Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Brandenburg, Beschl. v. 06.12.2018 - 1 Ws 184/18
Leitsatz: Der besondere Beschleunigungsgrundsatz für Haftsachen gilt auch nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils.
Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss
In der Strafsache
gegen pp.
- in dieser Sache aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Potsdam vorn 25. November 2016 (77 Gs 1327/16) am 15. Dezember 2016 ergriffen und noch am selben Tag vom Vollzug der Untersuchungshaft verschont durch Beschluss des Amtsgerichts Potsdam vom 15, Dezember 2016 (77 Os 1327/16), aufgrund des Beschlusses der 1. Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 13. März 2017 (21. Qs 113/16) am 14. März 2017 erneut inhaftiert und seitdem in Untersuchungshaft, zuletzt in der Justizvollzugsanstalt Neuruppin-Wulkow
Verteidiger:
hat der 1. Strafsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht am 6. Dezember 2018 beschlossen:
1. Auf die Beschwerde des Angeklagten werden der Haftbefehl des Amtsgerichts Potsdam vom 25. November 2016 (77 Gs 1327716) in der Fassung des Beschlusses des Landgerichts Potsdam vom 13. März 2017 (21 Qs 113/16) und die Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts Potsdam vom 5. Februar 2017 (21 Ks 5/17) aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten darin entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe:
I.
Die 1. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam (Schwurgericht) hat den Angeklagten mit Urteil vom 5. Februar 2018 wegen Mordes in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Gegen das Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt, über die noch nicht entschieden ist. Das unterschriebene Urteil gelangte am 22. März 2018 zu den Akten und wurde an die Verteidiger des Angeklagten am 8. August 2018 zugestellt.
Der Angeklagte soll den Gründen des Haftbefehls des Amtsgerichts Potsdam vom 25. November 2016 (77 Os 1327/16) und des vorgenannten Urteils zufolge, weil er aufgrund der Trennung von seiner Ehefrau, der Geschädigten pp,, nicht mehr leben wollte, den Entschluss gefasst haben, sich und seine von Ihm bereits getrennt lebende Ehefrau noch vor dem anstehenden Scheidungstermin zu töten. Hierzu soll er am Tattag, dem 25. Dezember 2015, gegen 14:35 Uhr mit dem Pkw VW pp., die Landstraße 77 in Stahnsdorf aus Richtung Güterfelde kommend in Fahrtrichtung Samund befahren und das Fahrzeug auf Höhe des Kilometers 1,571 vorsätzlich mit einer Geschwindigkeit von 90 bis 100 km/h auf gerader Fahrspur nach rechts gegen einen Baum gesteuert haben. Bei dem Aufprall soll die rechte Front des Fahrzeugs vollständig zerstört worden sein. Die auf dem Beifahrersitz sitzende Ehefrau des Angeklagten, die 57-jährige pp., sei zwar angeschnallt gewesen, habe jedoch ein massives Rumpftrauma mit einem kompletten Abriss der Körperhauptschlagader im Brustteil, innere Orgelverletzungen, Rippen- und. Brustbein-brüche sowie weiten Verletzungen erlitten, an deren Folgen sie unmittelbar nach dem Aufprall noch an der Unfallstelle verstorben sei. Der Angeklagte habe den Unfall schwerverletzt überlebt. Indem der Angeklagte nach der Trennung von seiner Ehefrau nicht mehr habe weiterleben und die Geschädigte mit in den Tod habe nehmen wollen, habe er aus sonst niedrigen Beweggründen gehandelt.
