Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Frankfurt, Urt. v. 16.11.2018 - 15 U 89/17
Leitsatz: Zum Schadensersatzanspruch aufgrund Amtspflichtverletzung wegen rechtswidrig unterlassener resozialisierender Behandlungs- und Erprobungsmaßnahmen zur zeitgerechten Wiedererlangung der Freiheit eines in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten.
15 U 89/17
OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL v. 16.11.2018
In dem Rechtsstreit
Land Hessen, vertreten durch die Generalstaatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Zeil 42, 60313 Frankfurt am Main,
Beklagter und Berufungskläger,
Prozessbevollmächtigter:
gegen
Kläger und Berufungsbeklagter,
Prozessbevollmächtigte;
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ,
hat der 15. Zivilsenat in Kassel, der Einzelrichter, des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main durch den Richter am Amtsgericht aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19.10.2018 für Recht erkannt:
Die Berufung des Beklagten gegen das am 05. April 2017 verkündete Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Marburg wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
Die Parteien streiten über einen Schadensersatzanspruch aufgrund vermeintlicher Amtspflichtverletzung des Beklagten wegen rechtswidrig unterlassener resozialisierender Behandlungs- und Erprobungsmaßnahmen zur zeitgerechten Wiedererlangung der Freiheit.
Der Kläger war aufgrund eines Urteils des Landgerichtes Darmstadt vom 08. September 1987 zuletzt in Strafhaft mit anschließender Sicherungsverwahrung wegen schwerer räubersicher Erpressung. Die Sicherungsverwahrung wurde seit dem Jahr 2010 vollstreckt. Der Kläger bemühte sich bereits mehrere Jahre zuvor vergeblich um eine Aussetzung der Vollstreckung zu Bewährung. Am 07.04.2010 erstellt der Sachverständige Prof. Dr. M. ein von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichtes Marburg beauftragtes Sachverständigengutachten zur Frage der Aussetzung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung. Vom Sachverständigen wurde ein noch relativ hohes Risiko der Entweichung festgestellt, aber auch Locke-rungen für den Beginn des Resozialisierungsprozesses gefordert. Wegen Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 07.04.2010, BI.61 ff Bd. I d.A., Bezug genommen. Seit Mai 2011 wurden dem Kläger seitens der JVA Schwalmstadt gefesselte Ausführen, dann begleitete Ausführungen mit zu-nächst zwei, seit Juli 2012 mit einem Bediensteten der Anstalt bewilligt. Am 01.12.2011 wurde durch die Justizvollzugsanstalt ein ergänzendes fach-psychiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. M. zur Lockerungsvorbereitung beauftragt, welches am 18.04.2012 erstellt wurde. Unbegleitete Ausgänge wurden für vertretbar und für die Resozialisierung notwendig angesehen. Wegen der Einzelheiten hierzu wird auf das Gutachten BI.138 ff Bd. I d.A. Bezug genommen. Seitens der JVA wurden weitere Vollzugslockerungen jedoch von der Einholung eines weiteren Gut-achtens abhängig gemacht, das von dem Sachverständigen Prof. Dr. L. erstattet werden sollte (vgl. Vollzugsplanfortschreibung Nr.15 vom 06.07.2012 Ziff.17, BI.181 ff Bd.l d.A.).
Mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichtes Marburg vom 03. Juli 2012 (Az. 7 StVK 56/12) wurde sodann die Sicherungsverwahrung zur Bewährung für den 27. März 2013 ausgesetzt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft Darmstadt, der die General-staatsanwaltschaft beigetreten ist, verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Entscheidung vom 13. Dezember 2012 (Az. 3 Ws 922/12). Zu-gleich verfügte es die Änderung des Entlassungsdatums auf den 15. Dezember 2013, damit noch hinreichend Zeit zur Erprobung von Vollzugslockerungen bestünde. Die günstige Prognose hänge nur noch von der Bewährung des Klägers in vollzugsöffnenden Maßnahmen ab, die von der JVA grundlos und ermessensfehlerhaft versagt worden seien. Nach den Ausführungen des Strafsenates des OLG sei das Ermessen für die Erprobung in weitergehende Maßnahmen auf Null reduziert gewesen. Wegen der, Einzelheiten hierzu wird auf den Beschluss vom 13. Dezember 2012, BI.157 ff Bd.l d.A., Bezug genommen.
