Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Hamburg, Beschl. v. 26.04.2019 - 2 Ws 48/19,
Leitsatz: Schon die (einfache) Wahrscheinlichkeit, dass Rechtfertigungs-, Schuld- oder Strafausschließungsgründe vorliegen, beseitigt den dringenden Tatverdacht als Voraussetzung des Haftbefehls nach § 112 Abs. 1 StPO.
OLG Hamburg
2 Ws 48-49/19
Beschluss
In der Strafsache
gegen pp.
hier betreffend Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 Abs. 1 StPO
hat der 2. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg am 26. April 2019 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Landgericht beschlossen:
Der den Angeklagten pp. betreffende Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg vom 29. Oktober 2018 (Az.: 162 Gs 1136/18) in der Fassung des Beschlusses des Amtsgerichts Hamburg-Harburg vom 6. Dezember 2018 (Az.: 621 Ds 378/18), zuletzt aufrechterhalten durch Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 16, vom 10. April 2019, wird aufgehoben.
In Ergänzung des wegen seiner besonderen Eilbedürftigkeit zunächst ohne schriftliche Begründung ergangenen Beschlusses vom 26. April 2019 wird die Entscheidung wie folgt begründet:
Gründe:
Das Amtsgericht Hamburg hat gegen den Angeklagten am 29. Oktober 2018 einen auf den dringenden Tatverdacht einer Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB und den Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützten Haftbefehl erlassen. Gegenstand des dringenden Tatverdachts ist der Vorwurf, der Angeklagte habe am 21. September 2018 gegen 13.10 Uhr im Büro der Geschädigten O.in der pp.straße pp. in pp. - anlässlich eines Streits über die von ihm bewohnte und von der Geschädigten verwaltete Eigentumswohnung - der Geschädigten zwei Faustschläge gegen den Kopf versetzt, so dass sie mit dem Kopf auf einen Glastisch gefallen sei, der zerbrochen sei, wodurch die Geschädigte sich mehrere Hämatome im Gesicht sowie eine blutende Kopfplatzwunde zugezogen habe, die im Krankenhaus versorgt werden mussten.
Aufgrund des Haftbefehls wurde der Angeklagte am 8. November 2018 festgenommen und am 9. November 2018 dem Amtsgericht Hamburg zugeführt, wo er zunächst bestritt, der Geschädigten O. einen Faustschlag versetzt zu haben. Er befindet sich seitdem in Untersuchungshaft.
Mit Anklageschrift vom 13. November 2018 hat die Staatsanwaltschaft Hamburg wegen des haftbefehlsgegenständlichen Vorwurfs Anklage zum Amtsgericht Hamburg-Harburg erhoben, wobei dem Angeklagten mit der Anklage ergänzend eine durch dieselbe Tat begangene Zuwiderhandlung gegen eine vollstreckbare Anordnung nach §§ 1 Abs. 1 Satz 1, 3, Abs. 2 Satz 1 GewSchG vorgeworfen wird.
Das Amtsgericht Hamburg-Harburg hat am 6. Dezember 2018 eine mündliche Haftprüfung durchgeführt und den Haftbefehl dahingehend geändert, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr entfallen und der - weiterhin vollzogene - Haftbefehl nunmehr auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gem. § 112a Abs. 1 StPO gestützt worden ist.
Mit Beschluss vom 11. Januar 2019 hat das Amtsgericht Hamburg-Harburg ferner nach Gewährung rechtlichen Gehörs den psychiatrischen Sachverständigen B. mit der Erstellung eines Gutachtens zu der Frage beauftragt, ob der Angeklagte bei dem ihm mit der Anklage vorgeworfenen Tatgeschehen vom 21. September 2018 i. S. d. §§ 20, 21 StGB in seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit vermindert gewesen sei oder diese Fähigkeiten gefehlt hätten, wobei ergänzend auf Maßregeln nach §§ 63, 64 StGB eingegangen werden möge, soweit dazu aus sachverständiger Sicht Anlass besteht.