Der Angeklagte wurde am 15. Dezember 2016 in der psychiatrischen Einrichtung des Ernst von Bergmann Klinikum in Potsdam, in dem er sich wegen einer mittelgradigen depressiven Episode (1CD 10: F33.1) in Behandlung befand, festgenommen. Das Amtsgericht Potsdam hatte mit Beschluss vom 15. Dezember 2016 unter Aufrechterhaltung des Haftbefehls vom 25. November 2016 den Angeklagten von dessen weiterem Vollzug verschont und ihm auferlegt, der Staatsanwaltschaft Potsdam jeden Wechsel des Aufenthaltsortes mitzuteilen und sich zweimal wöchentlich auf dem Polizeirevier Potsdam-Mitte zu melden. Diesen Auflagen ist der Angeklagte in der Folgezeit nachgekommen.,
Auf die gegen die vorgenannte Entscheidung gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft Potsdam vom 22. Dezember 2016 hat die 1. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam mit Beschluss vom 13. März 2017 (21 Qs 113/16) den Außervollzugssetzungsbeschluss des Amtsgerichts Potsdam vom 15. Dezember 2016 aufgehoben. Zur Begründung hat die Kammer ausgeführt, gegen den Angeklagten bestehe der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. im Fall seiner Verurteilung wegen Mordes habe er mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu rechnen. Der daraus erwachsenden Fluchtgefahr stünden hinreichend entgegenwirkende soziale Bindungen, welche die Erwartung begründeten, er werde sich dem weiteren Strafverfahren zur Verfügung halten, nicht gegenüber. Daneben bestehe der Haftgrund der Tatschwere nach. § 112 Abs. 3 StPO. Mildere Mittel als der Vollzug der Untersuchungshaft wie die erteilte Meldeauflage genügten entgegen der Wertung des Amtsgerichts nicht, um der Fluchtgefahr zu begegnen. Schließlich sei der Vollzug der Untersuchungshaft mit Blick auf die Dauer der Ermittlungen und die Erforderlichkeit einer forensisch-psychiatrischen Begutachtung des Angeklagten, die kurze Zeit später von der Staatsanwaltschaft Potsdam in Auf-trag gegeben wurde, auch unter Beschleunigungsgesichtspunkten verhältnismäßig. Der Senat hatte mit Beschluss vom 10. April 2017 die gegen die landgerichtliche Entscheidung eingelegte weitere Beschwerde als unbegründet verworfen (1 Ws 53/17).
Der Angeklagte wurde noch am 13. März 2017 erneut festgenommen und nach der am 14. März 2017 erfolgten richterlichen Verkündung des landgerichtlichen Beschlusses und des Haftbefehls in die Justizvollzugsanstalt Brandenburg a. d. H. überführt. Seither befand er sich ununterbrochen in Untersuchungshaft, zuletzt in der Justizvollzugsanstalt Neuruppin-Wulkow.
Unter dem Datum des 3. Mai 2017 hatte die Staatsanwaltschaft Potsdam Anklage vor dem Schwurgericht des Landgerichts Potsdam erhoben, wobei der Tatvorwurf identisch ist mit den Schilderungen im Haftbefehl des Amtsgerichts Potsdam vom 25. November 2016. In rechtlicher Hinsicht hat die Staatsanwaltschaft in der Schwurgerichtsanklage den Vorwurf des Mordes neben den "sonst niedrigen Beweggründen" auch auf das Mordmerkmal der Heimtücke gestützt sowie den Tatbestand des vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straf3enverkehr nach § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB als gegeben erachtet, der mit dein Vorwurf des Mordes in Tateinheit stehe. In ihrem Urteil vorn 5. Februar 2018 bat die Schwurgerichtskammer entsprechend der Anklage erkannt, jedoch vermochte die Kammer nicht auszuschließen, dass zum Zeitpunkt der Tat nach Art und Grad des psychischen Ausnahmezustandes und der ausgeprägten Suizidgedanken des Angeklagten seine Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert gewesen sein könnte.
Die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Potsdam hat im Zusammenhang mit der Urteilsverkündung mit Beschluss vom 5. Februar 2018 Haftfortdauer angeordnet. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Haftbeschwerde der Angeklagten vorn 29. Oktober 2018, mit der er einen Verstoß gegen das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen geltend macht. Die Schwurgerichtskammer hat unter dem 1. November 2018 der Haftbeschwerde nicht abgeholfen.
Die Akten sind dem Brandenburgischen Oberlandesgericht zur Entscheidung über die Haftbeschwerde am 20. November 2018 vorgelegt worden mit dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg vom 13. November 2018, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Dem Angeklagten und seinem Verteidiger wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Seit dem 30. November 2018 liegen die Akten dem Bundesgerichtshof (4 StR 512/18) zur Entscheidung vor.
Der Senat hat mit Verfügung vom 3. Dezember 2018 den Vorsitzenden der 1. Strafkammer des Landgerichts um dienstliche Stellungnahme gebeten, wann das Protokoll der Hauptverhandlung fertiggestellt wurde und aus welchen Gründen eine frühere Fertigstellung nicht möglich gewesen sei. In seiner dienstlichen Stellungnahme vom 5. Dezember 2018 führte der Vorsitzende der 1. Strafkammer des Landgerichts im Wesentlichen aus, dass das Protokoll am 27. Juli 2018 fertiggestellt worden sei und dass die Verzögerung der Fertigstellung des Protokolls der außerordentlichen Belastung der Kammer spätestens seit Beginn. des Jahres 2018 mit zahlreichen Schwurgerichtssachen (Haftsachen) geschuldet sei. Die 1. Strafkammer habe in dieser Zeit bis Ende August 2018 regelmäßig an mindestens drei Sitzungstagen pro Woche (ganztägig) verhandelt, namentlich in den folgenden Verfahren: 21 Ks 5117, 21 Ks 8/17, 21 Ks 9/17, 21 Ks 10/17, 21 Ks 11/17, 21 Ks 12/17, 21 Ks 13/17, 21 Ks 14/17, 21 Ks 1/18 und 21 Ks 2/18. Hinzu seien die Sicherungsverfahren 21 KLs 3/18 und 21 KLs 9/18 sowie eine Belastung mit ca. 50 Beschwerdeverfahren in diesem Zeitraum gekommen. Aufgrund seiner vordringlichen dienstlichen Obliegenheiten in den ebenfalls dem besonderen Beschleunigungsgebot unterliegenden vorbezeichneten Haftsachen sei ihm eine frühere Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls nicht möglich gewesen.