Der Kläger war vom 03. September 2013 bis einschließlich 02. Dezember 2013 im Langzeiturlaub und wurde sodann zum 14. Dezember 2013 aus der Sicherungsverwahrung gegen Bewährung entlassen.
Der Kläger ist der Ansicht, die zusätzliche Unterbringungszeit ab dem 27. März 2013 beruhe auf der rechtswidrigen Unterlassung hinreichender Lockerungs- und Erprobungsmaßnahmen durch die Justizvollzugsanstalt in den vorangegangenen Jahren. Der Zeitraum vom ursprünglichen Entlassungszeitraum am 27. März 2013 bis zum 13. Dezember 2013, mithin 170 Tage abzüglich des Urlaubes, etwa 5,7 Monate, begründe als rechtswidrige Maßnahme eine Amtspflichtverletzung. Dagegen ist der Beklagte der An-sicht, dass der zusätzliche Unterbringungszeitraum nur auf der zulässiger-weise eingelegten Beschwerde beruhe.
Wegen der weiteren tatsächlichen Feststellungen und dem Vorbringen der Parteien in der ersten Instanz wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen (§ 540 Abs.1 Nr. ZPO).
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben und den Beklagten zur Zahlung von Schadensersatz wegen Amtshaftung nach § 839 BGB in Höhe von 2.850,- verurteilt. Die Unterlassung von sachlich gebotenen Vollzugsmaßnahmen(-lockerungen) in angemessenem Umfang zur Erprobung stelle eine rechtswidrige Amtspflichtverletzung dar. Hinsichtlich der Frage, ob die Unterlassung von Vollzugslockerungen zur Erprobung eine rechtswidrige Amtspflichtverletzung darstelle, sei das Landgericht an die Feststellungen des Oberlandesgerichtes im Beschluss vom 13.12.2012 gebunden. Die Bindungswirkung erstrecke sich auch auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit bzw. fehlerhaften Ermessensausübung in den Entscheidungsgrün-den. Die rechtswidrige Unterlassung von Vollzugslockerungen sei zudem kausal für die längere Unterbringungszeit, denn nur aufgrund der fehlenden Erprobung konnte keine sofortige positive Prognose und damit Entlassung des Klägers erfolgen. Ein Verschulden der JVA sei auch gegeben, da diese die Möglichkeit und Notwendigkeit der Vollzugslockerungen zur Erprobung hätte erkennen können. Zudem sei aufgrund der Mahnungen der Strafvollstreckungskammer des Landgerichtes Marburg schon in 2011 klar gewesen, dass solche Lockerungen erfolgen sollten. Die Höhe des Schadens beruhe auf tatrichterlicher Schätzung und orientierte sich an der Entscheidung des Oberlandesgerichtes zur Verlängerung der Erprobungszeit und der Verschiebung des Entlassungszeitraumes.
Der Beklagte wendet in der Berufung ein, dass zum einen zu Unrecht aus dem Beschluss des OLG Frankfurt vom 13.12.2012 entnommen worden sei, dass eine Bindungswirkung für die Frage der Rechtswidrigkeit der Verfahrensweise der JVA Schwalmstadt bestehe. Nach der einschlägigen Rechtsprechung würde nur der Inhalt des Tenors in Rechtskraft erwachsen, nicht die Gründe der Entscheidung. In den vom Landgericht zitierten BGH-Entscheidungen sei jeweils im Tenor die Rechtswidrigkeit der Strafvollstreckungsmaßnahme festgestellt worden, was vorliegend fehle. Mit dem hiesigen OLG-Beschluss sei dagegen nur die Beschwerde mit der Festsetzung eines späteren Entlassungstermins verworfen worden. Zudem sei zum anderen unzutreffend ein Verschulden der zugrunde gelegten Amtspflichtverletzung angenommen worden. Die Verzögerung der Entlassung beruhe auf der jedenfalls vertretbaren Auffassung der JVA, zunächst noch ein zweites Gutachten zu der Frage einzuholen sei. Diese Anforderung habe der hessischen Gesetzeslage ab 01.06.2013 (§ 13 Abs.5,3 HSVVollzG) entsprochen und sei hinsichtlich der Ausführungen im Sachverständigengutachten Prof. Dr. L. vom 31.10.2006 vertretbar, jedenfalls nicht schuldhaft gewesen. Zudem sei ein Mitverschulden des Klägers zu berücksichtigen, was vom Landgericht übersehen worden sei, weil dieser es unterlassen habe, Gebrauch von Rechtsschutzmöglichkeiten für Vollzugslockerungen zum Zwecke einer früheren Erprobung zu machen. Schlussendlich sei bei der Schadensbemessung zu Unrecht ein gegenüber dem Beschluss des Oberlandesgerichtes vom 13.12.2012 verkürzter Zeitraum für eine Erprobung des Klägers vor seiner Entlassung zugrunde gelegt worden. Trotz bisher eingeleiteter Lockerungsmaßnahmen habe das Oberlandesgericht einen um ein viertel Jahr längeren Erprobungszeitraum für erforderlich gehalten, als das Landgericht in seinem Beschluss vom 3.7.2013. Dort wurde der Entlassungszeitraum auf den 27.3.2013 festgelegt, so dass der Zeitraum ca. 9 Monate betrug, während der Erprobungszeitraum vom OLG mit ca. 12 Monaten für erforderlich erachtet wurde. Diese um ein viertel Jahr verlängerte Erprobungszeit könne nicht der JVA angelastet werden.