Der Versuch des Sachverständigen, mit dem Angeklagten ein Explorationsgespräch zu führen, scheiterte in der Folgezeit an dessen mangelnder Bereitschaft. Unter Datum des 12. Februar 2019 hat der Sachverständige sodann ein am 18. Februar 2019 bei dem Amtsgericht eingegangenes Gutachten gefertigt. Das Amtsgericht hat außerdem mit Zustimmung des Angeklagten die Akten eines ihn betreffenden Betreuungsverfahrens aus dem Jahr 2018 einschließlich eines in diesem Rahmen erstellten Gutachtens des Sachverständigen K. zur Verfahrensakte genommen.
Mit Beschluss vom 19. Februar 2019 hat das Amtsgericht Hamburg-Harburg ein weiteres anhängiges Verfahren zur vorliegenden Sache hinzuverbunden und das Verfahren gem. § 209 Abs. 2 StPO unter Hinweis auf die aus dortiger Sicht bestehende hohe Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der Voraussetzungen einer Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB zur Entscheidung vorgelegt.
Der Angeklagte hat über seinen Verteidiger am 6. März 2019 mitteilen lassen, dass er an einem Explorationsgespräch mit dem Sachverständigen B. auch künftig nicht teilnehmen werde, was allerdings nicht für jeden psychiatrischen Sachverständigen gelte. Am 25. März 2019 hat er außerdem beantragt, das Landgericht möge die Übernahme des Verfahrens ablehnen und das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht eröffnen.
Das Landgericht hat am 3. April 2019 eine mündliche Haftprüfung durchgeführt und mit Beschluss vom 10. April 2019 das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht Hamburg-Harburg eröffnet sowie den Haftbefehl aufrechterhalten und in Vollzug belassen.
Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft Hamburg am 18. April 2019 sofortige Beschwerde eingelegt, die sich nach der beigefügten Begründung allein auf die landgerichtliche Eröffnungsentscheidung bezieht. Das Amtsgericht Hamburg-Harburg hat einen ursprünglich auf den 30. April 2019 anberaumten Hauptverhandlungstermin wegen der ungeklärten Zuständigkeit aufgehoben.
Das Landgericht hat die Akten über Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft dem Senat zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde und zur Durchführung der besonderen Haftprüfung gem. §§ 121, 122 Abs. 1 StPO vorgelegt.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft den Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 10. April 2019 aufzuheben und das Hauptverfahren vor dem Landgericht Hamburg, Große Strafkammer 16, zu eröffnen, sowie gemäß §§ 121, 122 Abs. 1 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Angeklagten anzuordnen.
II.
Die nach §§ 121, 122 Abs. 1 StPO erforderliche Prüfung, ob die Untersuchungshaft des Angeklagten über sechs Monate hinaus fortdauern darf, führt zur Aufhebung des in der Entscheidungsformel näher bezeichneten Haftbefehls gegen den Angeklagten, da ein dringender Tatverdacht der im Haftbefehl genannten Tat nicht besteht.
1. Die in den Haftbefehl bisher nicht aufgenommenen Tatvorwürfe aus der Anklageschrift vom 10. Dezember 2018 in der hinzuverbundenen Sache (Az. der Staatsanwaltschaft Hamburg: 2110 Js 609/18) bleiben für die vorliegende Prüfung nach §§ 121, 122 Abs. 1 StPO außer Betracht.
Gegenstand der besonderen Haftprüfung gem. § 122 Abs. 1 StPO ist allein der vorgelegte vollzogene Haftbefehl, weshalb die Prüfung grundsätzlich auf den geschilderten Lebenssachverhalt, aus dem sich die dem Beschuldigten angelastete prozessuale Tat ergibt, beschränkt ist (vgl. BGH Beschluss vom 6. Dezember 2017, Az.: AK 63/17 m.w.N. (juris); BGH Beschluss vom 28. Juli 2016, Az.: AK 41/16 (juris); KK-StPO/Schultheis § 121 Rn. 24, 24a; Meyer-Goßner/Schmitt § 122 Rn. 13). Das Haftprüfungsgericht ist zwar zu einer abweichenden rechtlichen Würdigung des Sachverhalts befugt, darf aber nicht anhand der Ermittlungsergebnisse die im Haftbefehl umschriebene prozessuale Tat austauschen oder den Haftbefehl über diese hinaus in tatsächlicher Hinsicht erweitern (BGH aaO.). Die Möglichkeiten der Entscheidung des Oberlandesgerichts in diesem Verfahren beschränken sich daher auf die Freilassung des Betroffenen, die Außervollzugsetzung des Haftbefehls und die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft (vgl. MüKo-StPO/Böhm § 122 Rn. 21).
