Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 21.12.2017 - (4) 151 AuslA 77/16 (107/16)
Leitsatz: 1. Die Auslieferung an die Türkei (jedenfalls) zum Zwecke der Strafvollstreckung der wegen einer Straftat der Allgemeinkriminalität verhängten Strafe ist in der Regel zulässig, wenn die Türkei völkerrechtlich verbindlich zusichert, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung während der Strafhaft in einer Haftanstalt untergebracht wird, deren Bedingungen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen Empfehlung des Europarates REC(2006)2 entsprechen, dass er keiner Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK unterworfen wird und dass der zuständigen deutschen Auslandsvertretung die Möglichkeit eingeräumt wird, den Verfolgten durch einen Mitarbeiter zu besuchen und sich vor Ort über die bestehenden Verhältnisse zu informieren.
2. An seinen weitergehenden, erstmals im Beschluss vom 17. Januar 2017 (4) 151 AuslA 11/16 (10/17) (juris = StraFo 2017, 70 = NJ 2017, 114 = StV 2017, 249 [LS]) formulierten Anforderungen hält der Senat für diesen Fall nicht mehr fest.
KAMMERGERICHT
Beschluss
Geschäftsnummer:
(4) 151 AuslA 77/16 (107/16)
In der Auslieferungssache
betreffend den bulgarischen Staatsangehörigen pp.
hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 21. Dezember 2017 beschlossen:
1. Die Auslieferung des Verfolgten an die Türkische Republik zum Zwecke der Vollstreckung der in dem Urteil des Schwurgerichts in Kirklareli vom 17. September 2013 (Aktenzeichen 2013/19, Urteilsnummer 2013/261) rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe wird für zulässig erklärt
2. Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Berlin auf (erneute) Anordnung der Auslieferungshaft wird abgelehnt.
Gründe:
I.
Die türkischen Behörden hatten zunächst über die internationale kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) um die Festnahme und Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafvollstreckung ersucht. Der Verfolgte wurde am 31. Mai 2016 gemäß § 19 IRG vorläufig festgenommen. Bei seiner am folgenden Tag nach § 22 IRG vorgenommenen Anhörung erhob er Einwendungen gegen seine Auslieferung und erklärte sich mit der vereinfachten Auslieferung (§ 41 IRG) nicht einverstanden. Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Berlin ordnete der Senat am 6. Juni 2016 gegen den Verfolgten die vorläufige Auslieferungshaft nach den §§ 16 Abs. 1 Nr. 1, 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG i.V. mit Art. 16 Abs. 1 EuAlÜbk an, hob diese Anordnung jedoch mit Beschluss vom 8. Juli 2016 wieder auf, da die förmlichen Auslieferungsunterlagen nicht rechtzeitig eingetroffen waren.
Nachdem das Auslieferungsersuchen zwischenzeitlich auf diplomatischem Weg mit Verbalnote der Botschaft der Republik Türkei vom 8. Juli 2016 2016/36481099-Berlin BE/11149831 übermittelt worden war, wurde der Verfolgte am 12. Juli 2016 erneut gemäß § 19 IRG vorläufig festgenommen. Bei seinen am Folgetag (nur) nach § 22 IRG und am 28. Juli 2016 nach § 28 IRG durchgeführten richterlichen Anhörungen erhob er wiederum Einwendungen gegen seine Auslieferung, erklärte sich mit der vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden und verzichtete nicht auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes (Art. 14 EuAlÜbk).
Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft ordnete der Senat mit Beschluss vom 19. Juli 2016 die Auslieferungshaft gegen den Verfolgten an (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG) und erklärte mit Beschluss vom 10. Oktober 2016 die Auslieferung des Verfolgten für zulässig (§ 29 Abs. 1 IRG). Hiergegen hat der Beistand des Verfolgten sich mit Schriftsatz vom 2. November 2016 gewandt und nach § 33 IRG die erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung beantragt. Zur Begründung hat er sich auf den Beschluss des OLG Schleswig vom 22. September 2016 1 Ausl (A) 45/15 (41/15) (juris = SchlHA 2016, 395 = DRiZ 2016, 386 = NStZ 2017, 50) bezogen, wonach aufgrund der Haftbedingungen in der Republik Türkei eine Auslieferung zurzeit unzulässig sei.