II.
Die Beschwerde des Angeklagten ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der Angeklagte ist allerdings weiterhin der dem Haftbefehl des Amtsgerichts in Gestalt der Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts zugrunde liegenden Tat dringend verdächtig im Sinne von § 112 Abs. 1 StPO.
Der dringende Tatverdacht folgt aus der erstinstanzlichen Verurteilung des Angeklagten. Bei einer Haftentscheidung eines erkennenden Gerichts aufgrund einer vorangegangenen Hauptverhandlung ist die Nachprüfung durch, das Beschwerdegericht darauf beschränkt, ob die Entscheidung auf die in der Hauptverhandlung gewonnenen wesentlichen Tatsachen gestützt ist und auf einer vertretbaren Bewertung des Beweisergebnisses beruht (vgl. BGH SIV 1991, 525; OLG Karlsruhe Justiz 2003, 457 m.w.N.). Ist - wie hier - bereits eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung erfolgt, hat auch das Beschwerdegericht für die Beurteilung des dringenden Tatverdachts in erster Linie das Ergebnis der Beweisaufnahme heranzuziehen. Dazu kann es auf die Würdigung im Urteil zurückgreifen, wenn ein solches bereits vorliege. Bei seiner Prüfung hat das Beschwerdegericht zu berücksichtigen, dass die Hauptverhandlung in der Regel eine bessere Erkenntnisgrundlage vermittelt als der Akteninhalt (vgl. OLG Karlsruhe StV 2001, 118; OLG Rostock, Beschluss vom 28. Januar 2004 - 1 Ws 20J04 -). Aber auch in diesen Fällen hat das Beschwerdegericht zu untersuchen, ob in der angefochtenen Entscheidung alle entscheidungserheblichen Tatsachen berücksichtigt und in vertretbarer Weise gewürdigt sind oder ob sonst ein Rechtsfehler vorliegt. Das Beschwerdegericht kann dann in die Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das Tatgericht eingreifen und diese durch eine eigene Bewertung ersetze; wenn der Inhalt der angefochtenen Entscheidung fehlerhaft oder in tatsächlicher oder in rechtlicher Hinsicht nicht vertretbar ist (vgl. BGH StV 2004, 143; StV 1991, 525; OLG Karlsruhe a. a. O.; KG StV 2001, 689; StV 1993, 252; OLG Koblenz StV 1994, 316; OLG Rostock a.a.O.).
Nach diesen Grundsätzen ist die Fortdauerentscheidung der Kammer nicht zu beanstanden.
Die Überprüfung führt zu dem Ergebnis, dass die Annahme des dringenden Tatverdachts gegen den Angeleinten im Umfang seiner Verurteilung auf einer nachvollziehbaren Würdigung des in den Urteilsgründen mitgeteilten Beweisergebnisses in der Hauptverhandlung beruht Insbesondere ist gegen die Annahme der von der Kammer zugrunde gelegten Mordmerkmale nichts zu erinnern.
2. Die Strafkammer hat in der Nichtabhilfeentscheidung ferner mit zutreffenden Erwägungen den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs, 2 Nr. 2 StPO bejaht Da das Maß der Fluchtgefahr maßgeblich von der Straferwartung indiziert wird und diese gleichermaßen wie der dringende Tatverdacht vorliegend allein aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu beurteilen ist, ist der Senat in seiner Prüfungskompetenz insoweit ebenfalls auf die Frage beschränkt, ob die Bewertung der Fluchtgefahr auf die in der Hauptverhandlung gewonnenen Tatsachen gestützt ist und auf einer vertretbaren Bewertung des Beweisergebnisses beruht (vgl. OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Stuttgart Justiz 2003, 457).