2. Der dringende Tatverdacht als Voraussetzung des Haftbefehls nach § 112 Abs. 1 StPO besteht, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer rechtswidrig und schuldhaft begangenen Straftat ist (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt § 112 Rn. 5). Schon die (einfache) Wahrscheinlichkeit, dass Rechtfertigungs-, Schuld- oder Strafausschließungsgründe vorliegen, beseitigt daher den dringenden Tatverdacht (Senat, Beschluss vom 11. Oktober 2016, Az.: 2 Ws 216/16; Schmitt aaO.; KK-StPO/Schultheis § 112 Rn. 4 m.w.N.). Einer späteren Verurteilung entgegenstehende Gründe müssen mit derselben hohen Wahrscheinlichkeit nicht vorliegen, die auch für die übrigen, der Prüfung des dringenden Tatverdachts positiv als hochwahrscheinlich zugrunde zu legenden Umstände gilt (Senat aaO.).
3. Nach diesen Maßstäben besteht vorliegend kein dringender Tatverdacht im Sinne des in der Entscheidungsformel näher bezeichneten Haftbefehls, da nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass der Angeklagte die Tat nicht unter den Voraussetzungen des § 20 StGB und damit ohne Schuld begangen hat.
a) Bei dem Beschuldigten liegt mit mindestens überwiegender Wahrscheinlichkeit eine krankhafte seelische Störung i. S. d. § 20 StGB vor.
(1) Während einer stationären, vom 25. September bis 5. Oktober 2015 andauernden und wegen Suizidankündigung und Fremdaggressivität aufgrund § 12 des Hamburgischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (HmbPsychKG) eingeleiteten stationären Behandlung des Angeklagten in der Asklepios-Klinik Nord-Ochsenzoll wurde ausweislich eines darüber angefertigten vorläufigen ärztlichen Kurzberichts vom 5. Oktober 2015 der Verdacht einer im Früh- oder Vorstadium (sog. Prodromalstadium) vorliegenden schizophrenen Psychose diagnostiziert. Aus dem Bericht geht ferner hervor, dass der Angeklagte eine medikamentöse Einstellung abgelehnt hat und gegen ärztlichen Rat entlassen wurde, nachdem die Anordnung einer Unterbringung gerichtlich geprüft und abgelehnt worden ist.
(2) Auf Anregung des Gesundheitsamtes des Bezirksamts Harburg der Freien und Hansestadt Hamburg mit Schreiben vom 3. Mai 2018 hat das Amtsgericht Hamburg-Harburg im Jahr 2018 die Voraussetzungen der Einrichtung einer Betreuung für den Angeklagten geprüft. Die Anregung ging auf ein Schreiben der hochwahrscheinlichen Geschädigten im vorliegenden Verfahren O. als Hausverwaltung der von dem Angeklagten von seinem Vater gemieteten Wohnung in der Niemannstraße 7 in Hamburg zurück, in dem über untragbares Verhalten des Angeklagten berichtet worden war. In dem Verfahren wurde unter anderem bekannt, dass der Vater des Angeklagten diesem gegenüber die Wohnung in der Niemannstraße mit Schreiben vom 1. Mai 2018 fristlos gekündigt hatte, und zu den Kündigungsgründen ausgeführt hatte, dass der Angeklagte mehrfach und schwerwiegend den Hausfrieden gestört habe, namentlich mehrfach nach Mitternacht gegen die Wand des Nachbarn geschlagen und laut geschrien habe, wo etwa am 15. und am 19. März 2018, und er außerdem die Zeugin O. als Hausverwalterin telefonisch beschimpft, bedroht und angekündigt habe, sie im Büro aufzusuchen und über Leichen zu gehen. Ferner sei eine Nachbarin von ihm nachts im Treppenhaus mit einem spitzen Gegenstand bedroht worden; in derselben Nacht habe der Angeklagte das Schloss zum Heizungskeller aufgebrochen. Schließlich habe er die Miete für den Monat April nicht bezahlt.