Im Anschluss an den Beschluss des Senats vom 10. Oktober 2016 hat das Bundesamt für Justiz mit Verbalnote der deutschen Botschaft in Ankara vom 28. Oktober 2016 die zuständigen türkischen Stellen um ausdrückliche und auf den Einzelfall bezogene Zusicherungen gebeten, dass der Verfolgte im Fall seiner Auslieferung für die Dauer seiner Inhaftierung in einem Gefängnis inhaftiert wird, das den Anforderungen des Art. 3 EMRK und den in den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen festgelegten Mindeststandards entspricht, dass der Verfolgte keiner Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK unterworfen wird und dass der für den Ort der Inhaftierung zuständigen deutschen Auslandsvertretung jederzeit die Möglichkeit eingeräumt wird, den Verfolgten durch einen Mitarbeiter zu besuchen und sich vor Ort über die bestehenden Verhältnisse zu informieren. Im Hinblick auf Verzögerungen bei der Beantwortung dieser Anforderung und insbesondere (zunächst) unzureichende Erklärungen in Bezug auf die Möglichkeit von Besuchen deutscher Konsulatsvertreter bei dem Verfolgten hat der Senat mit Beschluss vom 25. Januar 2017 seinen Auslieferungshaftbefehl und mit weiterem Beschluss vom 14. Juli 2017 auch die Entscheidung vom 10. Oktober 2016 über die Zulässigkeit der Auslieferung aufgehoben.
Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat nunmehr beantragt, die Auslieferung (erneut) für zulässig zu erklären und die Auslieferungshaft anzuordnen. Der Verfolgte hat hierzu mit Schriftsatz seines Beistands vom 28. November 2017 Stellung genommen. Der Senat entscheidet hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung antragsgemäß. Der weitere Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Berlin bleibt hingegen ohne Erfolg.
II.
Die Auslieferung des Verfolgten ist zulässig.
1. Das Auslieferungsersuchen der Oberstaatsanwaltschaft Kirklareli vom 8. Juni 2016 entspricht hinsichtlich des Übermittlungsweges sowie in seiner Form und seinem Inhalt den Anforderungen des Art. 12 EuAlÜbk. Es beinhaltet unter anderem eine Abschrift der anwendbaren Bestimmungen des türkischen Strafgesetzbuches und eine beglaubigte Abschrift des rechtskräftigen Urteils des Schwurgerichts Kirklareli vom 17. September 2013 (Aktenzeichen 2013/19, Urteilsnummer 2013/261), mit dem der Verfolgte zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde, die noch in Höhe von elf Jahren und 161 Tagen zu vollstrecken ist. Es wird weiter mitgeteilt, dass gegen den Verfolgten ein Vollstreckungshaftbefehl der Oberstaatsanwaltschaft Kirklareli vom 28. Oktober 2015 2015/4505 besteht. Nach den mitgeteilten Urteilsfeststellungen hatte der Verfolgte zusammen mit mehreren Mittätern am 16. März 2012 in D. versucht, in einem Kleinbus mit dem amtlichen Kennzeichen
verstecktes Heroin mit einem Wirkstoffgehalt von 20.984,14 Gramm aus der Türkei zu schmuggeln. Das Rauschgift wurde sichergestellt und der in einem Begleitfahrzeug fahrende Verfolgte ebenso wie seine Mittäter festgenommen.
2. Bei der ihm vorgeworfenen Tat handelt es sich sowohl nach türkischem Recht (Art. 188 Abs. 1 und 4 des türkischen Strafgesetzbuches) als auch nach deutschem Recht (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) um eine auslieferungsfähige strafbare Handlung, die nach dem Recht beider Staaten im Höchstmaß mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EuAlÜbk). Die erkannte Strafe überschreitet das Mindestmaß von vier Monaten (Art. 2 Abs. 1 Satz 2 EuAlÜbk).