Unter Berücksichtigung der verhängten Freiheitsstrafe von zehn Jahren sind die Ausführungen zur Fluchtgefahr in sich schlüssig und nachvollziehbar und begegnen daher keinen Bedenken.
Die Untersuchungshaft soll nicht nur die Durchführung des Strafverfahrens gewährleisten, sondern auch die Vollstreckung eines auf Freiheitsentziehung lautenden Urteils sicherstellen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Auflage, vor § 112 En. 4). Der Angeklagte hat zwar gegen das Urteil Rechtsmittel eingelegt, muss aber damit rechnen, dass es rechtskräftig wird. Unter Berücksichtigung der nach § 51 Abs. 1 StGB anzurechnenden Untersuchungshaft von nunmehr einem Jahr und neun Monaten verbleibt unter Berücksichtigung der vom Landgericht ausgesprochenen Freiheitsstrafe im Falle des Rechtskrafteintritts ein Strafrest, der so groß ist, dass er dem Angeklagten erheblichen Anreiz bietet, sich dem weiteren Verehren und der sich ggf. anschließenden Strafvollstreckung zu entziehen. Zwar kann der Senat bei der anzustellenden Prognose über den tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug zugrunde legen, dass dieser nur einen Teil der Freiheitsstrafe wird verbüßen müssen. Der Angeklagte wäre nämlich Erstverbüßer. Aber auch bei Zugrundelegung einer Haftentlassung zum sogenannten 2/3-Termin stünden unter Berücksichtigung der vollzogenen Untersuchungshaft noch vier Jahre und neun Monate Strafhaff zur Verbüßung an.
Zudem besteht neben der Fluchtgefahr der Haftgrund der besonderen Tatschwere (§ 112 Abs. 3 StPO). Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt auch insoweit keine abweichende Entscheidung.
3. Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweist sich jedoch infolge vermeidbarer, dem Ange-klagten nicht zuzurechnender Verfahrensverzögerungen, die mit seinem u. a. im Rechtsstaats-prinzip verankerten Anspruch auf eine beschleunigte Aburteilung nicht mehr vereinbar sind, als unverhältnismäßig.
a) Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EM2.K. ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig er-scheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Dabei findet der Vollzug von Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass eines Urteils (vorliegend fast elf Monate bis zum Erlass des Urteils) nur in ganz besonderen Ausnahmefällen seine Rechtfertigung (vgl. grundlegend hierzu BVerfG, Beschluss vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05 -; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 30. September 1999 - 2 BvR 1775/99 -, NStZ 2000, S. 153; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10, August 1992 - 2 Ws 312192 StV 1992, S. 586; OLG Köln, Beschluss vom 14. Juni 1992 - HEs 164/91-181/92 u.a. -, MDR 1992, S. 1070).
Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer auch unabhängig von der Höhe der zu. erwartenden strafe Grenzen setzt und dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruches gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößert.
Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Bearbeitung einer Haft-sache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu (vgl. BVerfG, a.a.O.; OLG Köln StV 2016, 445).
Die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte müssen daher alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Beschuldigten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin. schon lang an-dauernden Untersuchungshaft dienen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2014 - 2 BvR 1457/14 -, zitiert nach juris, Rn. 21, 22).
Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann vor diesem Hintergrund niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Vielmehr kann die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt. Die Überlastung eines Gerichts fällt - anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse - in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (vgl. BVerfG a.a.O., Rn, 23).
Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen; insofern sind in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 24).
Diese Grundsätze sind während des gesamten Strafverfahrens und somit auch bei der Absetzung und Zustellung des Urteils sowie der Weiterleitung der Akten an das Rechtsmittelgericht zu beachten (vgl. BVerfG, Beschluss vorn 16. März. 2006 - 2 BvR. 170/06 -, zitiert nach juris, Rn. 34 ff.). Allerdings kennen Verzögerungen nach dem erstinstanzlichen Urteil geringer ins Gewicht fallen, weil sich durch den Schuldspruch das Gewicht des staatlichen Strafanspruch vergrößert und umgekehrt die Unschuldsvermutung in geringerem Maße für den Angeklagten streitet (vgl. BVerfGE Beschluss vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR. 2057/05 -, zitiert nach juris, Rn. 75). Andererseits sind in dem in stärkerem Maße von Routinetätigkeiten geprägten Verfahren nach Absetzung der schriftlichen Urteilsgelde Umfang und Komplexität der Sache nicht ohne weiteres von derselben Bedeutung wie im Ermittlungs- und Erkenntnisverfahren. Grobe Verfahrensfehler bei der Erledigung solcher Routinearbeiten - seien sie durch eine unzureichende Personalausstattung oder durch sonst absehbare und vermeidbare Umstände verursacht - können die gebotene zügige richterliche Bearbeitung konterkarieren und damit der Fortdauer der Untersuchungshaft entgegenstehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 - 2 BvR 170/06 zitiert nach juris, Rn. 37; OLG Köln a.a.O.).
b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das Verfahren nicht in einer Weise gefördert worden, die den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht wird. Die nach Urteilserlass entstandenen Verfahrensverzögerungen verstoßen gegen das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen.
Mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsgebot ist es vorliegend unvereinbar, dass das Hauptverhandlungsprotokoll erst am 27. Juli 2018 fertiggestellt wurde und Urteil und Protokoll erst am 8. August 2018 an die Verteidiger zugestellt wurden.
Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen, verlangt nämlich auch, dass die Erstellung eines kompletten Hauptverhandlungsprotokolls im unmittelbaren Anschluss an die Hauptverhandlung und damit parallel zur Erstellung der Urteilsgründe erfolgt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05, StV 2006, 81, bei juris Rn 70; OLG Nürnberg, Beschluss vorn 28.09.2018, Az,: 2 Ws 645/18, BeckRS 2018, 25539).
Bei Beachtung dieser Vorgaben und des Umstandes, dass sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung seit elf Monaten und zwischenzeitlich seit einem Jahr und neun Monaten in Untersuchungshaft befindet, ist das Verfahren vor dem Landgericht Potsdam nach Urteilsverkündung dadurch erheblich verzögert worden, dass eine Fertigstellung des Protokolls nicht zeitnah zur Urteilserstellung erfolgt ist. Vom Tag der Urteilsverkündung am 5. Februar 2018 bis zur Fertigstellung des Protokolls am 27. Juli 2018 vergingen dreieinhalb Monate. Selbst ab dem 22. März 2018, dem Zeitpunkt an dem das Urteil zur Geschäftsstelle gelangt ist, dauerte die Fertigstellung des Protokolls, die gemäß § 273 Abs. 4 StPO Voraussetzung für die Wirksamkeitder Urteilszustellung ist, noch mehr als vier Monate. Vom Tag der Fertigstellung des Urteils bis zur Zustellung des Urteils und des Protokolls an die Verteidiger vergingen insgesamt vier Monate und 17 Tage. Der Fortgang des Revisionsverfahrens hat sich durch die verspätete Fertigstellung des Protokolls mithin erheblich verzögert. Die Revisionsbegründungsfrist hat nämlich gemäß § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO erst mit der Zustellung des Urteils an die Verteidiger zu laufen begonnen.
Die verspätete Fertigstellung des Protokolls war sachlich nicht gerechtfertigt und vermeidbar. Die Hauptverhandlung erstreckte sich über einen Zeitraum von eineinhalb Monaten mit acht Hauptverhandlungstagen, wobei das Protokoll der Hauptverhandlung keinen außergewöhnlichen Umfang erreichte. Es besteht lediglich aus einem Band mit etwa 200 Seiten. Bei diesem Umfang stand für die Prüfung und Korrektur des Protokolls mit dem sechswöchigen Zeitraum vom 5. Februar 2018 bis zum 22. März 2018 ausreichend Zeit zur Verfügung. Die Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls hätte somit durchaus im unmittelbaren Anschluss an die Hauptverhandlung und damit parallel zur Erstellung der Urteilsgründe erfolgen, können. Durch die gebotene zügige Vorgehensweise wäre eine Verfahrensverzögerung von etwa viereinhalb Monaten vermieden worden.
Die eingetretene Verzögerung kann nicht mit der auch dem Senat bekannten außerordentlichen Belastung der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Potsdam gerechtfertigt werden. Die Überlastung des Schwurgerichts ist allein der Sphäre des Gerichts und nicht der des Angeklagten zuzurechnen (vgl. OLG Nürnberg, a.a.O.). Der hohe Geschäftsanfall ist nicht unvorhersehbar kurzfristig eingetreten und nur von vorübergehender Dauer. Darauf lässt bereits die Tatsache, dass im ersten Halbjahr 2018 acht Schwurgerichtssachen aus dem Jahr 2017 verhandelt wurden, schließen. Die Sicherstellung einer beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen hätte rechtzeitig durch geeignete gerichtsorganisatorische Maßnahmen der Justiz erfolgen müssen.
Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweist sich nach allem, ungeachtet der bereits ausgeurteilten hohen Freiheitsstrafe und der Schwere des vorgeworfenen Verbrechens als nicht mehr verhältnismäßig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1, 2 StPO.
Einsender: RA S. O. Milke, Brandenburg
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