Im Rahmen des Betreuungsverfahrens hat der Sachverständige K. am 3. Juli 2018 über den Angeklagten ein Gutachten erstellt, nach dessen Ergebnis es dem Sachverständigen schwer falle, bei dem Angeklagten eine ganz eindeutige Erkrankungsentität zu benennen. Auffällig seien Persönlichkeitszüge, die sich von denen des Bevölkerungsquerschnitts unterschieden und direkt sowie indirekt Leid und Probleme, insbesondere für die Umgebung, aber auch für den Angeklagten selbst erzeugten. Im Kern müsse wohl von einer Persönlichkeitsstrukturstörung ausgegangen werden, die möglicherweise neurogenetische Ursachen habe, möglicherweise aber auch auf frühe Beziehungs- und Bindungsprobleme zurückzuführen sei. Hervorzuheben seien insbesondere emotional-instabile, impulsive Persönlichkeitsanteile mit den Tendenzen, sich in Streitereien und Konflikte zu begeben, bei Neigung zu Wutausbrüchen und der Unfähigkeit, explosives Verhalten zu kontrollieren. Ebenfalls werde die Tendenz deutlich, unerwartet und ohne Berücksichtigung von Konsequenzen zu handeln, wobei wahrscheinlich auch dissoziale Persönlichkeitsanteile eine Rolle spielten. In Krisensituationen mag es hiernach möglicherweise auch zu psychosenahem Erleben gekommen sein, ohne dass aber zum Untersuchungszeitpunkt eindeutige Wahnkriterien wie Urteilsstörung, Unkorrigierbarkeit, Unbeeinflussbarkeit bei subjektiver Gewissheit und Unmöglichkeit des Inhalts vorgelegen hätten. Eine eindeutig psychotische Symptomatik mit Auffälligkeiten des formalen und inhaltlichen Denkens und z. B. eine halluzinatorische Symptomatik könne nicht eindeutig diagnostiziert werden. Eine so eindeutige erkrankungsbedingte Beeinträchtigung der freien Willensbildung, dass aufgrund dieser die Einrichtung einer Betreuung gegen den Willen des Betroffenen - der dies nachhaltig ablehne - notwendig sei, werde aktuell nicht deutlich. Allerdings würden bei weiterhin bestehenden Auffälligkeiten und Gefahren, insbesondere durch Fremdaggressivität gegebenenfalls erneut Kontakt zum sozialpsychiatrischen Dienst und Zuweisungen gem. § 12 HmbPsychKG oder polizeiliche Maßnahmen notwendig werden.
Das Betreuungsverfahren ist durch das Amtsgericht Hamburg-Harburg mit Beschluss vom 16. August 2016 eingestellt worden.
Aus einem in der Betreuungsakte enthaltenen Bericht des Bezirksamts Altona vom 18. Mai 2018 geht ferner hervor, dass zwei frühere den Angeklagten betreffende Betreuungsverfahren jeweils ohne Einrichtung einer Betreuung abgeschlossen wurden. Im Mai 2016 war ein Verfahren eingestellt worden, nachdem die dortige gutachterliche Bewertung des Angeklagten erbracht hatte, dass seine Fähigkeit, sich einen freien Willen zur Betreuungseinrichtung zu bilden, nicht klar zu beantworten sei. Man befinde sich in einer Grauzone; eine akute Gefährdung werde nicht gesehen, so dass es vertretbar erscheine, abzuwarten, wie sich die Situation entwickle. Eine weitere Anregung zur Einrichtung einer Betreuung war im Mai 2017 erfolgt, wobei die Betreuungsstelle im Juni 2017 zu der Einschätzung gelangte, dass eine ähnliche Situation wie bei dem ersten Betreuungsverfahren vorliege und für die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung gegen den Willen des Betroffenen keine ausreichende Grundlage bestehe.
(3) Der im vorliegenden Verfahren beauftragte psychiatrische Sachverständige B. führt in seinem - wegen entsprechender Weigerung des Angeklagten ohne persönliches Explorationsgespräch allein anhand der Aktenlage erstellten und insoweit als vorläufig zu betrachtenden - Gutachten vom 12. Februar 2019 unter anderem aus, dass sich aus den Akten - im Gegensatz zu einer früheren Einschätzung des sozialpsychiatrischen Dienstes - sehr wohl Anhaltspunkte für eine bei dem Angeklagten vorliegende psychische Erkrankung ergäben, namentlich aus seiner Sicht einer paranoiden Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis.