Der Berufungskläger beantragt,
auf die Berufung des Beklagten das am 5.4.2017 verkündete Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichtes Marburg 7 0 227/15 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Berufungsbeklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger ist der Ansicht, dass sich das Landgericht zu Recht auf eine Bindungswirkung des OLG-Beschlusses vom 13.12.2012 für die Frage der Rechtswidrigkeit der Vorgehensweise der JVA gestützt habe. Selbst die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt habe in ihrer Stellungnahme vom 26.09.2012 auf S.11 die Einholung eines weiteren Lockerungsgutachtens nicht für erforderlich erachtet (Anlage Al). Sofern die JVA ein zweites Sachverständigengutachten eines anderen Sachverständigen als Prof. M. für nötig gehalten hätte, so hätte sie jedenfalls bis spätestens Frühjahr 2011 einen weiteren Sachverständigen beauftragen müssen. Richtigerweise sei das Landgericht davon auszugegangen, dass unabhängig von der Bindungswirkung zur Rechtswidrigkeit die Unterlassung vollzugsöffnender Erprobungsmaßnahmen kausal für die zusätzliche Unterbringungszeit gewesen sei. Ein Mitverschulden des Klägers durch Unterlassung von Rechtsschutzmöglichkeiten, d.h. der Beantragung von Vollzugslockerungsmaßnahmen und der Erwirkung gerichtlicher Entscheidungen dazu, sei nicht gegeben. Gegen die einzelnen Fortschreibungen des Vollzugsplanes und weitere Einzelmaßnahmen habe der Kläger mehrmals in den Jahren 2006 bis 2011 Anträge auf gerichtliche Entscheidung gestellt, sowie 2010 eine Untätigkeitsklage beim Landgericht Marburg wegen fehlender Bescheidung seines Antrags über die Gewährung von Ausführungen im August 2009 erhoben. Dem Kläger könne nicht vorgeworfen werden, er habe keine Tätigkeit zum Erstreiten von Vollzugslockerungen entfaltet. Viel-mehr habe er seine Bemühungen mehr und mehr auf das Aussetzungsverfahren konzentriert, da für ihn aufgrund der Erfahrungen, dass die Weisungen und Mahnungen der Strafvollstreckungskammer zu keiner Änderung der Haltung der JVA Schwalmstadt führten, der Eindruck entstehen konnte, dass zur Begrenzung der negativen Folgen eines Prognosedefizites nur das Betreiben des Aussetzungsverfahrens erfolgversprechend sei. Auch die Schadensberechnung zu zutreffend. Der Umstand, dass das Oberlandesgericht eine nunmehr verlängert, einjährige Erprobungszeit für nötig ansah, beruhe ebenfalls auf den rechtswidrigen Unterlassungen von Vollzugslockerung seitens der JVA.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
Die Berufung des Beklagten ist nach den §§ 511, 513, 517, 519 und 520 ZPO statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, mithin zulässig..
In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg, denn die angefochtene Entscheidung beruht weder auf einer Rechtsverletzung im Sinne des § 546 ZPO noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 ZPO).
Dem Kläger steht dem Grunde nach aufgrund einer schuldhaften Amts-pflichtverletzung ein Anspruch auf Schadensersatz nach § 839 BGB zu.