3. Hindernisse, die der Auslieferung des Verfolgten entgegenstehen, liegen nicht vor.
a) Ein Auslieferungshindernis erwächst nicht aus dem Umstand, dass das Urteil in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist. Der Verfolgte hatte Kenntnis von der Anklageschrift und die Gelegenheit, sich vor dem erkennenden Gericht zu dem Tatvorwurf zu äußern, von der er auch Gebrauch gemacht hat. Er nutzte danach eine ihm gegen Sicherheitsleistung gewährte Haftverschonung, um sich dem weiteren Verfahren, in dem er durch zwei Verteidiger vertreten wurde, zu entziehen. Die Entlassung gegen eine Kaution in Höhe von 20.000 TL entsprach dem Antrag der Verteidigung des Verfolgten. Der Vortrag des Verfolgten, er habe danach gar nicht mehr an der Hauptverhandlung teilnehmen können, weil er des Landes verwiesen und mit einem Einreiseverbot belegt worden sei, findet in den dem Senat vorliegenden Unterlagen keine Stütze; er ist auch ohne nähere Erläuterung, an der es hier gänzlich fehlt, mit dem Vorgang einer Haftverschonung nicht ohne weiteres vereinbar, sodass es einer näheren Erläuterung bedurft hätte. Unter diesen Umständen begründet eine Abwesenheitsentscheidung kein Auslieferungshindernis (vgl. BVerfG NJW 1987, 830). Der Senat verweist im Übrigen auf die Gründe seiner Beschlüsse vom 2. und 12. August 2016.
b) Mit seinem Vorbringen, er habe die ihm zur Last gelegte Straftat nicht begangen, kann der Verfolgte im Auslieferungsverfahren nicht gehört werden; eine im Auslieferungsverfahren nach dem EuAlÜbk regelmäßig nicht stattfindende (vgl. Senat
InfAuslR 2014, 208, 209 mwN) Tatverdachtsprüfung nach § 10 Abs. 2 IRG ist hier nicht veranlasst. Anhaltspunkte dafür, dass mit dem Auslieferungsersuchen andere als Zwecke der Strafvollstreckung verfolgt werden könnten und eine Tatverdachtsprüfung hierüber Aufschluss geben könnte, sind weder ersichtlich noch vorgetragen.
c) Die Haftbedingungen stehen der Auslieferung nicht (mehr) entgegen.
aa) Die Regierung der Türkischen Republik hat auf den Einzelfall bezogen mit Verbalnote vom 27. Januar 2017 2017/36481099-Berlin BE/11908450 völkerrechtlich verbindlich zugesichert, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung während der Strafhaft in einer Haftanstalt untergebracht wird, deren Bedingungen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen Empfehlung des Europarates REC(2006)2 entsprechen und er keiner Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK unterworfen wird. Mit weiterer Verbalnote vom 21. Juni 2017 2017/36481099-Berlin BE/12539261 wurde zugesichert, dass der zuständigen deutschen Auslandsvertretung die Möglichkeit eingeräumt wird, den Verfolgten durch einen Mitarbeiter zu besuchen und sich vor Ort über die bestehenden Verhältnisse zu informieren. Mit Verbalnote vom 6. November 2017 2017/36481099-Berlin BE/13030635 hat die Regierung der Türkischen Republik die vorgenannten Zusicherungen wiederholt und nähere Darlegungen zur Haftraumgröße in türkischen Strafvollzugsanstalten gemacht, ohne allerdings wie im Beschluss des Senats vom 14. Juli 2017 gefordert die vorgesehene Anstalt zu benennen und deren konkrete Situation zu beschreiben; der Verbalnote ist vielmehr zu entnehmen, dass die Auswahl der konkreten Strafvollzugsanstalt erst nach der Auslieferung unter Berücksichtigung mehrerer, näher dargestellter Kriterien erfolgen wird.
Diese Zusicherungen genügen. Im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und anderen Staaten ist dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 13. November 2017 2 BvR 1381/17 [juris], vom 9. März 2016 2 BvR 348/16 [juris] und vom 2. Februar 2016 2 BvR 2486/15 [juris = AuAS 2016, 64]; jeweils mwN) sind vom ersuchenden Staat im Auslieferungsverkehr wie hier gegebene völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird. Zudem ermöglicht die Zusicherung der Besuchsmöglichkeit durch deutsche Botschaftsbeamte die gebotene effektive Kontrolle der konventionskonformen Behandlung des Verfolgten und ist daher geeignet, etwaige Zweifel an der Einhaltung der Zusicherung zu zerstreuen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 9. März und 2. Februar 2016 aaO).