Solche Anhaltspunkte sieht der Sachverständige insbesondere darin, dass der Angeklagte über Geräusche der Heizungsanlage seiner Wohnung berichtet habe, die von einem Heizungsunternehmen oder den Nachbarn nicht hätten bestätigt werden können. Auch habe der Angeklagte über einen angeblich in seiner Wohnung befindlichen schiefen Boden berichtet, der Auswirkungen auf sein Gangbild, seine Knie und seinen Rücken habe, sowie über einen Durchzug in seiner Wohnung, dem er ausgesetzt sei und der bei ihm zu Erkältungserkrankungen führe, was er daraus schließe, dass ein Nachbar ebenfalls ständig huste. Diese von dem Angeklagten berichteten Phänomene seien zum einen als akustische Halluzinationen als auch als ein Beeinträchtigungs- bzw. Beeinflussungserleben in wahnhafter Form anzusehen. Auch deute vieles darauf hin, dass der Angeklagte sich außerdem von seinen Nachbarn beeinträchtigt und möglicherweise auch beobachtet fühle, so dass er unter anderem mit einem spitzen Gegenstand einem Nachbarn entgegengetreten sei und die Annahme geäußert habe, dass der Nachbar ihn angehen wolle. Des Weiteren gebe es Hinweise auf ein abnormes Bedeutungserleben.
Auch sei nach Aktenlage davon auszugehen, dass der Angeklagte die im vorliegenden Verfahren nach dem haftbefehlsgegenständlichen Körperverletzungsvorwurf Geschädigte als Mitarbeiterin der für die von dem Angeklagten (seinerzeit) bewohnte Wohnung zuständigen Immobilienverwaltung als diejenige ansehe, die ihn aus seiner Wohnung treiben wolle bzw. die Wohnungsräumungsklage betreibe, während tatsächlich aber der Vater des Angeklagten die Räumung betreibe, da der Angeklagte keine Miete gezahlt und sich auch ansonsten völlig unkooperativ und psychisch auffällig verhalten habe. Ferner seien die dem Angeklagten vorgeworfenen Straftaten letztendlich nicht nachvollziehbar, erschienen ohne Motiv und schienen sich auch vor einem wahnhaften Erleben abgespielt zu haben.
Gutachterlich werde davon ausgegangen, dass der Angeklagte in der vorliegend zu bewertenden Tatsituation aus einem psychotischen Erleben heraus gehandelt habe, das er im nachherein abdecke bzw. negiere und stattdessen erkläre, dass er gar keine Faustschläge versetzt habe.
Aus vorläufiger psychiatrisch forensischer Sicht ergäben sich deutliche Hinweise darauf, dass die Steuerungsfähigkeit und möglicherweise auch die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert und möglicherweise auch gänzlich im Sinne des § 20 StGB aufgehoben gewesen sei. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit liege bei dem Angeklagten das Erkrankungsbild einer paranoiden Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis vor, das vermutlich im Jahre 2015 begonnen und über die Monate deutlich zugenommen habe und der juristischen Merkmalskategorie einer krankhaften seelischen Störung gem. § 20 StGB entspreche. Eine genauere Einschätzung müsse allerdings einer ausführlichen Exploration vorbehalten bleiben, sofern der Angeklagte dieser zustimme.
b) Bei dieser Sachlage können die Voraussetzungen eines schuldlosen Handelns des Angeklagten aufgrund durch eine krankhafte seelische Störung in Form einer psychotischen Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis bewirkter Aufhebung der Steuerungs- oder möglicherweise schon der Einsichtsfähigkeit bei der im Übrigen, insbesondere aufgrund der Angaben der Zeugin O. in ihrer Vernehmung vom 25. September 2018 als hochwahrscheinlich anzusehenden Tatbegehung am 21. September 2018 nicht mit der nach den vorgenannten Grundsätzen (oben Ziff. 2.) erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit verneint werden.