Eine Amtspflichtverletzung liegt zum einen darin, dass die Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt zu spät mit der Einleitung von Vollzugslockerungsmaß-nahmen begonnen und diese nicht zügig genug fortgeführt hat, sowie zum anderen darin, dass sie das weitere Voranschreiten mit Vollzugslockerungen davon abhängig gemacht hatte, dass ein zweites Sachverständigengutachten des Prof. Dr. L. im Vorfeld zur Frage der Vollzugserleichterungen eingeholt werden sollte.
Zutreffend hat das Landgericht nach Ansicht des Senates eine Bindungs-wirkung hinsichtlich der Feststellung einer rechtswidrigen Amtspflichtverletzung durch Unterlassung von Vollzugslockerungsmaßnahmen zur Erprobung des Klägers durch den Beschluss des 3. Strafsenates des Oberlandesgerichtes Frankfurt am Main vom 13. Dezember 2012, 3 Ws 922/12, angenommen. Zu Recht weist die Beklagte zwar darauf hin, dass die vom Landgericht zitierten Entscheidungen des Bundgerichtshofes (Urteil vom 10. Juni 1985 III ZR 3/84 und Urteil vom 04. November 2004 III ZR 361/03) zwar keine eindeutige Klärung dieser Frage ergeben, denn die bei-den zitierten Entscheidungen betrafen Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer, mit den ausdrücklich die Rechtswidrigkeit der Justizvoll-zugsmaßnahmen im Tenor festgestellt wurden. Im hier vorliegenden Fall wurde im Tenor (nur) die Beschwerde der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen und der Entlassungszeitpunkt auf einen späteren Tag festgesetzt. Allerdings kann aus der fehlenden Vergleichbarkeit der Entscheidung mit dem hiesigen Fall nicht geschlussfolgert werden, dass eine Bindungswirkung ausscheidet. Vielmehr ist nach der weiteren Rechtsprechung des Bundes-gerichtshofes zur Bindungswirkung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen anzunehmen, dass auch im vorliegenden Fall eine Bindungswirkung vorliegt. Danach entfaltet bei Anfechtungsklagen gegen einen Verwaltungs-akt im Falle einer Aufhebung des Verwaltungsaktes also bei erfolgreicher Anfechtungsklage auch die inzidente Feststellung der Rechtswidrigkeit der verwaltungsrechtlichen Maßnahme eine Bindungswirkung für ein späteres Zivilverfahren, oder umgekehrt (vgl. BGH, Urteil vom 12.07.1962 III ZR 16/61, zitiert bei juris; Staudinger/Hager, BGB, Aufl. 2013, § 839 Rn.420 ff). Zwar sind die Zivilgerichte nicht stets an die einzelnen Gründe gebunden, die die Verwaltungsgerichte zu ihrer Entscheidung geführt haben, dass eine Maßnahme rechtswidrig erfolgt sei. An dieser Bindungswirkung nehmen, sofern es um die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts als eines selbständigen Elements der vor den Zivilgerichten zu verfolgenden Ersatzansprüche geht, jedoch die Gründe des verwaltungsgerichtlichen Urteils notwendig dann teil, soweit sich erst aus ihnen der tragende Grund für die festgestellte Rechtswidrigkeit erkennen lässt (BVerwG vom 16,10.1987, 4 C 35/85 = NVwZ 1988, 1120; OLG München, Urteil vom 17. August 2006 1 U 2960/05 , Rn. 76, juris). Somit beschränkt sich die Bindungswirkung nicht zwingend nur auf die Entscheidungen im Tenor, sondern vermag sich auch auf Feststellungen in den Entscheidungsgründen erstrecken. Nach diesen Grundsätzen war auch das Landgericht zutreffend von einer Bindungswirkung hinsichtlich der inzidenten Feststellung des Oberlandesgerichtes bezüglich der Rechtswidrigkeit der Maßnahme, hier der Unterlassung von Vollzugslockerungen, ausgegangen. Festgestellt wurde hierbei seitens des Strafsenates zwar (nur) die fehlerhafte Ermessensausübung der JVA, weil nach Ansicht des Oberlandesgerichtes deren Ermessen hinsichtlich der (unterlassenen) Anordnung von Vollzugslockerungsmaßnahmen auf Null reduziert war. Jedoch impliziert dies zwingend auch die Rechtswidrigkeit des Unterlassens, da die Behörde zu ermessen-fehlerfreiem Verhalten verpflichtet ist. Nach Ansicht des hiesigen Senates ist die Bindungswirkung für den Zivilprozess auch deswegen gerechtfertigt, weil der Strafsenat im Rahmen der Straffvollstreckung näherer an der Materie dran ist, als das Zivilgericht. Unzumutbar und systemwidrig wäre es, den Kläger auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage hinsichtlich der Rechtswidrigkeit zu verweisen, die infolge der Möglichkeit zur Erlangung einer positiven Aussetzungsentscheidung nicht mehr möglich gewesen wäre.