An seinen weitergehenden, erstmals im Beschluss vom 17. Januar 2017 (4) 151 AuslA 11/16 (10/17) (juris = StraFo 2017, 70 = NJ 2017, 114 = StV 2017, 249 [LS]) formulierten und im hiesigen Verfahren im Beschluss vom 14. Juli 2017 dargelegten Anforderungen hält der Senat jedenfalls im Falle einer Auslieferung, die wie hier zum Zwecke der Vollstreckung der wegen einer Straftat der Allgemeinkriminalität verhängten Strafe begehrt wird, nicht mehr fest. Die die Anforderungen über den im vertraglichen Auslieferungsverkehr nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung genügenden Zusicherungsumfang hinaus erhöhende Entscheidung war ebenso wie die entsprechenden Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte durch die politischen Entwicklungen in der Türkischen Republik nach dem Putschversuch vom Juli 2016, die hierauf erfolgende, mehrfach verlängerte Verhängung des Ausnahmezustands und die erhebliche Erhöhung der Zahl der Inhaftierten aufgrund zahlreicher Festnahmen veranlasst, die dem Senat Grund zu der Besorgnis gab, die Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen könnten sich durch Überbelegung derart verschlechtert haben, dass sie den Anforderungen des Art. 3 EMRK und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen generell nicht mehr genügen können, und Zusicherungen der Regierung der Türkischen Republik könnten deshalb anders als in der Vergangenheit nicht mehr belastbar sein.
Diese Besorgnis hat der Senat nicht mehr. Nach den im hiesigen Verfahren erteilten Auskünften des Bundesamtes für Justiz und des Auswärtigen Amtes haben sich von der Türkischen Republik gegebene Zusicherungen auch in jüngster Zeit als belastbar erwiesen; ihre Einhaltung konnte durch Haftbesuche kontrolliert werden. Da wie allgemein bekannt ist sich die Belegungssituation in türkischen Gefängnissen durch die Entlassung Zehntausender wegen Delikten der Allgemeinkriminalität verurteilter Gefangener erheblich entspannt hat und die Türkische Republik daher zur Einhaltung der Zusicherungen auch faktisch in der Lage ist, erachtet der Senat diese Auskünfte auch als überzeugend.
bb) Das Urteil des EuGH vom 6. September 2016 in der Rechtssache C-182/15 (Petruhhin) gibt gleichfalls keinen Anlass, andere Maßstäbe anzulegen. Zwar ist nach dieser Entscheidung (wohl) nicht nur die Bewilligungsbehörde, sondern auch der Senat verpflichtet zu prüfen, dass die Auslieferung des Angehörigen eines Mitgliedstaats an einen Drittstaat die in Art. 19 der Charta verbürgten Rechte nicht beeinträchtigt. Angesichts der einzelfallbezogenen und wie dargelegt belastbaren Zusicherungen der Regierung der Türkischen Republik begründet das Urteil des EuGH aber keine über den nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zu beachtenden Prüfungsumfang hinausgehenden Anforderungen. Denn aufgrund der erteilten Zusicherungen und ihrer Wertung durch das Bundesamt für Justiz und das Auswärtige Amt liegen keine nach der Entscheidung des EuGH eine weitergehende Prüfung erfordernden Anhaltspunkte dafür [vor], dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Personen im ersuchenden Drittstaat besteht (Rn. 58).
cc) Ein abweichender Prüfungsmaßstab ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des EuGH vom 5. April 2016 in den Rechtssachen C-404/15 und C-659/15 PPU (Aranyosi und Caldararu). Die den Auslieferungsverkehr auf der Grundlage Europäischer Haftbefehle betreffende und das Erfordernis der Einholung konkreter Auskünfte zu den Haftbedingungen bei Anhaltspunkten für deren Menschenrechtswidrigkeit im ersuchenden Staat begründende Entscheidung ist auf den Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten nicht übertragbar. Denn anders als im Rechtshilfeverkehr mit Drittstaaten können im Falle der Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen nur in den in Art. 5 RbEuHb geregelten Fällen (lebenslange Freiheitsstrafe; Rücküberstellung eigener Staatsangehöriger) verlangt werden, während im Übrigen allein die Einholung zusätzlicher Informationen (Art. 15 Abs. 2 RbEuHb) möglich ist. Während der Vollstreckungsstaat mithin im Falle des Ersuchens eines Drittstaates Zusicherungen des ersuchenden Staates zu den Haftbedingungen fordern kann und sich in der Regel auf diese verlassen darf, ist er im Falle eines Europäischen Haftbefehls darauf verwiesen, auf der Grundlage von ihm einzuholender Auskünfte zur konkreten Ausgestaltung der Haft im ersuchenden Mitgliedstaat selbst deren Übereinstimmung mit dem Maßstab von Art. 3 EMRK und Art. 4 der Charta zu überprüfen.
