sind, kann offenbleiben, ob sie auch weitere Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verletzen.

IV.

Nach § 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG sind die angegriffenen Beschlüsse aufzuheben. Der dem fachgerichtlichen Verfahren zugrundeliegende Antrag des Beschwerdeführers dürfte sich infolge seiner Termingebundenheit zwar erledigt haben. Die Sache ist jedoch zur erneuten Entscheidung über die Kosten an das Landgericht Bielefeld zurückzuverweisen (vgl. BVerfGE 35, 202 <245>; 128, 326 <407>).

V.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.


Einsender: entnommen HRRS, und zwar auch die Leitsätze

Anmerkung:


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