Aber auch ohne förmliche Bindungswirkung ist im Übrigen nach Ansicht des Senates von einer Rechtswidrigkeit des Vorgehens der JVA auszugehen, weil jedenfalls den dahingehenden Feststellungen des Oberlandesgerichtes und der Strafvollstreckungskammer des Landgerichtes eine entscheidende indizielle Bedeutung zukommt, die durch das Vorbringen des Beklagten nicht entkräftet werden konnte. Danach ist davon auszugehen, dass dem Kläger vollzugsöffnende Maßnahmen im gebotenen Umfange ohne zu-reichenden Grund versagt wurden. Nachdem der Sachverständige Prof. Dr. M. in seinem Gutachten vom 07. April 2010 auf Seite 100 darauf hin-wies, dass es seines Erachtens vordringlich ist, mit dem Probanden in einen strukturierten Lockerungsprozess einzusteigen, in dem der Proband eine Beziehung zu einem in den Lockerungsprozess eingebundenen Betreuer aufbaut, wurde erstmals mit der Vollzugsfortschreibung Nr.13 vom 05.01.2011 der Beginn eines Resozialisierungsprozesses vorgesehen und sodann erstmals im Mai 2011 ein Einstieg in den Lockerungsprozess durch die Gewährung gefesselter Ausgänge vorgenommen. Damit vergingen seit Vorlage des ersten Gutachtens des Prof. Dr. M. über 1 Jahr, ohne dass überhaupt irgendwelche Vollzugserleichterungen eintraten. Im Anschluss erfolgten sodann durch zwei Personen begleitete und erstmals ab August 2011 ungefesselte Ausführungen. Seit Juli 2012 wurden Ausführungen mit einem Bediensteten der Anstalt bewilligt. Unbegleitete Ausführungen bzw. begleitete Ausgänge mit Kontaktpersonen wurden dagegen weiterhin abgelehnt und von der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens abhängig gemacht, welches von Prof. Dr. L. erstattet werden sollte (vgl. Vollzugsplanfortschreibung Nr.15 vom 06.07.2012 Ziff.17). Dies obwohl ausweislich dieser Planfortschreibung ein Rückfall- und Fluchtrisiko bei diesen Rahmenbedingungen nicht gesehen" wird. Damit fehlt es zutreffender Weise an einem zureichenden Grund für die Lockerungsversagung. Wie schon das Oberlandesgericht im Beschluss vom 13. Dezember 2012 zu Recht hinwies, und worauf der Beklagte insbesondere abstellt, steht der Justizvollzugsanstalt zwar bei der Prüfung, ob weitergehenden Vollzugslockerungen der Versagungsgrund der Flucht- und/oder Missbrauchsgefahr entgegensteht, ein Beurteilungsspielraum zu, wobei sich die Vollzugsbehörde zur Beurteilung dieses Risikos der Hilfe eines Sachverständigen bedienen darf, wenn sie selbst dazu nicht in der Lage ist. Zu Recht hat aber auch der 3. Strafsenat in seinem Beschluss darauf abgestellt, dass die Notwendigkeit der Einholung eines weiteren Gutachtens nicht aus diesem Grund angenommen wurde. Die Vollzugsbehörde hat mit der Einschätzung, dass ein Rückfall- und Fluchtrisiko bei diesen Rahmenbedingungen nicht gesehen" wird, zum Ausdruck gebracht, dass sie sich vielmehr selbst zur Beurteilung der Versagungsgründe in der Lage sieht. Sie hätte auch selbst die Erfahrungen aus der 6-monatigen Lockerungsphase (begleitete Aus-gänge mit 1 Bediensteten) auswerten können. Damit war das Beharren auf der Einholung eines weiteren Gutachtens nicht gerechtfertigt. Dies gilt zu-treffend auch mit Blick auf den damals noch nicht in Kraft gewesenen § 13 V HSVVollzG, denn auch diese Bestimmung sieht die Einholung zweier Gutachten nur in der Regel und nicht zwingend vor. Sie soll ausweislich der. Begründung des Regierungsentwurfes entbehrlich sein, wenn wie hier mit Gutachten von Prof. Dr. M. bereits ein zeitnahes Gutachten zur bedingten Entlassung vorliegt, welches sich auch zu vollzugsöffnenden Maß-nahmen verhält. Von daher fehlt es an der Versagung weitergehender Lockerungen ab Anfang 2012 an einem zureichenden Grund.