aa) Das Vorliegen einer das Eingangskriterium einer krankhaften seelischen Störung i. S. d. § 20 StGB erfüllenden Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis bei dem Angeklagten ist nach Würdigung der vorgenannten Ergebnisse der mit der psychischen bzw. psychiatrischen Beurteilung des Angeklagten befassten Ärzte, insbesondere der Ausführungen des Sachverständigen B., mindestens wahrscheinlich. Die Ausführungen des Sachverständigen sind, namentlich im Hinblick auf die Herleitung von Anhaltspunkten für eine wahnhaft halluzinatorisch verzerrte Realitätswahrnehmung des Angeklagten im Hinblick auf die von ihm wahrgenommenen Zustände in der von ihm gemieteten Wohnung auch plausibel. Dass die gutachterliche Einschätzung im Hinblick auf den Mangel eines Explorationsgespräches vorläufig bleibt, steht der Validität der gutachterlichen Ausführungen, auch vor dem Hintergrund der in der Verfahrensakte dokumentierten medizinischen Vorgeschichte des Angeklagten, nicht durchgreifend entgegen.
bb) Dass darüber hinaus die Steuerungs- oder möglicherweise schon die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten bei der hochwahrscheinlichen Tatbegehung am 21. September 2018 krankheitsbedingt aufgehoben war, lässt sich unter Zugrundelegung der gutachterlichen Äußerungen insbesondere des Sachverständigen B., auch insofern unter Berücksichtigung seiner in Ermangelung eines Explorationsgesprächs notwendigerweise als vorläufig zu bewertenden Beurteilung, jedenfalls nicht mit der für die Annahme des dringenden Tatverdachts erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit verneinen.
Insbesondere ist die Annahme des Sachverständigen B. nicht unplausibel, dass der Streit zwischen dem Angeklagten und der Geschädigten, der sich bereits vor dem 21. September 2019 seit Monaten hinzog, in von dem Angeklagten wahnhaft erlebten und/oder gedeuteten Ereignissen wurzelt, namentlich betreffend die vorerwähnten, von ihm als solche wahrgenommenen Mängel der von ihm bewohnten Wohnung betreffend unter anderem (Heizungs-)Geräusche und einen bei ihm aus seiner Sicht zu Erkrankungen führenden schiefen Boden, denen nach Aktenlage keine seiner Wahrnehmung entsprechenden objektivierbaren Wohnungsmängel zugrunde liegen.
Der Auffassung des Sachverständigen B., dass krankheitsbedingt die Steuerungs- oder möglicherweise schon die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten bei seinem Auftreten gegenüber der Geschädigten O. am 21. September 2018 möglicherweise aufgehoben war, ist auch durch die teilgeständige Erklärung des Angeklagten in der vor der Großen Strafkammer 16 am 3. April 2019 durchgeführten mündlichen Haftprüfung - die bei Abfassung der gutachterlichen Beurteilung noch nicht vorlag - nicht die Grundlage entzogen. Entgegen der (allerdings die Frage der Eröffnung der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht betreffenden) Bewertung in der angefochtenen Entscheidung hat der Angeklagte sein Handeln am 21. September 2018 nicht nachvollziehbar erklärt.
Zwar hat er ausgeführt, dass er am betreffenden Tag in seine Wohnung gekommen sei und dort Veränderungen vorgefunden habe, die auf das Betreten der Wohnung durch Dritte hinwiesen, und er sich zu der Geschädigten begeben habe, um das abzuklären, weil es für ihn aufgrund der anderen Tatbestände (gemeint sind die vorangegangenen Streitigkeiten um die Beseitigung vom Angeklagten geltend gemachter Wohnungsmängel) den Anschein gehabt habe, dass sie dahinterstecken könnte.
Diese Schilderung des Angeklagten ist schon im Lichte seiner weiteren Äußerungen nicht plausibel, da er außerdem angegeben hat, noch vor Aufsuchen der Geschädigten in seiner Wohnung ein Schreiben der Hausverwaltung vorgefunden zu haben, nach dessen Inhalt die Fenster hätten erneuert werden müssen, und wenn man zum besagten Termin nicht da ist, soll man die Schlüssel beim Nachbarn abgeben. Dieses Schreiben erklärte ohne weiteres die von dem Angeklagten nach seinem Bekunden in der Wohnung wahrgenommenen Veränderungen, namentlich dass sein Fernsehgerät von der Fensterbank entfernt worden war, Vorhänge aufgezogen worden waren und ein zuvor vorhandener Zweitschlüssel fehlte. Nachvollziehbarer Anlass für die gleichwohl in diesem Zusammenhang offenbar entstandene Wut des Angeklagten auf die Geschädigte bestand außerdem umso weniger, als er selbst auch Mängel der Wohnungsfenster gegenüber der Hausverwaltung geltend gemacht hatte.
