Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Brandenburg, Beschl. v. 11.03.2019 - 1 Ws 35/19
Leitsatz: 1. Die Beschwerde gegen einen - zwischenzeitlich aufgehobenen - Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO darf nicht wegen prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden; vielmehr ist die Rechtmäßigkeit der zwischenzeitlich erledigten Maßnahme zu prüfen und gegebenenfalls deren Rechtswidrigkeit festzustellen.
2. Über Zwangsmittel nach § 230 Abs. 2 StPO hat das erkennende Gericht grundsätzlich in der für die Hauptverhandlung maßgebenden Besetzung, mithin unter Mitwirkung der Schöffen, zu entscheiden
1 Ws 35/19 Brandenburgisches Oberlandesgericht
Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss
In der Strafsache
gegen pp.
wegen räuberischen Diebstahls u.a.
hat der 1. Strafsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht am 11. März 2019 beschlossen:
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird festgestellt, dass der Haftbefehl der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 16. Januar 2019 rechtswidrig war.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die hierin entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe:
I.
Gegen den Beschwerdeführer hat die Staatsanwaltschaft Potsdam unter dem 3. November 2016 Anklage wegen wiederholten räuberischen Diebstahls u.a. vor der großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam erhoben worden. Die zuständige 1. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam hat mit Beschluss vom 2. Januar 2017 die Anklageschrift zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht Zossen -Schöffengerichteröffnet, da die Strafgewalt des Schöffengerichts ausreichend sei und darüber hinaus eine Unterbringung des Angeklagten gemäß § 63 StGB im Hinblick auf § 62 StGB nicht in Betracht komme. In der Hauptverhandlung am 17. Mai 2017 verwies das Schöffengericht des Amtsgerichts Zossen das Verfahren gemäß § 270 StPO an das Landgericht Potsdam (zurück), da es eine Unterbringung des Angeklagten gemäß § 63 StGB als wahrscheinlich ansah.
Mit Verfügung vom 24. September 2018 beraumte der Vorsitzende der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam den Beginn der Hauptverhandlung auf den 9. Januar 2019 an.
Nachdem der Angeklagte dem Folgetermin am 16. Januar 2019 trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt fernblieb, erließ das Landgericht Potsdam am 16. Januar 2019 außerhalb der Hauptverhandlung gegen ihn einen Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO. Der Angeklagte wurde daraufhin am 17. Januar 2019 festgenommen. Am 18. Januar 2019 wurde ihm der Haftbefehl verkündet. Mit Schriftsatz vom 4. Februar 2019, der am 7. Februar 2019 beim Landgericht Potsdam einging, legte der Verteidiger des Angeklagten gegen den Haftbefehl Beschwerde ein. Die Kammer half der Beschwerde unter dem 13. Februar 2019 nicht ab.
Mit Beschluss vom 22. Februar 2019 hob das Landgericht Potsdam den Haftbefehl auf, da es das Verfahren nach § 229 Abs. 4 StPO aussetzte. Hintergrund der Aussetzung war eine mehr als dreiwöchige Unterbrechung der Hauptverhandlung wegen der Erkrankung eines Schöffen. Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beantragt in ihrer Stellungnahme vom 25. Februar 2019, die Beschwerde für gegenstandslos zu erklären.
II.
1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 16. Januar 2019 ist durch die Aufhebung des Haftbefehls und die Entlassung des Angeklagten aus der Haft am 22. Februar 2019 nicht gegenstandslos geworden.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt das Erfordernis eines effektiven Rechtschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) dem Betroffenen das Recht, die Berechtigung eines tiefgreifenden Grundrechtseingriffs auch dann noch gerichtlich klären zu lassen, wenn dieser tatsächlich nicht mehr fortwirkt. Während früher generell eine nachträgliche gerichtliche Klärung schwerwiegender Grundrechtseingriffe davon abhängig gemacht wurde, dass deren direkte Belastung sich typischerweise auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in dem von der maßgeblichen Prozessordnung vorgesehenen Verfahren kaum erlangen kann (vgl. BVerfGE 96, 27; 110, 77), hängt nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Gewährung von Rechtsschutz im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen bestehende Rehabilitierungsinteresse weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch davon ab, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden kann (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 11. April 2018 - 2 BvR 2601/17 -; BVerfGE 104, 220; BVerfGK 6, 303). Dies gilt sowohl für den Fall der strafrechtlichen Untersuchungshaft (vgl. BVerfGK 6, 303) als auch für die Konstellation eines Sitzungshaftbefehls (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Oktober 2006 - 2 BvR 473/06 -; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. September 2017 - 2 BvR 1071/15 -). Die Beschwerde darf in solchen Fällen nicht wegen prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden; vielmehr ist die Rechtmäßigkeit der zwischenzeitlich erledigten Maßnahme zu prüfen und gegebenenfalls deren Rechtswidrigkeit festzustellen (vgl. BVerfGE 96, 27; 104, 220; BVerfGK 6, 303; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12. Februar 2001 - 1 Ws 33/01 -; OLG Celle, Beschluss vom 21. Februar 2003 - 2 Ws 39/03 -; OLG München, Beschluss vom 31. Januar 2006 - 3 Ws 61/06 -, StV 2006, 317; OLG Braunschweig, Beschluss vom 20. Juni 2012 - Ws 162/12 -; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 5. Januar 2015 - 1 Ws 166/14 -; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 11. April 2018 - 2 BvR 2601/17 -).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Verhaftung eines nicht erschienen Angeklagten zur Sicherstellung der Hauptverhandlung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantierte Grundrecht dar.
2. Das zulässige Rechtsmittel hat Erfolg. Die Beschwerde führt zur Feststellung, dass die Haftanordnung der Strafkammer rechtswidrig war.
Der auf § 230 Abs. 2 StPO gestützte Haftbefehl erweist sich bereits deshalb als rechtswidrig, weil er nicht ordnungsgemäß erlassen worden ist.
Über Zwangsmittel nach § 230 Abs. 2 StPO hat das erkennende Gericht grundsätzlich in der für die Hauptverhandlung maßgebenden Besetzung, mithin unter Mitwirkung der Schöffen, zu entscheiden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Auflage, § 230 Rn. 24 m.w.N.). Der angefochtene Haftbefehl wurde nicht in der Hauptverhandlung mit der hierfür maßgeblichen Besetzung erlassen. Zwar kann das Gericht außerhalb der Hauptverhandlung einen Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO erlassen, wenn es sich diesen Erlass in der Hauptverhandlung vorbehält; Voraussetzung eines solchen Vorbehalts ist aber, dass eine vorgebrachte Entschuldigung geprüft oder der Eingang des glaubhaft angekündigten Nachweises abgewartet werden soll (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.; OLG Köln, Beschluss vom 29. Juni 2004 - 2 Ws 328/04). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor, jedenfalls ergibt sich dies nicht aus dem Hauptverhandlungsprotokoll vom 16. Januar 2019. Dass der spätere Erlass eines Haftbefehls gemäß § 230 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung nicht vorbehalten worden ist, wird durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO analog.
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