Die darin zu sehende Amtspflichtverletzung war auch dem Grunde nach kausal für den Eintritt des Schadens, hier die weitergehende Freiheitsentziehung. Sofern bereits Anfang 2012 weitere vollzugsöffnende Maßnahmen, insbesondere der begleitete Ausgang mit einer Kontaktperson, also ohne Bedienstete der Anstalt, gewährt worden wären, hätte eine Entlassung zum Zeitpunkt 27.03.2013 rechtzeitig vorbereitet werden können. Die Ausführungen des Landgerichts hierzu sind nicht zu beanstanden, und werden wohl auch von der Berufung nicht angegriffen. Danach waren die Unterlassung der Vollzugslockerung und die fehlende Erprobung ursächlich für den Eintritt der verlängerten Entlassungszeit, jedenfalls dem Grunde nach (zur Schadenshöhe siehe unten).
Die Amtspflichtverletzung stellte sich im Ergebnis auch als schuldhaft dar. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass sich die Bindungswirkung des Be-schlusses des 3. Strafsenates vom 13. Dezember 2012 nicht auf die Frage des Verschuldens erstreckt. Die Schuldhaftigkeit des Unterlassens der Justizvollzugsanstalt wurde vom Landgericht aber zutreffend und fehlerfrei bejaht. Die fehlerhafte Unterlassung der Vollzugslockerung und die dadurch bedingten Auswirkungen waren für die Anstalt ohne weiteres erkennbar, insbesondere aufgrund der vorhergehenden Mahnungen der Strafvollstreckungskammer des Landgerichtes Marburg in früheren Entscheidungen. Es liegt damit ein zumindest fahrlässiges Verhalten im Sinne des § 276 BGB vor. Fahrlässig handelt der Amtsträger, der bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt hätte voraussehen können, dass er seiner Amtspflicht zuwider handelt (Palandt/Sprau, BGB, 77.Aufl., 2018 § 839 Rn.52).
Vorliegend hätte die JVA Schwalmstadt bereits zu einem recht frühen Zeit-punkt erkennen müssen, dass sie bei dem Kläger früher in den Lockerungsprozess hätte eintreten müssen, als tatsächlich erfolgt. Bereits seit 2004 wurde seitens der Strafvollstreckungskammer angemahnt, die Ge-währung von Vollzugslockerungen für den Kläger zu prüfen. In dem im Jahr 2006 eingeholten Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. L. vom 31.10.2006, welches durch die Strafvollstreckungskammer im Rahmen eines Aussetzungsverfahrens beauftragt worden war, wurde sodann zwar noch ein nicht unerhebliches Rückfallrisiko gesehen. Allerdings wurde auch dort bereits eine positive Entwicklung des Klägers bescheinigt. Hierzu führte Prof. Dr. L. aus: Voraussetzung einer künftigen Entlassung wäre also der Einstieg in einen Lockerungsprozess mit nachfolgendem Aufenthalt im offenen Vollzug, um mit Herrn pp. Möglichkeiten einer künftigen außervollzuglichen Lebensform zu erarbeiten. Im Vergleich zu früher erscheint dabei das Missbrauchsrisiko mittlerweile deutlich geringer, auch wenn weiterhin von einer praktisch vorhandenen und nicht nur theoretischen Gefahr einer erneuten Entweichung mit nachfolgender gewalttätiger Eigentumsdelinquenz auszugehen ist. Dieses weiterhin bestehende Risiko ist m.E. weder durch Behandlungs- noch durch sonstige innervollzugliche Maßnahmen weiter verringerbar. Letztlich bleibt es eine Frage der Abwägung, ob man nach mittlerweile 18 Jahren geschlossenen Strafvollzug das verbleibende Risiko eingehen kann.". In fahrlässiger Weise wurde diese Abwägung im Anschluss daran aber nicht fehlerfrei ausgeübt. In der Vollzugsplanfortschreibung Nr.10 vom 19.01.2007 wurde eine weitere Prüfung von Ausführungen zwar in Aussicht gestellt, aber nicht wirklich vorgenommen. Mit Schreiben des Leiters der JVA Schwalmstadt vom 16.07.2007 (BI.271 Bd.II d.A.) wurde ein Antrag des Klägers vom 14.05.2007 auf Gewährung einer Ausführung zum Aufzeigen eines Außenbezuges abgelehnt. In der Vollzugsplanfortschreibung Nr.11 vom 25.01.2008 wurde lediglich festgestellt, dass eine Eignung für die Gewährung von