Schließlich lässt es auch eine Würdigung der Schilderung der unmittelbaren Tatsituation durch den Angeklagten als durchaus möglich erscheinen, dass ihm in dieser Lage krankheitsbedingt die Steuerungs- bzw. möglicherweise schon die dieser vorgelagerte Einsichtsfähigkeit fehlte. Bereits seine Schilderung, er sei zu der Geschädigten mit erhobenen Händen hingegangen, um zu zeigen ich will keinen Streit lässt eine Fehlwahrnehmung seines eigenen Verhaltens, namentlich des Zutretens auf eine andere Person mit erhobenen Händen, naheliegend erscheinen.
Gleiches gilt für die weitere Bekundung des Angeklagten, die Geschädigte habe ihn anschließend auf seine Frage, was sie in seiner Wohnung mache, abgewehrt bzw. abgeblockt bzw. abgewürgt. Nach der glaubhaften Schilderung der Geschädigten in ihrer zeugenschaftlichen Vernehmung vom 25. September 2018 hat der Angeklagte sie bei seinem Erscheinen in ihrem Büro, als sie gerade ein Telefongespräch geführt habe, zunächst darauf hingewiesen, sie müsse keine Angst vor ihm haben, und sie gefragt, ob sie etwas mit der Sache zu tun habe. Die Frage habe sie nicht verstanden und ihn darauf hingewiesen, dass sie gerade telefoniere und nicht wisse, was für eine Sache er meine. Er sei dann einen Schritt auf sie zugekommen, habe nochmals gesagt, sie müsse keine Angst vor ihm haben und nochmals gefragt, ob sie etwas mit der Sache zu tun habe. Sie habe ihm dann gesagt, er möge sie das Telefonat beenden lassen, dann werde sie zu ihm kommen. Anschließend habe sie sich seitwärts weggedreht, woraufhin der Angeklagte ihr den ersten Faustschlag versetzt habe.
Die sich hieraus ergebenden Unterschiede in der Darstellung des unmittelbaren Vortatgeschehens durch den Angeklagten einerseits und die Geschädigte andererseits lassen eine verzerrte Wahrnehmung dieses Geschehens durch den Angeklagten naheliegend erscheinen. Zunächst hat nach der Darstellung der Geschädigten diese sein Ansinnen nicht abgeblockt oder ihn abgewürgt, sondern ihn lediglich gebeten, zunächst das begonnene Telefonat beenden zu können. Darüber hinaus hat nach der Darstellung der Geschädigten der Angeklagte sein Ansinnen schon nicht in einer für sie verständlichen Weise vorgebracht, da er lediglich ohne nähere Erläuterung und damit objektiv unverständlich Fragen nach der Sache gestellt hat. Dass diese Nachfragen unverständlich waren, ist dem Angeklagten offenbar nicht deutlich geworden.
Es liegt deshalb nahe, dass der Angeklagte sowohl sein eigenes Verhalten als auch dasjenige der Geschädigten unzutreffend wahrgenommen hat und es jedenfalls auch aufgrund seiner diesbezüglichen Fehlwahrnehmung zu den anschließenden hochwahrscheinlichen Faustschlägen gegen die Geschädigte gekommen ist. Dass diese wahrscheinlichen Realitätsverzerrungen auf die ebenfalls wahrscheinliche psychiatrische Erkrankung des Angeklagten zurückzuführen sind und er vor diesem Hintergrund in der Tatsituation schuldlos gehandelt haben kann, erscheint daher auch im Lichte seiner Einlassung vom 3. April 2019 als ohne weiteres möglich. Auch der Bewertung durch den Sachverständigen B., wonach die Straftaten des Angeklagten letztendlich nicht nachvollziehbar seien, ist nach alledem durch die Angaben des Angeklagten vom 3. April 2019 nicht die Grundlage entzogen.