dd) Schließlich gibt auch der Umstand, dass nach Angaben des Beistands zwei Mitverurteilte in türkischer Haft verstorben sein sollen (hinsichtlich [nur] eines der beiden unter Vorlage eines seinen Tod am 9. Oktober 2016 belegenden Schreibens der Staatsanwaltschaft Istanbul), keinen Anlass zu weitergehender Prüfung. Über die Umstände des Todes wird nichts mitgeteilt, ein ausweislich des überreichten, zur Weiterleitung an das türkische Justizministerium gerichteten Schreibens der Staatsanwaltschaft Istanbul diesem beigefügtes Leichenuntersuchungsprotokoll ist dem Senat nicht vorgelegt worden. Anhaltspunkte oder Erkenntnisse, dass in türkischen Gefängnissen regelmäßig oder systematisch Gefangene ums Leben kommen, liegen dem Senat nicht vor und lassen sich auch dem Vorbringen des Beistands nicht entnehmen.
ee) Entgegen der Auffassung des Beistands können die Mitarbeiter der deutschen Auslandsvertretung ausgelieferte Verfolgte auch dann, wenn sie nicht deutsche Staatsangehörige sind, auf der Grundlage der von der Türkischen Republik gegebenen Zusicherung zur Kontrolle der bezüglich der Haftbedingungen abgegebenen Zusicherungen besuchen und tun dies regelmäßig, wie auch der dem Senat vorgelegte Bericht über einen Haftbesuch am 30. Mai 2017 bei dem am 30. Januar 2017 an die Türkei ausgelieferten K. zeigt. Nach dem Gesamtzusammenhang des Berichts scheint K. türkischer Staatsangehöriger zu sein; jedenfalls ist er kein Deutscher, da die Bundesrepublik Deutschland eigene Staatsangehörige nicht an die Türkei ausliefert. Dass die deutsche Auslandsvertretung in der Türkei den Verfolgten nicht konsularisch betreuen kann, sondern er sich hierfür an die bulgarische Vertretung in der Türkei wenden müsste, ändert hieran nichts.
d) Die Bindungen des Verfolgten an seine in Berlin lebende, erneut schwangere (bulgarische) Ehefrau und die gemeinsame Tochter stellen auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 MRK kein Auslieferungshindernis im Sinne von § 73 Satz 1 IRG dar (vgl. hierzu OLG Karlsruhe GA 1987, 30; OLG Hamm NStZ-RR 2000, 158; Vogel in Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., § 73 IRG Rn. 109 mwN). Dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung von seinen Angehörigen getrennt würde, reicht zur Annahme eines außergewöhnlichen Härtefalls nicht aus und stellt keinen Verstoß gegen den Kernbestand der sich aus Art. 8 Abs. 1 MRK ergebenden Garantie der Achtung seines Privat- und Familienlebens dar. Trotz der räumlichen Trennung besteht für die Angehörigen grundsätzlich die Möglichkeit, den Verfolgten während seiner Inhaftierung zu besuchen; bei finanziellen Problemen hinsichtlich der Reise kann der Kontakt mit Telefonaten und Briefen aufrechterhalten werden. Nach Abschluss der Strafvollstreckung wird der Verfolgte zu seinen Angehörigen zurückkehren können.
Der Schutz vor Auslieferung reicht nicht weiter als der Schutz des deutschen Rechts vor inländischen Strafverfolgungsmaßnahmen. Wenn und soweit die familiären Belange des Verfolgten wie hier auch nach deutschem Recht die Strafvollstreckung nicht hindern, die regelmäßig zu Beeinträchtigungen des Familienlebens führt, ist auch die auslieferungsrechtliche Abwägung nicht gegenteilig vorzunehmen, sofern die eintretenden Beeinträchtigungen im Wesentlichen denen vergleichbar sind, die bei einer Aburteilung in Deutschland entstehen könnten. Die Begründung einer Familie soll nicht vor einer Bestrafung wegen im Ausland begangener Taten schützen (vgl. OLG Hamm StV 2011, 173 mwN). Es kann vorliegend dahinstehen, in welchem Umfang der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebieten kann, dass das Strafverfolgungs- und Ahndungsinteresse des ersuchenden Staates in Ausnahmefällen zurücktritt (zu solchen Ausnahmefällen vgl. OLG Hamm aaO, S. 174). Ein derartiger Ausnahmefall ist angesichts des erheblichen Gewichts der abgeurteilten Tat nicht gegeben.
Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur Unzulässigkeit von Abschiebungen aus familiären Gründen (vgl. BVerfGK 7, 49; BVerfG NVwZ 2006, 682) führt zu
keinem anderen Ergebnis. Sie ist nicht übertragbar. Denn im Falle der Auslieferung geht es nicht um das Interesse des deutschen Staates, den Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet zu beenden, das im Einzelfall hinter den Interessen dieses Ausländers zurücktreten muss, sondern um die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, die von ihr eingegangenen bi- und multilateralen
Auslieferungsverträge zu erfüllen, und zugleich um ihr Interesse an der von eigener Vertragstreue abhängigen Erfüllung dieser Verpflichtungen durch die Vertrags-partner zur Durchsetzung deutscher Strafansprüche. Die internationale Offenheit des vom Grundgesetz verfassten Staates sowie sein Interesse an der Durchsetzung des eigenen Strafanspruchs im Ausland überwiegen regelmäßig die Schutzwirkung des Art. 6 GG (vgl. BVerfG NStZ-RR 2004, 179, 180).
III.
Eine Anrufung des BGH nach § 42 IRG ist nicht veranlasst. Zwar beurteilt der Senat die Zulässigkeit der Auslieferung anders als die Oberlandesgerichte Bremen (Beschluss vom 28. September 2017 1 Ausl A 13/17 [juris]), Celle (Beschluss vom 2. Juni 2017 2 AR [Ausl] 44/17 , StraFo 2017, 292 = NdsRpfl 2017, 259) und Schleswig (aaO) und weicht in Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung auch von dem Beschluss des OLG München vom 16. August 2016 1 AR 252/16 (NStZ-RR 2016, 323) ab. Die Abweichungen betreffen jedoch keine auslieferungsrechtliche Rechtsfrage, sondern beruhen auf einer anderen Bewertung der Tatsachenlage im ersuchenden Staat vor dem Hintergrund zwischenzeitlicher Erkenntnisse, insbesondere auch aufgrund von Erklärungen des Bundesamtes für Justiz und des Auswärtigen Amtes, die dem OLG Bremen (noch) nicht vorlagen.
Ebenso wenig bedarf es einer Vorlage an den EuGH zur Klärung der sich aus seinem Urteil vom 6. September 2016 (aaO) ergebenden Frage der Anwendbarkeit dieser Rechtsprechung auch auf Auslieferungsersuchen von Drittstaaten zum Zwecke der Strafvollstreckung. Denn die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat das Justizministerium der Republik Bulgarien mit am 23. Dezember 2016 übermitteltem Schreiben vom 20. Dezember 2016 über das türkische Auslieferungsersuchen unterrichtet, ohne dass die bulgarischen Behörden hierauf reagiert haben.
Der Senat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Verfolgte nach seiner Auslieferung im ersuchenden Staat gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ÜbstÜbk (Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983) auf die Überstellung in seinen Heimatstaat Bulgarien zur weiteren Vollstreckung der Strafe antragen kann. Sowohl die Türkische Republik als auch die Republik Bulgarien sind Vertragsstaaten dieses Übereinkommens.
IV.
Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Berlin auf (erneute) Anordnung der Auslieferungshaft war abzulehnen. Trotz der erheblichen Höhe der noch zu vollstreckenden Strafe verneint der Senat das Vorliegen einer Fluchtgefahr im Sinne des § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG. Der Verfolgte verfügt über ersichtlich stabile berufliche und soziale Bindungen in Berlin. Er hat sich dem Verfahren auch nach seiner zweiten Haftentlassung und in Kenntnis der Zulässigkeitsentscheidung des Senats vom 10. Oktober 2017 sowie des laufenden Bewilligungsverfahrens nicht entzogen. Der Senat geht daher davon aus, dass sich dieses Verhalten auch unter dem Eindruck des vorliegenden Beschlusses nicht ändern wird.
Einsender: RiKG K.-P. Hanschke, Berlin
Anmerkung:
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