Vollzugslockerungen bisher nicht festgestellt werden konnte und eine Flucht- und Missbrauchsgefahr auch weiterhin nicht mit der erforderlichen Sicherheit auszuschließen ist. Ein Abwägung der einzelnen Risiken fand demnach offenkundig nicht statt und hierzu wurden auch keine Auswertungen vorgenommen oder veranlasst. Mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichtes Marburg vom 16.09.2010 wurde sodann erneut angemahnt, dass zeitnah die Möglichkeit von Lockerungen ernsthaft in Erwägung gezogen werden und nicht weiter aufgeschoben werden sollte. Selbst mit Schreiben vom 21.10.2010 wurde durch die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 21.10.2010 (BI. 319 Bd.II d.A.) festgestellt: Es ist weder zielführend noch rechtlich vertretbar, etwa im Hinblick auf frühere Entweichungen und Entweichungsversuche des Beschwerdeführers Lockerungen weiter aufzuschieben, wie dies im Protokoll der Vollzugsplankonferenz der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt vom 25.01.2008 deutlich wird.". Nichtsdestotrotz erfolgte ein Einstieg in den Lockerungsprozess erstmals im Mai 2011 mit gefesselten Ausführungen. Mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 05.12.2011 (7 StVK 246/11) wurde erneut auf bisherige äußerst zögerliche Praxis des Vollzuges bei Entscheidungen über Vollzugslockerungen hingewiesen und weitere Lockerungen wurden gefordert. Dennoch wurde sodann mit Vollzugsfortplanfortschreibung Nr.15 vom 06.07.2012 seitens der JVA die Einholung eines weiteren Gutachtens gefördert, bevor mit weiteren Lockerungsmaßnahmen vorangeschritten werden sollte. Dass die Anstalt mit dieser zögerlichen Vorgehensweise ihre Amtspflicht verletzen würde, hätte ihr aufgrund der mehrfachen Hinweise der Gerichte und der Generalstaatsanwaltschaft klar sein müssen.
Ein Mitverschulden des Klägers nach § 254 BGB liegt nicht vor. Zu Recht weist der Beklagte zwar darauf hin, dass diese Frage vom Landgericht aus unerfindlichen Gründen überhaupt nicht geprüft wurde. Grundsätzlich käme auch ein Mitverschulden in Betracht, wenn nicht alle möglichen Rechtsschutzmöglichkeiten ausgenutzt wurden und damit der Kläger seiner Eigen-verantwortung nicht gerecht geworden ist. Es kann vorliegend jedoch da-hingestellt bleiben, ob eine Möglichkeit zur Beantragung von Vollzugslockerungsmaßnahmen bestand, da der Kläger davon ausgehen durfte, dass er damit nicht erfolgversprechend zum Ziel einer zeitnahen Unterbringungs-entlassung kommen würde. Aufgrund der früheren Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern beim Landgericht Marburg durfte sich der Kläger nicht darauf verlassen, dass etwaige gerichtliche Mahnungen und An-weisungen der Strafvollstreckungskammern überhaupt zeitnah durch die JVA umgesetzt werden. Daher ist der verfolgte Weg des Betreibens des Aussetzungsverfahrens wohl erfolgversprechender gewesen und nicht zu beanstanden. Die Konzentration darauf und die Unterlassung parallel gestellter Anträge auf gerichtliche Entscheidungen für Vollzugslockerungen erscheinen jedenfalls nicht so gravierend unverantwortlich, dass damit eine Haftung der Beklagten gemindert werden könnte. Eine etwaige Verantwortlichkeit des Klägers tritt dahinter zurück. Eine zeitnahe Umsetzung von vom Kläger schwer erkämpften Lockerungen vor Entscheidung über den Aussetzungsantrag war jedenfalls nicht zu erwarten. Die unterlassene Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Versagung von Lockerungen kann jedenfalls dann nicht zu einem Zurücktreten der Verantwortlichkeit der Vollzugsbehörde für das Prognosedefizit führen, wenn selbst bei Erfolg des Rechtsbehelfs eine Erprobung über einen prognoserelevanten Zeitraum vor der anstehenden Aussetzungsentscheidung nicht mehr möglich gewesen wäre (BVerfG, Beschluss vom 30.04.2009 2 BvR 2009/08 = NJW 2009, 1941, beck-online).