4. Der Haftbefehl war daher schon mangels dringenden Tatverdachts aufzuheben, da der Senat nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen vermag, dass der Angeklagte bei der Tat vom 21. September 2018 nicht unter den Voraussetzungen des § 20 StGB ohne Schuld gehandelt hat.
5. Ergänzend merkt der Senat an, dass der im am 6. Dezember 2018 neugefassten Haftbefehl angenommene Haftgrund der Wiederholungsgefahr gem. § 112a StGB ebenfalls durchgreifenden Bedenken begegnet.
a) Die Annahme des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr setzt nach der hier allein in Betracht kommenden Regelung des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO unter anderem voraus, dass der Beschuldigte dringend verdächtig ist, wiederholt oder fortgesetzt eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat u. a. nach §§ 224 bis 227 StGB begangen zu haben, für die eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist, wobei nach § 112a Abs. 1 Satz 2 StPO in die Beurteilung des dringenden Verdachts einer Tatbegehung in diesem Sinne auch solche Taten einzubeziehen sind, die Gegenstand anderer, auch rechtskräftig abgeschlossener Verfahren sind oder waren.
Die wiederholte Tatbegehung setzt voraus, dass die Tat mindestens zweimal durch rechtlich selbständige Handlungen begangen worden ist bzw. insoweit dringender Tatverdacht besteht (Meyer-Goßner/Schmitt § 112a Rn. 8). Eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung muss durch jede einzelne der Annahme des Haftgrundes zugrunde gelegte Tat eingetreten sein(Schmitt aaO. Rn. 9; KK-StPO/Graf § 112a Rn. 14a).
Die Annahme einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung erfordert einen überdurchschnittlichen Schweregrad der jeweils betroffenen Tat, wobei insbesondere auf Art und Ausmaß des eingetretenen Schadens abzustellen ist (Graf aaO. m.w.N.). Dies schließt allerdings nicht aus, dass auch eine lediglich in das Versuchsstadium gelangte Tat grundsätzlich der Annahme der Widerholungsgefahr zugrunde gelegt werden kann (Graf aaO. Rn. 15). Die Taten müssen sowohl im Unrechtsgehalt, zu dem auch Beweggründe, Art der Tatausführung, Auswirkungen der Tat, Vorleben und Nachtatverhalten des Täters gehören, als auch im Schweregrad überdurchschnittlich sowie darüber hinaus auch geeignet sein, in weiten Kreisen das Gefühl der Geborgenheit im Recht zu beeinträchtigen (Schmitt aaO. Rn. 9 m.w.N.).
b) Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Als weitere, neben der im Haftbefehl genannten Tat vom 21. September 2018 von dem Angeklagten hochwahrscheinlich verwirklichte bzw. bereits rechtskräftig abgeurteilte Tat kommt allein die der im Strafbefehlswege erfolgten Verurteilung vom 27. November 2015 zugrunde liegende Tat vom 26. Oktober 2015 in Betracht. Nach dem zugrunde liegenden Sachverhalt hat der Verurteilte in dem sog. Airport Hostel in der Alsterkrugchaussee in Hamburg nach einem Streit über von dem Angeklagten geltend gemachte Mängel des ihm überlassenen Zimmers der angeklagte der dort als Rezeptionistin tätigen Geschädigten mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen und, als sie vor ihm in einen Flur flüchtete, mit einem Ordner nach der Geschädigten geworfen, diese aber verfehlt. Dem hierauf gestützten Strafbefehl vom 27. November 2015 liegt eine rechtliche Würdigung dieses Sachverhalts als Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 22, 23 StGB zugrunde. c) Diese Tat erfüllt - schon unabhängig von der Frage, ob der hinsichtlich seiner Beschaffenheit nicht näher konkretisierte Ordner nach dem vorgenannten Sachverhalt die Voraussetzungen des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu erfüllen geeignet war - die Voraussetzungen des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO jedenfalls deshalb nicht, weil diese Tat für sich genommen eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung nach den vorstehend dargestellten Maßstäben nicht erkennen lässt, wie sich im Übrigen auch in der Ahndung dieser Tat mit einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen widerspiegelt.
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