Die Ausführungen zur Schadenshöhe und deren Bemessung sind durch das Landgericht ebenfalls fehlerfrei vorgenommen worden. Der Beklagte wendet hierbei ohne Erfolg ein, dass die ca. 3-monatige Verlängerung der Erprobungszeit durch das Oberlandesgericht im Beschluss vom 13.12.2012 im Verhältnis zu der angeordneten Erprobungsdauer der Strafvollstreckungskammer (jetzt 12 statt 9 Monate) nicht auf der rechtswidrigen Amtspflichtverletzung der JVA beruhe, sondern auf der tatrichterlichen Würdigung des Oberlandesgerichtes bzw. auf der zulässigen Einlegung der Beschwerde durch die Staatsanwaltschaft. Es kann dahinstehen, ob auch noch die mit Beschluss vom 13.12.2012 angeordnete Dauer von einem Jahr bis zur Unterbringungsentlassung durch die pflichtwidrige Unterlassung von Vollzugslockerungen und Erprobungen des Klägers seitens der JVA verursacht worden ist, weil seitens des Klägers nur ein Zeitraum von 5,7 Monaten (ca. ein dreiviertel Jahr abzüglich des gewährten Urlaubs) geltend gemacht wurde. Die Kausalität entfällt nach Ansicht des Senates nicht dadurch, dass die Einlegung der Beschwerde durch die Staatsanwaltschaft zulässig war und dass das Oberlandesgericht in tatrichterlicher Würdigung nicht nur einen Zeitraum von einem dreiviertel Jahr, sondern von einem Jahr für eine Erprobung für erforderlich hielt. Denn für die JVA hätte auch schon zu dem Zeitpunkt der Entscheidung der Oberlandesgerichtes am 13.12.2012 genügend Zeit bestanden, für die Dauer von einem dreiviertel Jahr, also etwa ab Anfang 2012, Vollzugslockerungen vorzunehmen, so dass auch nach den zeitlichen Vorgaben des Oberlandesgerichtes eine Entlassung Ende März 2013 möglich gewesen wäre. Hierzu lag zunächst das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. M. vom 07. April 2010 vor, wonach solche Lockerungsmaßnahmen unter gewissen Bedingungen verantwortet werden konnten. Spätestens nach Vorlage des zweiten Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. M. vom 18. April 2012 stand den begehrten Vollzugslockerungen aber gar nichts mehr im Wege. Wenn mithin unverzüglich bei Vorlage des zweiten Gutachtens des Prof. Dr. M. (spätestens Anfang Mai 2012 nach dem Vorbringen des Beklagten) entsprechende Vollzugslockerungsmaßnahmen eingeleitet worden wäre, wäre mit 11 Monaten noch ein ausreichender Zeitraum zur Erprobung für die Dauer bis Ende März 2013 gegeben gewesen, so dass in diesem Fall das Oberlandesgericht bei der Entscheidung am 13.12.2012 aller Voraussicht nach eine Verlängerung über den 27.3.2013 hinaus nicht hätte anordnen müssen. Somit besteht eine schadensausfüllende Kausalität jedenfalls für den vom Kläger geltend gemachten Zeitraum von 5,7 Monate. Zu Recht wurde daher vom Landgericht ein Betrag von 2.850,- als Schadensersatz samt Zinsen ab Rechtshängigkeit zugesprochen.
Der Klage wurde zu Recht stattgegeben und die Berufung des Beklagten war in vollem Umfang zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs.1 ZPO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in §§ 708 Nr.10, 713 ZPO.
Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 u. 2 ZPO nicht zuzulassen, denn weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichtes.
Einsender: RÄe Groß, Remus Schmitt, Wiesbaden
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